Vortrag von Martin A. Völker, Berlin, am 2. März 2017
»Der Koadjutor, Freiherr von Dalberg, gehört zu den wenigen
Regenten in Deutschland, welche edel genug denken, um es zu
verschmähen, über Sklaven zu herrschen, und welche die Liebe und
Achtung freier Menschen zu verdienen wissen. […] Wie gewiß würde
jede gewaltsame Revolution verhindert werden, wenn nur solche
Männer auf unsern Thronen säßen und nicht immer die wenigen
Guten durch Weiber und Minister verdorben worden wären!«
Georg Friedrich Rebmann
»Den Coadjutor halte ich für einen gefährlichen Mitarbeiter.«
Christian Gottfried Körner
Sowohl die einfachen Bürger als auch die intellektuellen Eliten des späten 18. Jahrhunderts
konnten sich glücklich schätzen, daß in wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen und
Institutionen Vertreter der Familie Dalberg anzutreffen waren. In Mannheim leitete Wolfgang
Heribert von Dalberg (1750–1806) die Geschicke des Nationaltheaters. Mit seinem
Geschmack, seiner Bildung und seiner Beharrlichkeit erwarb er sich große »Verdienste um
die Deutsche Bühne«. Dalberg zeichnete für die am 13. Januar 1782 erfolgte Uraufführung
von Friedrich Schillers Drama Die Räuber verantwortlich und machte sich über Mannheim
hinaus als Theatertheoretiker und Bühnendichter einen Namen. Sein Bruder Friedrich Hugo
von Dalberg (1760–1812) wirkte als Schulreformer, Musiker und Schriftsteller. Er unterhielt
gute, teilweise freundschaftliche Beziehungen zu den Vertretern der Weimarer Klassik. Seine
musikschriftstellerischen Arbeiten bereiteten die Romantik vor. Carl von Dalberg (1744–
1817) ist zweifellos der bekannteste der drei Brüder.
Als Erfurter Statthalter, letzter Kurfürst-Erzbischof von Mainz, letzter Erzkanzler des Alten
Reiches und insbesondere als aufklärerisch gesinnter Schriftsteller wirkte Carl von Dalberg in
einer bewegten Epoche: Mit einem Denken, das sich an Ganzheitlichkeit orientierte, stemmte
er sich den Zersplitterungstendenzen seiner Zeit entgegen. Unablässig beförderte er den
Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, indem er sich einerseits als
wissenschaftlicher Autor und Diskutant betätigte und andererseits als politischer Entscheider
fortschrittliche wissenschaftliche und pädagogische Einrichtungen gründete und protegierte.
Noch im späten 19. Jahrhundert berief man sich auf den anregenden wie ausgleichenden Geist
Dalbergs. Theodor Fontane (1819–1898)11 schrieb: »Traten dann Konferenzen zusammen, /
Und stand der Streit in hellen Flammen, / Und kam’s, daß man keinen Ausweg sah, / So hieß
es: ›Ist kein Dalberg da?«
Carl von Dalberg war bestrebt, die Einzelwissenschaften miteinander zu verbinden, um ihre Produktivität und ihren gesellschaftlichen Nutzen zu erhöhen.
Obwohl diese Vorstellung die Epoche der Aufklärung mit der vernetzten Welt von heute
verbindet, hatte Dalberg besonders nach 1789 Schwierigkeiten, andere von dieser Ansicht zu
überzeugen. Die allen Individuen übergeordnete und die Gemüter beruhigende Vernunft, an
die Dalberg angesichts der Französischen Revolution patriarchalisch appellierte, konnte gegen
den zeitgenössischen Parteigeist wenig ausrichten. Sie ließ ihn ungewollt als unzeitgemäß, als
Repräsentant des todgeweihten aufgeklärten Absolutismus erscheinen. Die von ihm oft
wiederholte Forderung, einen ausufernden und letztlich gefährlichen Subjektivismus
zurückzudrängen, um stattdessen von oben gesellschaftsrelevante Synergieeffekte zu
erzeugen, paßte immer weniger in eine Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne, in eine
Zeit, in der die Werke von Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762–
1814) mit Begeisterung gelesen wurden und das philosophische Ich titanenhaft anschwoll.
