Vortrag von Dr. Maria-Verena Leistner, Leipzig, am 6. März 2018
In der Zeit zwischen 1815 und 1830 gehörte Wilhelmine von Chezy, auch Helmina oder Helmine genannt, zu den bekanntesten Schriftstellerinnen. Heute wird ihr Name lediglich als Librettistin von Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“ oder Verfasserin des Textes zu Franz Schuberts Schauspielmusik „Rosamunde“ genannt. Ihr Gedicht „Ach wie wär‘s möglich dann“ ist zum Volkslied geworden. Sie wurde als Wilhelmine Christiane von Klencke am 26. Januar 1783 in Berlin geboren. Da war die Ehe der Eltern bereits geschieden und das Mädchen wuchs unter der Obhut von Mutter, Caroline Luise von Klencke (1750-1802), und Großmutter, Anna Luise Karsch (1722-1791), auf. Beide Frauen waren Schriftstellerinnen, die Großmutter – genannt: die Karschin – in ihrer Zeit eine Berühmtheit, der auch Goethe im Mai 1778 seine Aufwartung machte. Wilhelmine besuchte keine Schule, die Mutter unterrichte sie zu Hause, Zeichnen lernte sie bei Daniel Chodowiecki und das Lesen wurde ihr früh zur Leidenschaft.
Im August 1799, da war sie sechzehneinhalb Jahre alt, wurde Helmina mit dem Offizier Karl Gustav von Hastfer verheiratet. Schon 15 Monate später erzwang sie – unter Preisgabe des gesamten Vermögens – die Scheidung. Die Frage nach der weiteren Lebensgestaltung half ein Zufall lösen. Helmina lernte die in Berlin lebende französische Emigrantin und Erfolgsautorin Felicité de Genlis kennen, die die junge Frau zu sich nach Paris einlud und dort für sie zu sorgen versprach. Die Warnungen, da die Genlis in der Gesellschaft einen etwas zweifelhaften Ruf genoss, schlug Helmina in den Wind und reiste im Mai 1801 nach Paris. Außer Unterricht im Französischen erhielt sie nicht die versprochene „mütterliche Liebe und Sorgfalt“. Helmina war nun ganz auf sich verwiesen. Eine Stelle als Erzieherin fand sie nicht – man nahm Anstoß daran, dass sie eine geschiedene Frau war. Mit großem Lerneifer holte sie an Bildung nach, was ihr bisher vorenthalten worden war. Sie besuchte die Pariser Nationalbibliothek und die Nationalgalerie und lernte ohne Anleitung Altfranzösisch, Italienisch, Spanisch und Englisch. Sie verschaffte sich Zugang zu verschiedenen Salons und suchte Kontakte zu Literaten und Verlegern.
Mit der von der Großmutter Karsch geerbten Lust zum Schreiben hatte bereits in Berlin die vierzehnjährige Helmina einen Roman begonnen und war von Jean Paul zu weiterer literarischer Arbeit ermuntert worden. In ihm sah sie fortan ihren Mentor und hielt den Kontakt zu ihm über 22 Jahre hin aufrecht. In Paris nun musste sie ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdienen. Es waren vor allem Berichte zur Zeitgeschichte und zur aktuellen Kunst, die von deutschen Verlegern veröffentlicht wurden. Dazu erschienen ab 1807 Gedichte, die ihr leicht aus der Feder flossen. Darin kamen häufig Naturerlebnisse und Gemütsverfassungen zum Ausdruck. Ganz in der Tradition der Karschin schrieb sie auch Widmungsgedichte auf hochgestellte Personen, die ihr ab und zu mit wertvollen Geschenken dafür dankten. Unter dem Titel „Gedichte der Enkelin der Karschin“ erschienen 1812 die frühen Arbeiten in zwei Bänden und verschafften der Autorin Helmina einen Platz auf dem literarischen Markt.
