Vergnügliche Lektüre – Erstaunliches und Unbekanntes
„Schiller – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“. Vorweg, dieser Titel hält, was er verspricht. Somit ist Dagmar Gaßdorf und Berthold Heizmann ein Büchlein gelungen, das neben Bekanntem auch Erstaunliches und Unbekanntes über den prominenten Klassiker und Goethefreund vereint. Die Lektüre ist nicht nur allen „Pappenheimern“, sondern jedem Literaturinteressierten zu empfehlen. Somit gewährt der Blick vom „Schiller-Balkon“ neue Einsichten, die jene Überzeugung erneuern, ja bekräftigen, zu der man bereits als jugendliche Leseratte gelangt war: Dieser Schiller – was für ein Kerl!
Selbst wer sich seufzend, ablehend gar an vergangene Schulstunden erinnert, in denen man mit schweißiger Stirn, in verzweifelt stockender Rede den „Taucher“ aufsagen musste, um lediglich eine mäßige Note einzufangen, wird jetzt sein Vergnügen an Schiller finden. Zuvörderst ins Auge springender Vorzug dieses Büchleins: angenehme Kürze der Kapitel, flotte, klare Sprache, reizvolle Illustrationen. Unaufdringlich erfolgt der Einstieg ins Thema, die Einordnung in „Schiller und seine Zeit“. Der Heißsporn Schiller wendet sich gegen die vernunfttümelnde Aufklärung, seine Dramengestalten erweisen sich als beherzt tatkräftige Protagonisten ungehemmten Freiheitswillens. Wobei: Deren historische Originale waren zumeist weit entfernt von jenem Idealanspruch; dafür möge als Beispiel Don Carlos stehen, im wahren Leben eher ein Schwächling und Versager als ein Heros. Immerhin wird man wieder einmal an den berühmten Ausspruch des (erfundenen) Marquis Posa an den spanischen König Philipp II. erinnert: „Sire,geben Sie Gedankenfreiheit!“ Welch ein kühnes Ansinnen, zur Zeit Philipps undenkbar, im Grundrauschen der späteren Französischen Revolution jedoch durchaus gerechtfertigt.
Verblüffenderweise kommt im nächsten Kapitel Statistik zu ihrem Recht. Aber: ebenfalls interessant! Wer hat schon gewusst, dass es in Deutschland 2163 Schillerstraßen gibt, einen historischen Raddampfer mit seinem Namen, einen Asteroiden, 21 Schiller-Denkmäler und drei Schillertürme? Die Friedrich-Schiller-Universität Jena gibt es natürlich auch. Leider vermisst man in der Aufzählung das Schillerhaus in Rudolstadt, in den vergangenen Jahren mit großem Aufwand restauriert, inzwischen ein Mekka der Schillerfreunde geworden. Schade!
Familiäre Verhältnisse folgen. Der Bub, nach den Worten des Vaters „närrisch wore“, widmet sich schon frühzeitig ersten Schreibversuchen, schlägt also völlig aus der Art. Das innige Verhältnis zu den drei Schwestern gerät in scharfen Gegensatz zum Alltag in der herzoglichen Karlsschule: Prügel, Strafzettel, zum Beispiel, wenn man bei der Lektüre von Goethes „Werther“ erwischt wird, Drill, Essensentzug bei den geringsten Vergehen, eiserne Disziplin. Doch der sensible Jüngling erweist sich als wahrer Kämpfer, der sich seine Gedankenfreiheit selbst von seinem Herzog nicht nehmen lässt. Weiteres ist sicherlich gut bekannt: der wenig zimperliche Regimentsarzt Schiller, der sich mehr dem Schreiben als dem Dienst an seinen Patienten widmet, zuvor die heimlichen Lesungen aus den „Räubern“ vor Mitschülern im Wald, die sensationelle Aufführung im Mannheimer Theater, die Flucht mit Freund Streicher. Alles kurzweilig erzählt, doch was gibt es noch Neues zu entdecken?
Nun, möglicherweise ist Klassikerfreunden durchaus einiges unbekannt. Steht jedenfalls zu vermuten. Prüfe jeder selbst. Schiller humorlos? Das Büchlein tritt den Gegenbeweis an. Schiller als Comic-Zeichner? Lässt sich nachlesen. Der Schwabe als Komödienschreiber? Wer hätte das gedacht? Doch bitte: Das später als „Körners Vormittag“ abgedruckte Lustspiel behandelt nichts weniger als die „Verstopfung“, unter der der Freund leidet; gemeint ist dabei dessen Schwäche, Begonnenes nur mühsam zu Ende bringen zu können. Und weiter. Dem Marbacher wäre heutigentags behördliches Stirnrunzeln gewiss sicher. Warum? Schiller besaß sozusagen die doppelte Staatsbürgerschaft. Man weiß ja: die Ehrenbürgerwürde der revolutionären Französischen Republik. Immerhin: Dem späteren, von Goethe eingefädelten Adelstitel für seinen Freund stand diese Ehrenbürgerschaft nicht im Wege. Andererseits machte sich Schiller, ganz der typische Aufwiegler, gar nichts draus! – ganz anders als Goethe. Im Gegensatz zu diesem war Schiller finanziell auch nie auf Rosen gebettet. Wen wundert’s daher, dass der stets an Geldnot Leidende den Verlockungen honorarträchtiger Trivialliteratur erlag. Verwerflich gewiss, doch wer wollte es ihm verdenken? „Kohle mit Krimis“ machen – dafür steht die Psychostory „Verbrecher aus verlorener Ehre“. Ja, in der Tat, dieser, ins Seelenleben eines Kriminellen vorstoßende Roman darf wohl als Erstling seiner Gattung gelten. Einen echten Coup landete Schiller indes mit dem „Geisterseher“, das der bekannten Figur des Cagliostro folgt. Sogar einen Roman mit chinesischer Thematik plante der Erfolgsautors; das Publikum seiner Zeit war nachgerade begierig nach solchen exotischen Themen. Wundert es noch, dass der umtriebige Schiller sogar als Erfinder des Fortsetzungsromans angesehen werden muss? Welch eine Vielseitigkeit! Schiller – eine wahrhaft schillernde Figur. Die nicht einmal auf „alternative Fakten“ verzichtet, wie man aus dem Buch erfährt.
Natürlich werden darin auch all die bekannten Themen behandelt, die nun einmal zu Schillers Schaffen gehören: die „Glocke“, seine berühmte „Ode an die Freude“, die im weiteren Verlauf durchaus komische, ja lächerliche Passagen enthält, die qualvolle Anbahnung der Freundschaft mit Goethe, das Hin und her-Geworfensein zwischen den beiden Lengefeld-Schwestern, der Shitstorm, den die „Xenien“ auslösten, die berühmten fauligen Äpfel in der Schublade …
Beeindruckend neben aller gewürzten Kürze besticht das Büchlein durch seine Vielfalt eingesetzter textlicher und typografischer Mittel. Aussagekräftige, geschickt platzierte Bilder und eine Chronik runden das kleine Werk ab. Überdies kann man sich an einem Schiller-Quiz beteiligen und auf der vorletzten Seite prüfen, ob man richtig lag. Ja in der Tat, dieses Büchlein steckt voller Überraschungen.
Dagmar Gaßdorf & Bertold Heizmann: Schiller. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. Klartext Verlag Essen 2021. 1. Auflage. 104 S. ISBN: 978-3-8375-2327-0