Der Geist der Revolution war allgegenwärtig, er bestimmte nicht allein das politische
Geschehen, sondern veränderte ebenso die Vorstellungen von Philosophie und Dichtung.
Dem ästhetischen Denken Dalbergs und seinem kunstpädagogischen Interesse kommt
indessen eine größere Bedeutung zu, als man zunächst vielleicht erwarten könnte, wenn man
ausschließlich an den scheinbar laienhaft begeisterungsfähigen Kunstliebhaber Dalberg denkt.
Auf dem Gebiet der Ästhetik wurden im 18. Jahrhundert neben persönlichen Zwistigkeiten
die entscheidenden weltanschauliche Kämpfe ausgetragen. Die ästhetischen Schriften
Dalbergs spiegeln die zeittypischen Umbrüche wider: 1791 veröffentlichte er sein Buch
„Grundsaetze der Aesthetik[,] deren Anwendung und künftige Entwickelung“, darin erörterte er
eine Schönheitsvorstellung, die sich von der Konzeption Kants wesentlich unterschied und
sich auf die Formen menschlichen Denkens, Handelns und Zusammenlebens, auf die Gestalt
und Gestaltung des Staates sowie auf Gott bezog; unter dem Eindruck der Französischen
Revolution publizierte er 1793 seine „Abhandlung Von dem Einflusse der Wissenschaften und
schönen Künste in Beziehung auf öffentliche Ruhe“, mit der er der verbreiteten Auffassung
entgegentrat, daß Künstler und Philosophen die politische Ordnung gefährden würden; 1806
erschien sein „Perikles. Ueber den Einfluß der schönen Künste auf das öffentliche Glück“.
Dalberg erläuterte hier sein politisches Selbstverständnis und entwarf das Ideal des
aufgeklärten, menschenfreundlichen und kunstsinnigen Staatsmannes.
1795 erschien sein Aufsatz „Kunstschulen“ in der von Friedrich Schiller (1759–1805)
herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“. Auf dreizehn Druckseiten formulierte Dalberg
präzise seine Kunstauffassung sowie den Zusammenhang zwischen Kunst, Gesellschaft und
Politik: In einer einleitenden Passage äußert er sich grundsätzlich über den Künstler und seine
Tätigkeit. Der Wert eines echten Kunstwerks besteht für ihn darin, daß es »allenthalben und
allzeit« gefällt. Ein Künstler, der ein solches Werk hervorbringen will, muß das sinnlich
Schöne mit dem geistig Angenehmen und dem sittlich Rührenden verbinden. Er strebt also in
seiner Tätigkeit und mit seinem Werk nach Vollendung und Ebenmaß, nach Wahrhaftigkeit
und Stimmigkeit sowie nach Wohltätigkeit und Gemeinnützigkeit. Ein Werk, das formale
Mängel aufweist, das inhaltlich verworren und unehrlich erscheint oder von einer
menschenfeindlichen Gesinnung zeugt, darf die Werkstatt, das Atelier oder die Dichterstube
nicht verlassen. Dalberg vertritt die Auffassung, daß Begabung zwar unerläßlich sei,
Begabung allein jedoch nicht ausreicht: Wer ein guter Künstler sein möchte und wohltätig
und kultivierend auf seine Mitmenschen einwirken will, der ist zunächst auf Anleitung und
Ausbildung angewiesen. Der angehende Künstler befolgt die technischen Vorschriften und
Gesetze seiner Kunst. Er zeichnet sich durch Professionalität aus sowie durch die
Bereitschaft, seine Kenntnisse zu vermehren und die erworbenen Fähigkeiten unablässig zu