Im Hause von Friedrich und Dorothea Schlegel lernte sie den zehn Jahre älteren Orientalisten Antoine Léonard de Chézy kennen. 1805 wurde geheiratet und Helmina nahm anfangs aktiv an den wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes teil. 1806 und 1808 wurden die Söhne Wilhelm (später Schriftsteller, gest. 1865) und Max (später Maler, gest. 1846) geboren. Aber innerfamiliäre Spannungen und das Missbehagen in dem sich zur modernen Großstadt entwickelnden Paris bewirkten, dass Helmina 1810 mit den Kindern nach Deutschland zurückkehrte. Ein reger Briefverkehr blieb zwischen den Eheleuten bis zu Chézys Tod 1832 bestehen, und er überwies jährlich 2400 Francs nach Deutschland.
Helminas Leben war fortan von häufig wechselnden Aufenthaltsorten, materieller Not, Krankheit und etlichen Skandalgeschichten gekennzeichnet. Ihr Drang, sozial Bedürftigen Hilfe zukommen zu lassen, brachte sie in Konflikte mit dem Staatsapparat. 1813 organisierte sie in Darmstadt Hilfsaktionen für verwundete Franzosen. 1815 erwirkte sie vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis zu Besuchen in Lazaretten in Belgien und am Niederrhein. Weil sie dort Nachlässigkeiten bei der Versorgung Verwundeter aufdeckte, erregte Frau von Chezy das Missfallen der Lazarettverwaltungen, die sich nicht von einer Frau und Schriftstellerin Vorschriften machen lassen wollten. Sie indes ging in ihrem Eifer so weit, in einem Schreiben an den General der Infanterie, Grafen von Gneisenau, die Beschwerden von 33 Invaliden weiterzugeben und von der „Elendigkeit“ zu berichten, die einigen von ihnen widerfahren sei. Diese nach Köln zwecks Überprüfung zurückgesandte Eingabe brachte der Schreiberin eine Verleumdungsklage „wegen Amtsehrbeleidigung königlicher Behörden“ und Vorladung vor das Zuchtpolizeigericht ein. Daraufhin reiste Helmina am 24. Februar 1816 mit ihren Kindern Hals über Kopf aus Köln ab und kam nach vier Wochen in Berlin an, wo sie vor dem preußischen Kammergericht gegen den Vorwurf der Verleumdung kämpfte. Der damals dort tätige Dichter E. T. A. Hoffmann leitete die Untersuchung und bewirkte den Freispruch der Angeklagten.
Daraufhin verließ Helmina Berlin, wo für sie das Leben zu teuer wurde, und lebte von Oktober 1817 bis April 1823 in Dresden. Es waren Jahre eines umfangreichen geselligen Verkehrs und literarischer Produktivität. Mit den Kindern unternahm sie Wanderungen in der Sächsischen Schweiz und schrieb Gedichte auch auf die besuchten Örtlichkeiten. Schon in früheren Jahren hatte Helmina von Chezy sich mit fremdsprachiger Literatur beschäftigt und in Paris zu Friedrich Schlegels Sammlung übersetzter altfranzösischer Literatur beigetragen. Ein erstes Zeugnis für die Beschäftigung mit dem Spanischen war die Übersetzung des Calderón-Dramas „El galan Fantasma“, die sie im November 1816 Goethe zukommen ließ. Nun wurde diese Tätigkeit intensiviert. Gemeinsam mit dem kurhessischen Gesandten in Dresden, Ernst Otto von der Malsburg, übersetzte sie weitere Dramen Calderóns, die in sechs Bänden von 1819 bis 1825 bei Brockhaus in Leipzig erschienen. Es entstanden ebenfalls verschiedene Prosatexte. Eine bis heute bekannt gebliebene Arbeit der Dresdner Zeit war das Libretto zu Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“. Die Zusammenarbeit zwischen 1821 und 1823 gestaltete sich schwierig, weil die Intentionen beider Künstler voneinander abwichen. Es kam zu vielen Umarbeitungen, bevor am 23. Oktober 1823 am Wiener Kärntnertortheater unter Webers Leitung die Uraufführung stattfand. Heute heute wird die Oper nur noch selten gespielt.
