Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 2. Mai 2017
Die bezaubernde mexikanische Wieland-Geschichte von Koxkox und Kikequetzel war als kommentierte Neuausgabe ein Gemeinschaftswerk zwischen Dr. Bertold Heizmann und Bernd Kemter, Vorsitzende der Goethe-Gesellschaften in Essen und Gera/Erfurt. Dr. Heizmann hatte zur Erzählung selbst einen Aufsatz „Wielands Rousseau-Schriften“ verfasst, der an die Erzählung anschloss. Kemter besorgte das Vorwort, das Glossar und die satztechnische Herstellung, Elke Sieg, Geschäftsführerin der Geraer Goethe-Gesellschaft, steuerte Scherenschnitte bei.
Dr. Heizmann ging in seinem Vortrag zunächst auf Wielands Geheime Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens ein. In dieser Reihe findet sich gleich an erster Stelle die mexikanische Geschichte. Es folgen: Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, Über die von J. J. Rousseaus vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken, Über die Behauptung, dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachteilig sey, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Die Bekenntnisse des Priesters Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Mefis in Nieder-Ägypten.
Unter „Geheim“ wurde zu damaliger Zeit das verstanden, was sich empirischer Forschung entzieht, mithin spekulativen Charakter entfaltet. Wieland pflegte wiederum einen humorvollen Stil – dies bei durchaus ernster Absicht. Die Frage nach dem Ursprung des Menschengeschlechts durchzog in intellektueller Debatte das gesamte 18. Jahrhundert. Daher ist Rousseau so eminent wichtig.
Dabei wandte sich der französischsprachige Genfer Philosophe durchaus gegen aufklärerische Absichten. Um seine Auffassungen darlegen zu können, nutzte er die Gelegenheit, sich an zwei Preisschriften zu beteiligen. Die erste Frage lautete, ob der Aufstieg der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen haben, die Sitten zu reinigen (mithin, den menschlichen Fortschritt zu befördern). Während Aufklärer dies bejahten, wurde die Frage von Rousseau verneint. Dies war zu damaliger Zeit durchaus ein skandalöses Unterfangen.
Die zweite Preisfrage eröffnete den Diskurs über den Ursprung des Menschengeschlechts und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.
Wieland schuf hierzu besagte Erzählung, gestaltete sie als heitere Plauderei. Er ging dabei der Frage nach, welcher Zustand denn vor jeglicher Staatsordnung herrschte und wie die Gründung von Staaten später verlief. Exotische Länder rückten immer mehr in den Blickpunkt. Dabei entstand auch der Begriff vom „guten“ oder „edlem Wilden“. Hierzu verwies Heizmann auf den romantischen Roman Atala von Chateaubriand, auf die Persischen Briefe Montesquieus, Diderots Diskurs Supplement au voyage de Bougainville und Voltaires Roman L’ingenu.
Ihre Gedanken waren von Überzeugungen der Dekadenz bestimmt: Vormals war das Leben besser, nunmehr seien die Sitten verkommen. Es müsste jedoch im Abendland einmal ein Zustand geherrscht haben, in dem der Mensch seine positiven Eigenschaften leben konnte. Dies müsse der status naturalis gewesen sein. Archaische Vorstellungen erinnern daran: Paradies, Goldenes und silbernes Zeitalter, aber auch Menschenalter- und Jahreszeiten-Analogien: Frühling, Sommer, Herbst und Winter des Lebens eines Menschen.
Bei dem englischen Philosophen Thomas Hobbes liest sich das allerdings völlig anders. Er betrachtete den status naturalis als etwas Schlechtes, als einen Zustand, der überwunden werden müsse. Hier sei der Mensch des Menschen Wolf gewesen, es habe Krieg aller gegen alle geherrscht. Allmählich seien die Menschen jedoch vernünftig geworden, hätten sich, um zu überleben, Gesetze gegeben und Staaten gegründet, die nun die alleinige Macht ausübten: die Möglichkeit des Missbrauchs durch den jeweiligen Souverän eingeschlossen. Falle der Mensch in den Naturzustand zurück, könne er auch nicht mehr im Bunde mit der Gottheit sein.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant meinte, der vorherige Zustand sei tierisch gewesen, der Mensch habe sich am „Gängelwagen des Instincts“ befunden. Der Mensch stand unter Vormundschaft der Natur, befand sich im Zustand der Unfreiheit. Erst nach dem Sündenfall habe er zur Vernunft gefunden. Somit sei der Sündenfall notwendig gewesen, er habe das Licht zur freiheitlichen Entwicklung des Menschengeschlechts angezündet.
Welche Rolle spielt nun Wieland in dieser Debatte?