erproben. Ohne Mathematik und Geometrie, ohne kunstgeschichtliches Wissen und ohne
Harmonie-, Farben- oder Sprachlehre bleibt der Talentierte ein Stümper. Als solcher ist er ein
Ärgernis für seine Mitmenschen, weil seine fehlerhaften Werke die Verderbnis der Sitten
vorantreiben. Aus Dalbergs Kunstschulen gehen keine (eigenbrötlerischen) Genies hervor, sondern tüchtige Kunsthandwerker, die mithelfen, den
Alltag und die Gesellschaft zu verschönern: Der Musiker hellt die Gemüter seiner
Mitmenschen auf, durch seinen Beitrag werden die Pflichten erträglich. Der Bildhauer
verewigt »das Andenken verdienter Männer in öffentlichen Denkmälern“. Der Redekünstler
verklärt die Tugend und stimmt zusammen mit dem Musiker gottgefällige Hymnen an. Die
erfolgreichen Kunstschüler kleiden das Gute und Wahre in das Gewand der Schönheit und
treten so dem Eigensinn, den zerstörerischen Leidenschaften und dem Vorurteil entgegen. Sie
sorgen für Ruhe, Ordnung und Gemeinsinn. Die Würde der Kunst besteht in ihrer
Sozialverträglichkeit.
Für Dalberg besteht die Bestimmung eines jeden Menschen darin, sich selbst zu veredeln und
in sich die Keime des Guten, Wahren und Schönen zu entwickeln, weshalb es die Pflicht des
Staates sei, »daß er [der Staat] alles befördere, was zu dieser grosen Absicht mitwirken
kann« Durch den Umgang mit Kunst überwindet der Mensch seine tierische Rohheit und
das ebenso schädliche abstrakte Denken. Dalberg beendet seine Ausführungen mit einem
Aufruf: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt ihr in euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? Wollt ihr auf eine dauerhafte Weise die schönen Künste,
diese Blüthe der Menschheit, erhalten: so errichtet gute Kunstschulen!«
Schiller fügte dem gedruckten Beitrag die Mitteilung eines Briefes hinzu, mit dem sich
Dalberg am 12. April 1795 an den Herausgeber wandte. Dalberg bedankte sich darin für die
Annahme seines Aufsatzes und setzte hinzu, daß eine weitere Mitarbeit für ihn nicht infrage
komme: »Die drey Stücke dieser Monatsschrift, welche bißher erschienen sind, entsprechen
der hohen Erwartung Ihrer Leser. Um so mehr bedaure ich, daß der gegenwärtige Drang
meiner Berufsgeschäfte mich hindert an dieser Unternehmung in Zukunft Antheil zu
nehmen.«
Befremdlich erscheint zunächst, daß Schiller diesen Zusatz, bei dem es sich um
eine persönliche Mitteilung handelte, überhaupt abdruckte. In seinem Brief vom 23. März
1795 hatte Dalberg den Herausgeber ausdrücklich darum gebeten, den übersandten Beitrag
über die Kunstschulen ohne Nennung des Verfassers zu veröffentlichen. Überzeugt von der
Qualität der bereits erschienenen Beiträge folgte Dalberg in diesem Punkt voller Vertrauen
dem Konzept der Zeitschrift. Dem Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner (1756–1831) ist zu entnehmen, daß Schiller von Dalbergs Beitrag mehr als enttäuscht war und er ihn,
anders als von Dalberg erhofft, einer Veröffentlichung für unwürdig hielt. »Vom Coadjutor«,
schrieb Schiller am 5. April 1795 an Körner, »ist ein unendlich elender Aufsatz eingelaufen,
den ich recht verlegen bin wieder los zu seyn.« Körner sekundierte seinem Freund am 15.