Gesundheitliche Beschwerden bei Helmina von Chezy und die Behandlung des an Skrofulose erkrankten Sohnes Wilhelm mit Schwefelbädern erforderten einen Weggang aus Dresden. Zudem hatte sie sich neuerdings ins Gerede gebracht, weil sie einem an Wahnsinn erkrankten Maler ihre Pflege zuteil werden ließ. Wien, das Salzkammergut, München, noch einmal Paris, Baden-Baden, Heidelberg, das Elsaß und schließlich Genf waren die Orte, wo sich Helmina von Chezy – ab 1829 ohne ihre Söhne – in den Jahren bis zu ihrem Tod aufgehalten hat. 28 ihrer Prosatexte gab sie 1824-27 unter dem Titel „Stundenblumen“ in vier Bänden heraus. Im vierten Band ist die Erzählung „In Deo Consilium“ enthalten, in der Erlebnisse sowohl der Dresdner Zeit als auch der ersten in Österreich verbrachten Jahre verarbeitet sind. Gedichte wurden zu dem Band „Herzenstöne auf Pilgerwegen“ (1833) zusammengestellt. In den folgenden Jahren verfasste die Schriftstellerin hauptsächlich publizistische Texte.
In Österreich flammte Frau von Chezys Hilfsbereitschaft für notleidende Menschen noch einmal auf, als sie im Salzkammergut das Elend arbeitslos gewordener Salzbergleute erlebte. Nicht am Versiegen der Salzgewinnung glaubte sie die Ursache dafür zu sehen, sondern an Fehlern in der Verwaltung. Mit Hilfe der Kaiserin Caroline Auguste organisierte sie, dass den Arbeiterfrauen der Region um Hallstatt durch Flachsspinnen eine Verdienstquelle erschlossen wurde. Auch sammelte sie Beschwerden von Bergleuten ein und schickte diese an Kaiser Franz I. Ihn veranlasste die Angst vor sozialem Aufruhr, die Chezy im Dezember 1828 zu einer Audienz zu laden. Er dankte ihr zwar für ihren Einsatz, verwarnte sie zugleich wegen des Eingreifens in staatliche Angelegenheiten. In ihren Erinnerungen resümierte sie: „Zum zweiten Mal in meinem Leben blieb ich unverstanden, und hatte meine Widersacher durch weibliche Einmischung aufgebracht.“
1832 starb Léonard de Chézy an Cholera. Er hatte die Ergebnisse seiner Sanskrit-Studien nicht veröffentlichen können und Helmina kämpfte in Paris um die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Mit einer schäbigen Summe (1.500 Francs) wurde sie abgefunden, die kostbare Bibliothek musste versteigert werden. Weil ihre Einnahmen allmählich versiegten, bat Helmina von Chezy bei Verlegern um Neuauflagen ihrer Texte, bei Theaterintendanten um Aufführung ihrer Bühnenwerke, hatte aber kaum Erfolg. Geringe materielle Zuwendungen vom preußischen König sowie von der 1842 in Dresden gegründeten Tiedge-Stiftung wurden der notleidenden und zuletzt erblindeten Frau zuerkannt. 1842/43 nahm sie lebhaft Anteil an den demokratischen Debatten und engagierte sich für die Rechte von Frauen. Als die Chezy vom Projekt eines „Armenbuches“ der Bettina von Arnim erfuhr, begann sie mit der Arbeit an einem – Fragment gebliebenen – Buch über soziale Fragen mit dem Titel „Dies Buch gehört Bettinen“. 1853 siedelte sie an den Genfer See über. Dort starb sie am 28. Januar 1856. Zuletzt war aus Schlesien eine Großnichte zu ihr gekommen, der sie ihre Lebenserinnerungen diktierte, die 1858 unter dem Titel „Unvergessenes“ erschienen.