Liszt und Goethe

Vortrag von Barbara Kiem, Freiburg/Breisgau, am 5. Mai 2015

Liszt war ein glühender Verehrer Goethes, wobei er ihn ausschließlich als Dichter wahrgenommen hat. Die vielen Aufsätze und umfangreichen natwurwissenschftlichen Studien Goethes hat Liszt nicht zur Kenntnis genommen.
Liszt bearbeitete eine große Zahl von Schubert-Liedern und damit auch Goethe-Gedichte, die Schubert vertont hatte, so „Gretchen am Spinnrad”. Die Schubert-Lieder und somit auch Goethes Gedichte hat Liszt durch seine Konzertreisen überhaupt erst überregional bekannt gemacht. Diese mitreißenden Paraphrasen zeugen von einem immensen Können der Übertragungstechnik und der Lust, fantasievoll und virtuos mit unkonventionellen harmonischen Wendungen zu experimentieren. Es zeigt sich schon die Tendenz, klassisch-dialektische Prinzipien zu eliminieren und die Musik diurch die Verbindung mit der Poesie zu erneuern. So bekannte sich Liszt zu einer wichtigen Intention der Romantiker: die Musikalisierung der Wortsprache, zur „gesungenen Vernunft”. Ethisches Streben, katholisch religiöse Inbrunst wurden zur eigentlichen Schubkraft seiner kompositorischen Aktivitäten.
Nach den ausgiebigen Wanderjahren, seinen „Anees de pelerinage”, so auch der Titel von drei Bänden mit lyrischen Klavierstücken, begann Lisz 1848 seine Tätigkeit als Hofkapellmeister in Weimar. Nach Goethes Tod wollte der Weimarer Hof eine Künstlerpersönlichkeit mit internationalem Ruf gewinnen. Der Weltbürger Liszt fühlte sich dem Anspruch gewachsen, das Erbe Goethes und Schillers anzutreten und so Elemente der französischen Romantik mit der Tradition der Weimarer wie auch der Wiener Klassik zusammenzuführen und in seinem Sinne produktiv weiterzuentwickeln. Die groß angelegten Feiern zu Goethes 100. Geburtstag 1849 boten Liszt Gelegenheit, seine hochgesteckten Ambitionen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Programmgestaltung zielte eben auf seine Idee: die Synthese der Künste. Liszt komponierte zu diesem Anlass eigens einen großen Festmarsch, und zusammen mit Goethes „Torquato Tasso” kam zu Goethes Geburtstag am 28. August Liszts symphonische Dichtung „Tasso” zur Uraufführung. Außerdem standen auf dem Programm: Mendelssohns Ouvertüre „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt” nach Goethe, Liszts „Chor der Engel” aus Fausts II, Schumanns „Faust Verklärung”, die 9. Sinfonie von Beethoven mit dem Schlusschor aus Schillers Ode „An die Freude” und mitten in der gewaltigen Programmfolge Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrad”, das Liszt in seinen Konzerten in ganz Europa durch seine Bearbeitungen populär gemacht hatte und das allgemein als kongeniale Vertonung eines Goethe-Gedichtes angesehen wurde.
Im Gegensatz zu Wagners Musikdrama lässt Liszt keinen äußeren Handlungsverlauf zu; ein Bühnengeschehen gehört nicht zu seiner Konzeption der „inneren Handlung”. Die poetische Chiffre garantiert die tiefere Sinnhaftigkeit des Ganzen. Die heikle Aufgabe des Komponisten ist es, sich an ein solches Programm zu binden; adäquate musikalische Gestalten zu erfinden, in die die literarischen Ideen umgeschmolzen sind, um so die Beziehungsdichte von musikalischer und poetischer Intention zu erreichen. Die Darstellungsmittel müssen äußerst präzise sein und rein im Musikalischen verbleiben.
Die Gestalt dieser charakteristischen Klanggesten ist bestimmt durch die Art, wie der Komponist sein Material behandelt. Im Prozess der musikalischen Verarbeitung wird die poetische Idee, das jeweilige ästhetische Sujet umgeprägt zum Moment der Komposition selber. Das ist nicht zu erreichen durch eine mechanistische Formeltechnik, sondern nur im subtilen Abspüren der dichterischen Absicht. Ein poetisch-philosophischer Faden soll die motivische Substanz des musikalischen Gewebes erzeugen. Die Strukturen dieses Beziehungsgeflechts – die integrierende Bewegung – bilden die Orchesterlinien, sie werden zu Bändern des Zusammenhangs.