Juni 1795 mit der Bemerkung: »So etwas wie die Kunstschulen ist mir noch nicht von
Dalberg vorgekommen; es ist der völlige Stil der Zehn Gebote. Wer hat den glücklichen
Einfall gehabt, seinen Namen am Ende anzubringen? Hier war er äusserst nöthig.«
Diese harschen Reaktionen verwundern, weil Dalbergs Schreibstil, den Körner verunglimpfte,
dem seiner bisher veröffentlichten Werke entsprach. Schiller kannte Dalbergs Schriften, ihre
formalen wie inhaltlichen Stärken und Schwächen, er kannte Dalbergs vielgelesene
„Betrachtungen über das Universum“ (1777) und dessen „Grundsaetze der Aesthetik“ (1791),
auf die er sich in seiner eigenen epochemachenden Abhandlung zur Ästhetik, nämlich in den
Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, berief. Schiller wußte also
ziemlich genau, was er von Dalberg erwarten konnte, und er warb mit Dalbergs Namen für
seine neue Monatsschrift „Die Horen“. Schillers Reaktion, die Körner mit seiner im Dezember
1794 ausgedrückten Befürchtung, Dalberg sei ein gefährlicher Mitarbeiter, provoziert hat, läßt
sich erklären, ohne beizupflichten, daß es sich bei Dalbergs Beitrag tatsächlich um ein
Machwerk handelt.
Mit dem Konzept seiner Zeitschrift und dem Beitrag „Ueber die ästhetische Erziehung des
Menschen“ reagierte Schiller auf die unerwartet blutige Entwicklung der Französischen
Revolution und auf die durch sie hervorgerufenen Ängste und Sehnsüchte. Seine bewußte
Hinwendung zur »ästhetische[n] Welt« war Ausdruck einer tiefen Enttäuschung, die er mit
anderen deutschen Schriftstellern und Intellektuellen, etwa mit Georg Forster (1754–1794),
teilte.
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Aufklärung sowie die Erfahrung, daß die
Zivilisierung und Kultivierung des Menschen durch die Sammlung und Verbreitung von
Erkenntnissen kaum erreicht werden konnte, ließen Schiller in seinen Briefen „Ueber die
ästhetische Erziehung des Menschen“ die griffige Frage formulieren: »woran liegt es, daß wir
noch immer Barbaren sind?« Bereits zuvor hatte Schiller in seinem Schauspiel „Die Räuber“
(1781) gegen das aufgeklärte Zeitalter revoltiert. In die Form eines Familiendramas gebracht,
führte Schiller vor, wie sich die väterlich-vernünftige Gemeinschaft selbst zerstört: Das
»schlappe Kastraten-Jahrhundert“ und dessen Buchkultur verdrängen die urwüchsige Natur
zugunsten der starren Konvention. Verdrängte Gefühle brechen plötzlich hervor und bilden
zusammen mit einer materialistischen Weltsicht, die ins Verbrecherische gewendet wird, ein
beeindruckend explosives Gemisch.
Die Kunstschulen stießen nicht auf Schillers Zustimmung, weil Dalberg mit jener
Selbstsicherheit auftrat, die dem Staatsmann eigen ist und die dem tiefsinnigen und
abwägenden Philosophen abgeht. Zudem fühlte sich Schiller durch die unverdrossen
aufklärerische Haltung Dalbergs unangenehm an die eigenen Hoffnungen, die er in den späten
achtziger Jahren hegte, erinnert. Die Wut, die sich an Dalbergs Aufsatz entlud, zielte letztlich
auf Schiller selbst. Am 26. Mai 1789, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Französischen
Revolution, hielt Schiller in Jena seine berühmte Antrittsvorlesung mit dem Titel „Was heisst
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, die im November 1789 in der von
Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“
publiziert wurde. Schiller läßt hier die Erfolgsgeschichte der Aufklärung Revue passieren
und eignet sich den Standpunkt des aufgeklärten Menschen an, der nicht eher ruht, »bis alle
seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt
seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick
überschauet«. Aus dem Erfahrungsschatz der Seefahrer schließt Schiller, daß sich der
europäische Mensch durch »ausserordentliche Anstrengung zur Gesellschaft« erhoben habe.
