Vortrag von Prof. Volker Hesse, Berlin, am 4. Mai 2023
„Wenn man sich um der Kinder Willen keine Mühe gäbe, wie wäret Ihr groß geworden?“ – Mit diesem Zitat aus Goethes „Theatralischen Sendungen“ begann der Referent seinen Vortrag. Im Alter von16 bis 26 Jahren weilte der junge Goethe als Student in Leipzig und Straßburg, in Wetzlar und Frankfurt/Main. In all diesen Stationen fiel den ihn umgebenden Menschen seine spontane naive Liebe zu Kindern als ein wesentlicher Charakterzug auf. So gewnn er in Sesenheim nicht nur die Zuneigung von Friederike Brion, sondern auch die ihrer jüngeren Geschwister Jacobea Sophie und Christian, die eifrige Zuhörer seiner Märchenerzählungen wurden.
Aus den „Leiden des jungen Werther“ ist uns Charlotte Buff bekannt. Sie, die zweitälteste Tochter, hatte noch elf Geschwister, mit denen sich Goethe lebhaft beschäftigte. Im „Werther“ heißt es: „Er (Werther/Goethe) balgte sich mit ihnen herum, lag mit ihnen auf der Erde, ließ sie auf sich herumkrabbeln, und es war bei solchen Szenen oft großer Lärm und großes Geschrei.“
Wieland, der als Prinzenerzieher nach Weimar gekommen war, nimmt ihn freundlich in seiner Familie auf. Goethe schreibt: „Wieland ist gar lieb, … und gar zu gern bin ich unter seinen Kindern.“ Bei der fünften Tochter Wielands wird Goethe Pate.
Goethe, der sich früh an Frau von Stein in Weimar band, hatte zu dieser Zeit keine eigenen Kinder. Er veranstaltete jedoch für die Kinder der Freunde, der Kinder Herders, Wielands, der Frau von Stein und anderer Weimarer Kinder Kinderfeste in seinem Garten, auch schrieb er Kinderballette und veranstaltete Tanzfeste für Kinder.
Eigene Erziehungsmethoden unternahm Goethe an zwei Pflegesöhnen, Peter im Baumgarten und dem zweiten Sohn der Frau von Stein, Fritz von Stein.
Peter, ein Schweizer Hirtenknabe, war das Pflegekind eines Barons von Lindau, den Goethe 1775 in Zürich kennengelernt hatte. Er besuchte Goethe 1776 in Weimar und nahm ihm das Versprechen ab, sich in seinem Todesfall um Peter zu kümmern. Als von Lindau 1776 auf Manhattan Island fiel, hielt Goethe Wort und ließ Peter 1777 nach Weimar kommen.
Peter gliederte sich jedoch schwer ein. Nach zwei Jahren fruchtloser Erziehung schickte ihn Goethe nach Ilmenau, um ihn als Förster ausbilden zu lassen.
Den Fritz von Stein lernte Goethe bereits als Dreijährigen kennen. Er nimmt ihn 1783 zur Erziehung für drei Jahre zu sich ins Haus. Der Mutter, Frau von Stein, schreibt er: „Du weißt nicht, wie sehr ich Dich auch in ihm liebe, und wie ich mich freue, dies Pfand von Dir zu haben.“
Um ihn zu bilden, nimmt ihn Goethe mit auf Reisen, in den Harz, nach Göttingen, Kassel, Gotha und Eisenach mit. Auch schickt er ihn nach Frankfurt/Main, damit er diese und die große Stadt kennenlernen sollte. Das gute Verhältnis zu Fritz dauerte fort, auch nachdem es nach Goethes Italienreise ‚(1786 – 88) zum Bruch mit Frau von Stein kam. Insgesamt fehlten aber in der Goetheschen Erziehung Kontinuität und Konsequenz sowie eine konsequente Logik.
Fritz von Stein schätzt die Periode beim „Wahlvater Goethe“ als die „glücklichste Periode seiner Jugend“ ein: „Er begegnete mir mit Liebe, Ernst und Scherz, so wie es nötig war, so dass ich sein Betragen gegen Kinder als ein Musters dieser Art betrachte.“
Goethe hat sich verschiedentlich zu Erziehungsfragen geäußert. Er verstand im Gegensatz zu einem überwiegend konservativen Zeitgeist das Kindsein im Sinne der Auffassungen von Rousseau als eine eigenständige Entwicklungsphase des Menschen. Er sah in der Erziehung vor allem die Aufgabe, angeborene Anlagen zu entwickeln. Die Erziehungsmaximen beinhalten folgende Grundsätze:
- Das Heranführen des Kindes an die Dinge der Wirklichkeit
- Die Bildung entsprechend den vorhandenen Anlagen zu gestalten
- Die Forderung nach Heiterkeit in der Pädagogik und Milde des Lehreres
- Die Erziehung der Jugend zur Ehrfurcht den Erwachsenen gegenüber
Literarisch hat er u. a. Kinderfiguren im Sohn des „Götz von Berlichingen“, im „Werther“, in Wilhelm Meister“ (Felix, Hersilie und Mignon), das Kind in der „Novelle“, Kinder in den Maskenzügen und den unbeherrscht strebenden Euphorion ‚(Faust II) gestaltet.
