Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 1. April 2015
„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“. Dieser Goethe’sche Ausspruch stammt aus einem Gespräch mit Eckermann, und zwar am 2. April 1829. Ähnliches findet sich in den „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 863, ca. 1822).
Goethe spricht nicht von d e r Klassik oder d e r Romantik, er hat also nicht die Epochenbezeichnungen im Sinn, die wir heute verwenden. Solche Bezeichnungen entstehen ja immer auch erst später.
Hinsichtlich der Romantik findet sich bei Novalis folgende berühmte Formulierung: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen den unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Davon später.
Zunächst sei daran erinnert, dass sich der Begriff des „Romantischen“ auch als Bezeichnung für das Mittelalter findet – als Gegenpol zur Antike. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hält August Wilhelm Schlegel in Berlin Vorlesungen. Auf die „Geschichte der klassischen Literatur“, die ausschließlich die Antike zum Thema hat, folgen 1802/03 die Vorlesungen zur „Geschichte der romantischen Literatur“. Hier geht es um das Mittelalter, wozu nicht nur die „Rittermythologie“ (wie etwa das Nibelungenlied), die Romanzen und Volkslieder gehören, sondern auch die frühe italienische Literatur (Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Tasso). „Romantisch“ sind alle diese Texte wegen ihrer Universalität des Geistes, der Darstellung des Universums im Geiste des Mittelalters und wegen ihrer Richtung auf das Unendliche hin. Merkwürdigerweise nennt Schlegel jedoch nicht nur mittelalterliche Texte, sondern auch Zeitgenossen, ja sogar Goethe (!), der sich mit zahlreichen Versuchen dem Mittelalter angenähert habe, so etwa mit dem „Faust“ oder dem „Götz von Berlichingen“.
Wie verhält es sich aber nun mit Goethes Diktum „gesund“ versus „krank“?
Dazu eine ausführliche Äußerung Goethes, und zwar vom 28. August 1808 (also an seinem 59. Geburtstag). Riemer notiert, am Abend habe man sich „über das antike Tragische und das Romantische“ unterhalten. (Nirgends verwendet Goethe hier den Begriff des „Klassischen“, aber wir können den Begriff des „Antiken“ als Synonym ansehen.) Goethe setzt also das „Romantische“ mit dem „Modernen“ gleich. Damit meint er jedoch nicht nur seine Zeitgenossen.
„Das Antike“ sei „noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich.“
Weiter: „Das antike Magische und Zauberische hat Stil, das Moderne nicht. Das antike Magische ist Natur, menschlich betrachtet, das Moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches.“
„Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales, ein mit Großheit (Stil) und Geschmack behandeltes Ideales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird.“
„Das Antike ist plastisch, wahr und reell; das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne […] Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält durch die romantische Behandlung einen seltsamen wunderbaren Anstrich, wo der Anstrich eben alles ist und die Unterlage nichts.“
Und noch schärfer und unwilliger, geradezu grimmig schreibt er:
„Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen [erlernt], eine Maskerade, grelle Lichterbeleuchtung, ist humoristisch (das heißt ironisch, vergleiche Ariost, Cervantes; daher ans Komische grenzend und selbst komisch) oder wird es augenblicklich, sobald der Verstand sich daran macht, sonst ist es absurd und phantastisch.“
Jetzt wird es klar: Ganz in dem Sinne, wie es auch die Vorlesungen August Wilhelm Schlegels getan haben, setzt Goethe den Begriff des „Romantischen“ mit dem Neuen gleich, und neu ist alles, was auf die Antike folgt.
Immerhin nennt er auch Texte und Autoren, die er nicht in Bausch und Bogen verurteilt, obwohl auch sie „romantisch“ sind. Ariost ist der Verfasser des „Orlando furioso“, deutsch „Der rasende Roland“. Nicht zu vergessen: Wielands im ironisch gebrochenen Stil gehaltenes Zaubermärchen „Oberon“ wurde unter Goethes Regie am Weimarer Hoftheater als Oper aufgeführt.
Trotz einiger Missbilligung („Geschmack“ wird vermisst), hat Goethe das Nibelungenlied zumindest zeitweise geschätzt und sich intensiv mit ihm beschäftigt. Es fehlt ihm dort zugleich eine humane Projektion. Diese mittelalterliche Dichtung enthalte zwar starke Charaktere, jedoch keine kultivierte, ausgebildete Menschlichkeit; kurz nichts Musterhaftes, Vorbildliches. Da müsse man immer zu den alten Griechen zurückgehen.
Und was die zeitgenössische Literatur angeht: Hier erweist sich Goethe als übermächtige Autorität gegenüber den „Jungen“, die er ablehnt oder mehr oder weniger milde kritisiert – und die gegen ihn aufmucken.
Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat dabei immer eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension.
Dabei pflegte Goethe Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einen durchaus guten Umgang mit der jungen Generation; es fand ein lebhafter Austausch mit den Schlegels, Schelling, Tieck, Novalis und anderen statt. Und auch umgekehrt. Dennoch kam es zur Entfremdung.
Warum? Die Neuorientierung und die Bekämpfung des „Alten“ verbanden sich mit einer Tendenz, die sich immer mehr auswuchs, nämlich die Tendenz, den Wert der eigenen Vergangenheit immer stärker hervorzuheben und ihre Qualität zu behaupten. Diese Tendenz mündete anfangs des 19. Jahrhunderts in den deutschen Kleinstaaten immer mehr in national-patriotische Bestrebungen ein, die mit einer völlig unhistorischen und somit falschen Mittelalterverehrung einher gingen. Diese Tendenz musste Goethes Widerstand, geradezu Abscheu hervorrufen.
Er wendet sich gegen das Postulat einer glanzvollen deutschen Vergangenheit, die sich nicht hinter den Griechen oder Römern verstecken muss.
Angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung wächst die deutsche Einheitssehnsucht an; man glaubt, mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation schon einmal ein einheitliches Deutschland gehabt zu haben.
Insofern ist die Wiederbelebung und zugleich Glorifizierung der mittelalterlichen Literatur nicht verwunderlich. Die Auflehnung gegen Napoleon, die in den Befreiungskriegen endete, sah Goethe skeptisch, weil er zum einen einer nationalen Bewegung misstraute, zum anderen kriegerische Auseinandersetzungen als barbarisch ansah.
„Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.“ (Venezianische Epigramme)
Im Zusammenhang mit der Betonung des Deutschen als etwas Eigenem steht die romantische Bevorzugung des Volkshaften und Volkstümlichen, die sich in Sammlungen von Märchen (Brüder Grimm) und Volksliedern (Des Knaben Wunderhorn) niederschlug. Hatten Goethe, Herder und andere noch selbst in ihrer Jugend Volkslieder gesammelt und ihnen einen ursprünglichen Zauber entdeckt, so distanzieren sie sich jetzt von den romantischen Produktionen, die ihnen übertrieben und affektiert vorkommen und sich mehr und mehr in den Dienst nationalistischer Ideen stellten.
Eine weitere Ursache für die Entfremdung zwischen Goethe und den Romantikern ist auch in deren mystisch-katholisierenden Bestrebungen zu sehen. Diese standen durchaus in Zusammenhang mit der genannten politischen Idee.