Seine Geschichte beginnt mit einer Überschwemmung (Sintflut) in Mexiko, die nur sehr wenige Menschen überleben, die zudem lange Zeit nicht zueinander finden können. So bleibt Koxkox zunächst allein. Nun versteckt Wieland seine Ansichten über die eingangs erwähnten Preisfragen hinter seinem erfundenen Gewährsmann, den mexikanischen Philosophen Tlantlaquakapatli. Koxkox erweist sich als gut, naiv, von keiner Gesellschaft verdorben. Auch Kikequetzel ist Naturkind, auch, wenn sie wie Koxkox durchaus nicht bei Punkt Null beginnt. Schließlich haben sie schon unter Menschen gelebt, einiges an Kenntnissen und Erfahrungen mitgenommen. Beide finden sich und fassen Zuneigung zueinander. Nun entwickelt Wieland den Gegensatz zwischen Natur/Natürlichem und Kunst/Künstlichem/Gekünsteltem. Er versucht zu vermitteln: „Es gibt eine Kunst, welche die Werke der Natur wirklich verschönert und eine andere, welche sie unter dem Vorwande der Verbesserung oder Ausschmückung verunstaltet.“
Rousseau vetrat die Ansicht, der Mensch sei dem Tier in vielen Belangen unterlegen, allerdings verfüge er über die Fähigkeit zur Vervollkommnung.“ Andererseits übe die Vernunft auch einen verhängnisvollen Einfluss auf den Menschen aus, sie entfremde ihn immer mehr von der Natur.
Dies zeigt sich ebenso an der Sprache. Der Naturmensch kommt mit der „Sprache des Herzens“ aus. Erst im Zusammenleben wächst die Notwendigkeit, eine begriffliche Sprache herauszubilden.
Der „glückliche Naturzustand“ währt nicht ewig. Daher muss Wieland die Handlung erweitern, um die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darzustellen – beispielsweise die Entstehung des ersten Krieges.
Ein anderer Mann betritt also die Szene. Kikequetzel fühlt sich sofort zu ihm hingezogen, der so ganz anders ist als ihr Koxkox. Ist jener roh, barbarisch, von herkulischer Gestalt, so ist dieser empfindsam, zart von Gefühl und Wuchs. Der Anlass des Streits ist ein denkbar lächerlicher: Während sich Koxkox mit blauen Federn schmückt, bevorzugt sein Widersacher gelben Kopfschmuck und bekommt ihn von Kikequetzel auch sogleich verpasst. Es entsteht Eifersucht, wie sie nur in monogamen Gesellschaften möglich sind. So verfällt die kleine Gesellschaft in den Hobbe’schen Kriegszustand. Beide Männer schlagen sich, Koxkox unterliegt und flieht. Nach geraumer Zeit kommt er zurück, allerdings in Begleitung von zwei Mädchen und ihrer Tante, die ihm unterwegs begegnet sind. Mittlerweile hat Kikequetzel ihr Tun bereut. Es entsteht eine vergrößerte Gemeinschaft, in der Zwietracht und Hader herrschen.
So erfüllt sich Rousseaus Abfolge, die das Leben eines einzelnen Menschen genauso widerspiegelt wie die Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft: Kindesalter (Natürlichkeit), Adoleszenz, Mannesalter, Greisenalter.
Wieland meint, die Menschen seien nicht dazu gemacht, ewig Kinder zu bleiben. Es liegt in ihrer Natur, durch einen langen Mittelstand von Irrtum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daraus entspringendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höheren Fähigkeiten zu gelangen.
Ein weiterer Aspekt. Im 18.Jahrhundert beschäftigte man sich mit Menschen, die frei in der Natur aufgewachsen waren, sich tierisch verhielten. Beschrieben wurden solche Fälle beispielsweise von dem Arzt Dr. Jean Itard, der einen solchen jungen Menschen betreute und einen Bericht darüber herausgab: Mémoire et rapport sur Victor l´ Aveyron. 1970 wurde dieser Dokumentarbericht von Francois Truffaut unter dem Titel Der Wolfsjunge verfilmt.
Man wollte auch herausfinden (Versuche gab es schon unter einem ägyptischen Pharao und unter dem Stauferkaiser Friedrich II.), ob ausgesetzte Kleinkinder in der Wildnis überleben konnten und ob sie eigenständig Sprachen lernen konnten, ohne dass man es ihnen beibrachte. Die Kinder überlebten nicht. Und welche Wesen würden wohl aus Verbindungen von Orang-Utans und „Negermädchen“ entstehen?
Wieland lehnte solche Experimente ab. An den Schluss seines Essays setzte er das Traumgespräch mit Prometheus. Dieser sei der Erfinder der Wissenschaften und habe somit letztlich auch die Korruption eingeführt. Auch geht Wieland der Frage nach, wie denn das Unheil überhaupt in die Welt gekommen sei. Durch die Büchse der Pandora, lautet Prometheus‘ Antwort. Wieland will es nun genauer wissen, doch es misslingt, denn – er erwacht. Bei weiterem Grübeln verfällt er auf die zunächst kuriose Idee, die Büchse der Pandora sei nichts weiter als – die Schminkbüchse! Denkt man weiter, so wird klar, dass mehr gemeint ist, nämlich alles Künstliche, das Gekünstelte, das die Natur verfälscht. So schließt sich der Kreis.