Roheit und Barbarei hätte der Europäer abgelegt, und er blicke – angetrieben von
Wißbegierde und nach Unterhaltung suchend – auf fremde Völker herab und erkennt die
überschrittenen Stufen seiner eigenen Entwicklung. Schiller hebt die unermüdliche Tätigkeit
der Intellektuellen und Gelehrten hervor, die nun durch ein »weltbürgerliches Band«
verbunden wären. Er lobt die europäische Staatengemeinschaft, die sich anscheinend in eine
»große Familie« verwandelt habe. Schiller spricht in seiner Antrittsrede kaum darüber, wie
er sich den weiteren Verlauf und das Ziel der Geschichte vorstellt. Er ist davon überzeugt, daß
sich der omnipotente Mensch seine Wünsche und Sehnsüchte bereits weitgehend erfüllt hat.
Erstaunt fragt man sich angesichts einer solchen Apotheose des Erreichten, warum im selben
Jahr die Revolution ausbrach und es zu den langanhaltenden politischen Verwicklungen
gekommen ist, warum Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Losung der Stunde war.
Einem naiven Optimismus, der Soll mit Haben verwechselt, ist es anzulasten, daß sich
Schiller später, nachdem die Revolution unter dem Fallbeil ihre Ideale verlor, der
Verbitterung hingab. Seine Abhandlung „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“ läßt
sich als formvollendete Selbstanklage lesen.
Bis an sein Lebensende blieb Dalberg fest davon überzeugt, daß die Aufklärung von Mensch
und Gesellschaft notwendig sei, unaufhaltsam voranschreite und Glückseligkeit und
Schönheit dabei ineinandergreifen. Er gab sich jedoch zu keinem Zeitpunkt der falschen
Hoffnung hin, daß dieser Prozeß jemals an sein Ende kommen könnte, denn der zerstörerische
Hochmut gehörte für ihn unaustilgbar zum Wesen des Menschen. Die Menschheit im Ganzen,
so Dalberg, verändere sich kaum, sie bleibt ein »Gemisch von Tugend und Laster, von
Vernunft und Thorheit«. Es erscheint in dieser Hinsicht vermessen und fahrlässig, den
Menschen des 18. Jahrhunderts zum Sieger der Geschichte zu erklären, der – mit der eigenen
Geschichte abschließend – stolz auf seine Bildungserfolge zurückblickt.
Dieser Überheblichkeit stellte Dalberg das Bild des von der Erbsünde belasteten Menschen entgegen.
Die christliche Demut warnt vor überzogenen Hoffnungen und beugt bitteren Enttäuschungen
vor. Die spöttische Bemerkung Körners, Dalbergs Kunstschulen-Aufsatz wäre im Stil der Zehn
Gebote geschrieben worden, erscheint so in einem anderen Licht. Körner rügte mit diesem
Hinweis nicht etwa objektiv die formale Gestaltung des Beitrags, sondern er spielte auf
Dalbergs tiefe Verwurzelung im Glauben an, die Schiller und ihm selbst, hätten beide sie
jemals erlangt, abhanden gekommen war. Die Religion hielt Dalberg angesichts der
politischen Krisen schadlos. Der Glaubens- und Sinnverlust hinterließ bei Schiller einen kaum
zu lindernden Schmerz.