So wollte er auch Goethes Dramen behandeln. In Bezug auf den Tasso bewunderte Liszt, wie Goethe es vermochte, die moralischen Positionen so präzise auszubalancieren; die feudalen Strukturen und die Mentalität des Künstlers, der sich nicht beugen, sich nicht unterordnen kann, der auch in seiner Liebesleidenschaft alle Konventionen durchbricht und daher von der Gesellschaft krass zurückgewiesen wird.
„Klage und Triumph” – bereits im Titel seines Werkes hat Liszt durch Hinzufügung dieser Worte ausgesprochen, was er im „Tasso” zu musikalischer Darstellung bringen wollte. Die zweite seiner symphonischen Dichtung soll – um seine eigenen Worte zu gebrauchen -, „die große Antithesese des im Leben Verkannten, im Tode aber von strahlender Glorie umgebende Genius schildern …“ – „Lamento e Trionfo“, so heißen die beiden großen Kontraste im Geschick des Poeten, von denen mit Recht gesagt wurde, dass, ob auch oft mit Fluch ihr Leben belastet werde, „nimmer der Segen ausbleibe auf ihrem Grabe”, so Liszt.
Erst nach dem Abbruch der Virtuosenzeit und der Üebrsiedlung nach Weimar begann Liszt – inzwischen 36-jährig – mit seiner sinfonischen Arbeit. Erst jetzt entwickelten sich die konkreten Vorstellungen, die zur Ausbildung seiner Idee der Sinfonischen Dichtung führten.
Der Gattungsbegriff der Sinfonie hatte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine Eindeutigkeit verloren. zunehmend erhalten Bezeichnungen wie Tondichtung, Fantasie, Seelen- oder Tongemälde Bedeutung. Die Geschichte der Sinfonischen Dichtung wird allgemein mit der Entwicklung der Ouvertüre und deren Emanzipation von der Oper in Zusammenhang gebracht. Die Werke, die Liszt als Sinfonische Dichtungen bezeichnete, speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und Anlässen. „Tasso” und „Hamlet” wurden zuerst als Ouvertüren zu den gleichlautenden Dramen Goethes und Shakespeares komponiert. Alle Sujets der Sinfonischen Dichtungen rühren an die großen Themen der Religion, Philosophie oder der Literatur, was eben von Liszts Neigung zeugt, das Erleben über den Augenblick hinaus ins Allgemeine zu transzendieren. Nach Liszt sollen die Werke der Literatur in der neuen poetischen Musik aufgehen; Musik ist die eigentliche Sprache, die höchste Poesie. Liszt will die Grenzen der musikalischen Kunst erweitern und sieht es als seinen Auftrag an, einem anspruchsvollen Publikum die Weltliteratur zu spiegeln.
Dabei werden Liszts Goethe-Lieder häufig abweisend beurteilt, so die pathetische Ausdeutung der Mignon-Gestalt. Beliebt dagegen ist „Wanderers Nachtlied – Über allen Gipfeln ist Ruh”. Oder auch „Es war ein König in Thule”.
Die Ballade klingt wie ein schlichtes Lied, das aus dem imaginären Norden Thules tönt. Liszt macht aus dem volksliedhaften Gesang eine kontrastreiche aufgewühlte Szene.
„Freudvoll und leidvoll” aus Goethes „Egmont” lag schon in einer Vertonung Beethovens vor.
Freudvoll
und leidvoll
Gedankenvoll sein
Hangen und bangen
in schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
zum Tode betrübt –
Glücklich allein
ist die Seele, die liebt.
Liszt zeichnet ein mit Dur und Moll spielendes Porträt. Bei den Worten „freudvoll” und „leidvoll” lässt er die Dur- und Moll-Variante des gleichen Klanges unvermittelt nacheinander folgen. Im Alter drängt es Liszt noch mächtiger in die Sphäre des Sakralen und zu den zeitübergreifenden mythischen Symbolen der Kunst.
Wie ein verinnerlichtes Gebet in religiös-meditativer Stimmung wirkt auch die Goethe-Vertonung „Der du von dem Himmel bist”:
Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!