Die Grenzen der Pädagogik Goethes liegen in der Überbewertung der Selbstentwicklung und der fehlenden erzieherischen Konsequenz, die auf einen systematischen und umfassenden Wissenserwerb zusätzlich zur Anschauung drängt.
Im Alter von 40 Jahren wurde Goethe Vater, die Mutter Christiane Vulpius war 24 Jahre alt. Der Sohn August war das einzige überlebende der fünf Kinder, die Goethe gemeinsam mit Christiane hatte. Ein Knabe wurde tot geboren, die anderen drei Kinder verstarben drei bis 20 Tage nach der Geburt, zusätzlich hatte Christiane mehrere Fehlgeburten. Goethe freute sich sehr auf seine nachgeborenen Kinder und war nach dem Ableben sehr betrübt.
Erzieherisch wirkte Goethe auch als Theaterdirektor auf heranwachsende kindliche und jugendliche Schauspieler ein. Besonders innig war seine Verbindung zu der Schauspielerin Christiane Neumann,später verheiratete Becker, die 12-jährig an das neugegründete Weimarer Hoftheater kam, das Goethe leitete. Nach ihrem frühen Tod schuf er ihr mit der Elegie „Euphrosyne“ ein bleibendes Denkmal.
Den Sohn der berühmten Schauspielerin Friederike Unzelmann nahm Goethe 1802 zur Ausbildung ans Weimarer Theater. Er bemühte sich um die Schauspielausbildung und lud ihn gelegentlich als Tischgast in sein Haus. Gegenüber der Mutter entschuldigte er gütig Unarten des Knaben: „Mit Ihrem Söhnlein werden Sie Geduld haben, wenn manchmal die Nachricht von einer kleinen Unvorsichtigkeit zu Ihnen gelangt. Solche Kinder, in fremde Verhältnisse gesetzt, kommen mir vor wie Vögel, die man im Zimmer fliegen lässt, sie fahren gegen alle Scheiben, und es ist schon Glück genug, wenn sie sich nicht die Köpfe einstoßen, ehe sie begreifen können, dass nicht alles Durchsichtige durchdringlich ist.“
Nachdem der 8-jährige Felix Mendelssohn(-Bartholdy) bereits auf Empfehlung Zelters zusammen mit seiner Mutter Goethe 1817 in Weimar besucht hatte, brachte der Leiter der Berliner Singakademie seinen Meisterschüler zusammen mit seiner Tochter 1821 mit nach Weimar, und Felix wohnte als 12-Jähriger vom 3. bis 19. November 1821 in Goethes Haus.
Goethe mochte den munteren und wohlerzogenen Knaben sehr. Felix begeisterte Goethe durch sein Pianospiel; dieser legte ihm Originalnoten von Mozart und Beethoven vor, und Felix konnte sie nach kurzer Konzentration zu Goethes Überraschung vom Blatt spielen.
Goethe wuchs nach dem Tod seiner anderen Geschwister mit seiner Schwester Cornelia auf, mit der er auf das Engste verbunden war. Ihren frühen Tod (mit 26 Jahren) nach der Geburt der zweiten Tochter verwand er nur schwer. Die schwere seelische Verletzung mag es mit sich gebracht haben, dass er keinen direkten Anteil an den heranwachsenden Töchtern Cornelias nahm.
Eine besondere Freude hatte der alternde Dichter an den Enkeln. Nach dem Tod seiner Frau Christiane 1816 hatte Sohn August Ottilie von Pogwitsch geheiratet. Aus dieser Verbindung gingen drei Enkel hervor, Walter Wolfgang (1818), Wolfgang Maximilian (1820) und Alma (1827).
An Marianne von Willemer schreibt er: „Meine Enkel sind wirklich wie heiteres Wetter, wo sie hintreten, ist es hell.“
Die Knaben durften selbst in Goethes Heiligtum, sein Arbeitszimmer, zum Spielen kommen. Bei der letzten Reise, die der 82-jährige universelle Geist von Weimar unternimmt, begleiten ihn die Enkel. Mit den Augen der Enkel sieht er die vertraute Ilmenauer Umgebung.neu. Als Goethe stirbt, sind die Enkel um ihn. Noch am Morgen des Sterbetages trank Goethe mit dem Zweitgeborenen „Wolf“ seinen Kaffee. In einem Brief heißt es: „Der Umgang mit Kindern macht mich froh und jung“, und Werther lässt er sagen: „Die Kinder sind meinem Herzen am nächsten auf der Erde.“