Mit seiner Zeitschrift „Die Horen“ und mit seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ regte
Schiller seine Leser zu einer vom Leben unbefleckten künstlerischen Meditation an. Erst
wenn es einem jeden gelungen sein wird, den ästhetischen Staat der überwundenen
Entfremdung und der Befriedung widerstreitender menschlicher Vermögen in der eigenen
Brust zu entdecken und zu erhalten, erst dann wird der Mensch reif und fähig dazu sein, mit
anderen eine große politische Einheit jenseits des Naturtriebs und einer diktatorischen
Vernunft herzustellen. Um die realen politischen Probleme lösen zu können, müsse der
Mensch, wie Schiller schrieb, den ästhetischen Weg einschlagen, »weil es die Schönheit ist,
durch welche man zu der Freyheit wandert«. Aber dieser Weg führt nach innen, während
draußen die Revolution tobt, und es ist mehr als fraglich, ob ein Mensch, der dazu angehalten
wird, die beglückende Schönheit wie eine Droge zu mißbrauchen, weil er seine Defizite und
Beschränkheit vergißt, solang er ihren Zauber erfährt, nicht seine Fähigkeit verliert, ein guter
Bürger neben anderen guten Bürgern zu sein. Hieran macht sich der Konflikt zwischen
Schiller und Dalberg fest. Dalberg hat die Horen anwendungsbezogen gelesen während
Schiller für eine, auf die Romantik vorausweisende, esoterische Form der Selbstbildung
plädierte, die in den Augen eines Aufklärers kaum etwas mit Erziehung im traditionellen
Sinne zu tun hatte und die im Zeitalter der Pädagogik sogar als Provokation aufgefasst werden
konnte.
Aus gutem Grund ließ Dalberg nie davon ab, die Kunst in politisch-soziale Zusammenhänge
einzubetten: Beschränkt man die Kunst, mit welcher Begründung auch immer, ausschließlich
auf das persönliche Erleben, so bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, mehr noch:
Kunst wird zu einem Verführer, der den Menschen von Gott abfallen läßt und jeden
Gemeinsinn konterkariert. Schönheit »ohne Weißheit und Tugend«, also ohne Verbindung zur
vernünftigen Erkenntnis und zum alltäglichen guten Handeln, sei gefährlich, wie Dalberg in
seinem Horen-Beitrag klarstellt. Aufgabe der Politik ist es, den Menschen mit Hilfe der
Kunst und der Schönheit auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung zu unterstützen, ohne daß
dabei ein unüberwindbarer Graben zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht. »Das
ganze menschliche Leben«, bemerkt Dalberg, »sollte ein Bestreben moralisch- und
ästhetisch vollkommener Selbstbildung seyn. Und dann wird es zugleich
möglichstvollständige Erregung des Schönheitsgefühls.« Der Politiker leitet den Bürger an,
sich nützlich zu beschäftigen und in jeder Tätigkeit nach dem Ideal der Vollkommenheit zu
streben. Die hierbei entstehende »Herzensfreude« verbindet ihn mit seinen Mitmenschen
und mit Gott. Man kann nicht behaupten, Dalberg hätte gegen das Programm der Horen
verstoßen. Er fühlte wie Schiller die Verpflichtung, sich jenseits der beschränkten Interessen
der Gegenwart für das Reinmenschliche einzusetzen. Er achtete die überzeitliche Einheit des
Wahren, Schönen und Guten. Dalberg nahm die von Schiller formulierte Aufgabe an, die
politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit zu vereinigen, aber er tat
dies auf seine Weise: Er nahm die Regenten, und damit sich selbst, in die Pflicht: Ausgehend
von einem weitreichenden Lehrer-Schüler-Verhältnis tragen die Regenten die Veranwortung
für die Bildung ihrer Untertanen. An diesem konkreten Bildungsauftrag wollte Dalberg ihre
Tauglichkeit messen. Mit seinem Beitrag über Kunstschulen reagierte Dalberg als Ästhet und
Politiker auf Forderungen seiner Zeitgenossen, Gute Regenten lassen Schulen errichten, in denen eine hohe Kunst den Menschen veredelt und das gesellschaftliche Wohl befördert.
