Vortrag von Francesca Müller-Fabbri, Weimar, am 8. April 2024
Ottilie von Goethe (1796 – 1872), Goethes „geliebte Schwiegertochter“, wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen. Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich.
Die Mutter kam mit zwei Töchtern nach Weimar, die Witwe wurde dort „die Gräfin“ genannt, da sie in der Tat eine geborene Gräfin Henckel von Donnersmarck war. Die Mutter fand rasch eine Hofdamenstelle bei Herzogin Luise. Am 17. Juni 1817 heiratete Ottilie August von Goethe und zog zu ihm in die Mansarde des Goethe-Hauses am Frauenplan. Sie hatte mit ihm die Kinder Walther Wolfgang von Goethe (1818–1885), Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–1883) und Alma Sedina Henriette Cornelia von Goethe (1827–1844). Doch die Ehe verlief unglücklich: Augusts Alkoholprobleme und Ottilies Liebschaften belasteten die Verbindung, die zudem ganz unter dem Eindruck des imposanten Schwiegervaters stand. Das Verhältnis zwischen Ottilie und ihrem Schwiegervater entwickelte sich nämlich sofort recht vielversprechend. 15 Jahre lebten sie unter einem Dach. Ottilie begeisterte sich für E. T. A. Hoffmann und Lord Byron. Dem Schwiegervater sprudelte eine jugendliche Welle an Lebendigkeit und Lust auf romantische und englischsprachige Literatur entgegen. Er schenkte Ottilie Vertonungen seiner Gedichte, die sie zu Gehör brachte. Bald nahm sie an der Ausarbeitung einiger Schriften des Dichters teil. Die geistreiche Schwiegertochter entwickelte sich zum Anziehungspunkt der internationalen Gästeschar des alten Goethe. Als Weimar ab den 1820-er Jahren Ziel englischsprachiger Studenten wurde, avancierte Ottilie zur Vermittlerin bei Hof sowie in gelehrten Kreisen und erhielt bald auch aufgrund ihrer Übersetzerinnentätigkeit den Spitznamen „englischer Konsul“.
Ottilie von Goethe pflegte ebenso eine intensive Beziehung zu der fast gleichaltrigen Adele Schopenhauer, die mit ihrer Mutter Johanna ebenfalls in Weimar lebte. Da Adele und Ottilie in Danzig geboren und ohne Vater aufgewachsen waren, verband sie schnell eine intensive Freundschaft, die erst mit Adeles Tod endete.
Ottilie dichtete sehr viel. Sie gründete auch einen Musenverein für Mädchen. Ottilie übersetzte den „Tasso“ ins Englische, es gab ja eine relativ große englische Gemeinde in Weimar.
Dennoch wurde ihr intellektuelles Lebenswerk bislang wenig beachtet. Dabei wirkte sie als Übersetzerin und Agentin des englisch-deutschen Kulturtransfers, sie förderte eine neue Generation von Kunstschaffenden in Weimar, Leipzig und Wien,. Ottilies handschriftlicher Nachlass, ihre Bibliothek, ihre Kunst- und archäologischen Sammlungen, ihre Publikationen und Übersetzungen erweisen sich als ein erstaunlich reicher Fundus, um ihre weltoffene Persönlichkeit darzustellen und zugleich ein Stück Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Ab 1829 gab sie die Zeitschrift „Chaos“ heraus. Die Beiträge kamen aus allen Teilen Europas, waren in verschiedenen Sprachen verfasst und gaben Gelegenheit, auf die Beiträge der anderen zu reagieren. Neben Goethe und weiteren Weimarer Bekannten waren auch zahlreiche berühmte Zeitgenossen vertreten, macht Karsten Hein imGoethe-Jahrbuch 2022 aufmerksam. Weiter erfahren wir: Das Blatt existierte von September 1829 bis Februar 1832, unterbrochen bei Augusts Tod 1830 und beendet mit dem Ableben des Dichters. Mitwirken am „Chaos“ durfte nur, wer mindestens einen 24-stündigen Aufenthalt in Weimar nachweisen konnte. Die Redaktion hatte ihren Sitz in der Mansarde des Goethe-Hauses: die Herausgeberin stellte das wöchentlich erscheinende Journal zusammen. Die eingereichten Texte in beliebiger Sprache mussten unveröffentlicht sein und wurden nicht mit Klarnamen gekennzeichnet. Geschützt durch Pseudonyme konnte man sich frei fühlen, Wahrheiten und Gefühle offen aussprechen. Mitunter bezogen sich die Texte aufeinander, und es entwickelte sich ein interaktives poetisches Hin und Her. Und ein weiteres Novum: Etwa ein Viertel der rund 100 Mitwirkenden waren Frauen.
Nach Augusts Tod lebte Ottilie weiterhin bei ihrem Schwiegervater, dem sie unter anderem bei der Ausarbeitung des Fausts (2. Teil) half. Obwohl sie sich gelegentlich von Goethe überfordert fühlte, gehörte er, den sie liebevoll „Vater“ nannte, zu den wenigen stabilen Größen in ihrem Leben. Goethe starb 1832. Das Testament des Schwiegervaters machte Ottilie eine zweite Heirat finanziell unmöglich. Der Tod Goethes bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Wende in Ottiliens Leben. Der Dichter war Dreh- und Angelpunkt all ihrer Aktivitäten gewesen; es entstand eine große Leere. Zudem wurden laut Testament ihre drei minderjährigen Kinder Universalerben und erhielten bis zu ihrer Volljährigkeit Vormünder. Die Kunst-, Naturalien- und Briefsammlungen wurden unter die Betreuung des großherzoglichen Bibliothekssekretärs gestellt und sollten möglichst an eine öffentliche Anstalt verkauft werden. Wohnhaus und Garten blieben zunächst unverkäuflich. Ottilie wurde das Wohnrecht und ein jährliches Wittum sowie für jedes Kind ein Alimentations- und Erziehungsgeld bis zur jeweiligen Volljährigkeit zugesprochen … Soweit Karsten Hein.
Es folgten Jahre mit wechselnden Aufenthaltsorten. Neben Weimar und Italien hielt sie sich häufig in Wien auf. Während ihrer ausgedehnten Italienreisen besichtigte sie Galerien, Museen und betätigte sich als Kunstsammlerin. Ottilie brachte es im Laufe ihres Lebens zu einer beachtlichen Kunstsammlung. Die Inventarliste ihrer Wiener Wohnungzählte hunderte von Bildern und Objekten.
Obwohl sie sich in Weimar nicht mehr heimisch fühlte, kehrte Ottilie von Goethe 1870 in die Stadt zurück und verbrachte ihre letzten beiden Lebensjahre im Goethe-Haus. 1872 starb sie an einem Herzleiden. Sie wurde im Familiengrab der Goethes auf dem Historischen Friedhof Weimar nahe an der Fürstengruft beigesetzt.