Zudem führte Dalberg einen Gedanken weiter aus, den er vorher in seinen „Grundsaetze[n] der Aesthetik“ formuliert hatte:
»Die Führer und Lehrer der Menschheit sollten das Gefühl des wahren Schönen, in ihren Untergebenen und
Zöglingen erregen. Grössere allgemeine Glückseligkeit würde die Folge seyn, und das Geschäft eines Jeden
würde besser gehen. Das Wesentliche aller Würkungen des Schönheitgefühls, bestehet darinn: dass durch edle Thaten der Menschen, durch ihre Geistes- und Kunstwerke, die Menschheit gewinnt, und die Welt schöner und besser wird. Wissenschaft, Kunst und Thatkraft sind einander wechselsweiss Stütze, Beförderung, Anfeuerung; und wenn Achill einen Homer begeistert, so begeistert Homer einen Alexander. Kunst steigt durch entflammte Bewunderung der Kunstwerke, von Stufe zu Stufe, zu hohen Idealen empor.«
Gegenüber der auf Kunst und das Kunsterlebnis enggeführten Ästhetik Schillers entwarf
Dalberg eine Ästhetik, die sich im regen Austausch mit allen erdenklichen Wissensgebieten
und Lebensbereichen befindet: Anthropologie, Geschichte, Mathematik, Moral, Kunst, Physik
und Theologie.
Dalberg definierte die Ästhetik als Disziplin, die andere Gebiete befruchtet und von diesen
wiederum bereichert wird, er propagierte Verbindung statt Vereinzelung und stellte die
Schönheit ins Zentrum des individuellen und sozialen Lebens. Wer das gute und gelungene
Leben anstrebt, so läßt sich seine Überlegung zusammenfassen, der sucht nach Schönheit und
begibt sich in Gemeinschaft. Weil Dalberg ein Konzept anbot, das die einzelnen Teilbereiche
der Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften ließ, sondern das bürgerliche Leben, die
Wissenschaft und die Kunst dynamisch miteinander vernetzte, wurde er von Christian
Friedrich Daniel Schubart als Erneuerer der Gelehrsamkeit – als deutscher Francis Bacon
(1561–1626) – gefeiert. Für Schubart, der oft genug das aussprach, was seine Zeitgenossen
dachten, nahm Dalberg neben Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Christoph Martin
Wieland eine herausragende Stellung in der Literaturszene ein. Mit seiner Ästhetik überragte
Dalberg nach Auffassung Schubarts all jene Autoren, die sich vorher mit ästhetischen
Fragestellungen auseinandergesetzt hatten, weil er den Gedanken nicht von der Tat, das
Subjekt nicht vom Objekt und das Schöne nicht vom täglichen Leben, vom Staat und von
Gott trennte.
Dalbergs berufsbedingte Abkehr von den Horen, die er dem Herausgeber am 12. April 1795
anzeigte, läßt sich durchaus als ein Hinweis auf unterschiedliche, vielleicht unversöhnliche
Ansichten lesen. Dennoch wandte sich der begeisterte Horen-Leser Dalberg am 5. September
1795 abermals an Schiller und übersandte ihm einen neuen Beitrag, der bedauerlicherweise
verloren gegangen ist. Schiller benutzte Dalbergs im Frühjahr 1795 erfolgte Abkehr, um
seinen Lesern zu versichern, daß sie in Zukunft von aufklärerischen Standpunkten und der
Prosa des Lebens verschont bleiben würden. Schiller ging fehl in der Annahme, daß Dalberg
inhaltlich und formal anders schreiben würde, als er es bis dahin getan hatte.
Dalberg verschwieg dem Herausgeber, daß ihn eigentlich weder das Konzept der Horen noch des
Herausgebers Vorstellung von Ästhetik und ästhetischer Erziehung veranlaßt hatten, über
Kunstschulen nachzudenken. Mit seinem Kunstschulen-Aufsatz beging Dalberg ein Jubiläum,
denn genau zehn Jahre zuvor, also 1785, war die Idee zur Gründung einer Kunstschule in
Erfurt an die von Dalberg initiierte Kurfürstliche Kommerzien-Deputation zur Förderung des
Handels und der Gewerbe herangetragen worden. Der Einfall stammte von Johann Georg
Wendel (1754–1834). Der Pfarrerssohn wurde in Egstedt geboren und besuchte zwischen
1772 und 1778 das Erfurter Ratsgymnasium. Ab November 1778 weilte er als
Mathematikstudent in Leipzig, wo er die damals bekannte, von Adam Friedrich Oeser (1717–
1799) geleitete, Kunstakademie besuchte und in Architektur, Malerei und Kupferstecherei
unterrichtet wurde. Die künstlerische Ausbildung, die er in Leipzig genoß, veranlaßte ihn, in
seiner Heimatstadt ein ähnliches Institut zu gründen. Den Unterrichtsplan, der die Bereiche
Architektur, Geometrie, Perspektive, Proportion und Dekoration umfaßte, entwarf Georg
Melchior Kraus (1737–1806). Zusammen mit Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) hatte
Kraus 1774 die Gründung der ›Fürstlichen Freyen Zeichenschule‹ in Weimar angeregt, die
1776 erfolgte. Kraus fungierte als erster Direktor dieser Bildungsanstalt, an der sich die
Erfurter Einrichtung orientierte.,
Die Erfurter Kunstschule bzw. Kurfürstliche Zeichenschule wurde am 9. Mai 1786 eröffnet.
Der Unterricht wurde zunächst in Wendels Wohnung, die sich in der Neustadt befand,
abgehalten. 1789 oder 1790 erwarb Wendel auf dem Anger 43 den Biereigenhof zum
Heidelberge, wo fortan die Zeichenschule untergebracht war. Wendel führte interessierte
Laien beiderlei Geschlechts anhand von Büchern, Musterzeichnungen, Kupferstichen und
Gipsabgüssen in die künstlerische Arbeit ein. Aber auch und gerade Handwerker sollten den
Unterricht besuchen. Die Zünfte wurden angehalten, ihre Lehrlinge und Gesellen in die
Zeichenschule zu schicken, um ihnen dort eine fundierte ästhetische Erziehung und
Weiterbildung angedeihen zu lassen. Sie standen jedoch, besorgt um ihren Einfluß, der
Kunstschule skeptisch bis feindlich gegenüber.
Carl von Dalberg ließ es sich nicht nehmen, dem Unterricht wiederholt persönlich
beizuwohnen und in Schillers Horen, aus eigener Erfahrung schöpfend, den Nutzen von
Kunstschulen darzulegen. Die Kunst- und Zeichenschule, die 1793 mehr als 200 Besucher
zählte, stärkte als ›gute Bildungsanstalt‹ das moderne, aufklärerische Profil der Stadt Erfurt.
Daß Dalberg in seinem Kunstschulen-Aufsatz zukunftweisende Gedanken vorgetragen hatte,
belegt die Würdigung, die sie lange nach ihrem Erscheinen durch Carl Seidel (1788–1844)
erfuhren. Seidel erwarb sich als Musiklehrer und Kunstwissenschaftler ein hohes Ansehen
in Berlin. In seiner zweibändigen Schrift Charinomos (1825/28) erörterte er mit großer
Belesenheit und Sachkenntnis das Zusammenspiel der unterschiedlichen Künste und die
»nahe Beziehung der Kunst zum Leben«. Mit dem gleichen ganzheitlichen Anspruch, den
vorher Dalberg verfolgte, schrieb Seidel über die »Verschönerung des Daseins durch die
Künste, über ästhetische Erziehung, über Erweckung und Belebung des Kunstsinns im Volke,
über das Verhältniß der Künste zum Staat«. Der u. a. von Johann Gottfried Schadow (1764–
1850), Christian Daniel Rauch (1777–1857), Johann Wolfgang Goethe (1749–1832)
gepriesene und mehrfach staatlich prämierte zweite Band enthält ein abschließendes
Kapitel, das den Titel „Kunstschulen“ trägt. Seidel beginnt seine Ausführungen mit Dalbergs
Appell: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt Ihr in Euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? […] so errichtet gute Kunstschulen!«