Alle Beiträge von Bernd Kemter
Mehrtagesfahrt im September
Fahrt mit der Goethegesellschaft vom 08.09.-11.09.2022
Gemeinsam mit den Freunden der Goethegesellschaft Erfurt fuhren die Geraer Mitglieder der
Goethegesellschaft am 08.September mit dem Bus nach Marburg.
Auf der Fahrt machte uns Bernd Kemter mit Schriften von Wieland bekannt.
Gegen 14.00 Uhr erreichten wir Marburg. Marburg ist die acht größte Stadt Hessens und ist
Universitätsstadt. Wir besuchten das Romantikerhaus in Marburg.
Dort hörten wir einen Vortrag über die Romantiker des ausgehenden 18.Jahrhunderts.
Es war der Freundeskreis rund um Bettina und Clemens Brentano, die Grimms und Savignys, die in
Marburg die Epoche der Frühromantik prägten. Sie trafen sich im Salon, diskutierten, schrieben
Briefe, entwarfen neue Bilder von Liebe, Ehe und Freundschaft.
In den Ausstellungsräumen im Gebäude Markt 16 erzählte uns die Leiterin des Hauses im „Roten
Salon“ vom Leben der Marburger Romantiker und auch von den Romantikern des Jenaer Salons
der Romantiker – von den Gebrüder Schlegel, Novalis und Caroline Schlegel-Schelling.
In Marburg erfuhren wir auch einiges über das Leben der Heiligen Elisabeth. Elisabeth wurde
bereits als Kleinkind dem ältesten Sohn des Landgrafen Hermann von Thüringen versprochen. Den
Heiratsplänen lagen machtpolitische Erwägungen zu Grunde. Als sie ins heiratsfähige Alter
gekommen war, musste sie sich schlimme und unverhohlene Gehässigkeiten von den Verwandten,
Vasallen und Ratgebern ihres Verlobten und späteren Gemahls gefallen lassen. Diese drängten ihn
auf jede Weise, sie zu verstoßen und sie ihrem königlichen Vater zurückzuschicken. Es wurde
behauptet, sie habe eine weniger reiche Mitgift erhalten, als dem hohen Rang des Schwiegervaters
und des zukünftigen Schwiegersohnes entspreche. Aber Ludwig liebte Elisabeth und ihre Ehe war
glücklich. Er war seiner Ehefrau mit einer Treue und einem Feingefühl zugetan, die sich von den
Gepflogenheiten seiner Standesgenossen unterschieden. Bei den Mahlzeiten saß Elisabeth entgegen
den Konventionen ihrer Zeit neben ihrem Mann. Regelmäßig begleitete sie ihn auf seinen Reisen.
Aus der Ehe zwischen Elisabeth und Ludwig von Thüringen gingen drei Kinder hervor. Bereits
während ihrer Lebensjahre als Landesfürstin verrichtete Elisabeth im Dienst um Kranke und
Bedürftige schwere und damals als entwürdigend geltende Tätigkeiten. Sie spann Wolle und webte
mit ihren Dienerinnen daraus Tücher, die sie unter den Armen verteilte. Sie wusch und bekleidete
Verstorbene und sorgte für ihre Beerdigung. Ab dem Jahr 1226 half sie außerdem in dem Spital, das
sie am Fuß der Wartburg errichten ließ, persönlich bei der Pflege der Kranken und widmete sich
gezielt denen, deren Krankheiten besonders entstellend waren. 1227 hatte Ludwig das Gelübde
abgelegt, am Fünften Kreuzzug teilzunehmen und brach mit umfangreichem Gefolge auf. Die
schwangere Elisabeth begleitete ihren Mann noch bis zur Grenze Thüringens und nahm erst dort
von ihm Abschied. Ludwig zog über Hessen, Franken, Schwaben und Bayern nach Italien, um dort
mit dem Kreuzzugsheer von Kaiser Friedrich II. zusammenzutreffen. Am 12. September, kurz nach
der Einschiffung in Ortrantos, starb er an einer Infektion. Elisabeth verließ daraufhin, gemeinsam
mit ihren unmittelbaren Dienerinnen, die Wartburg. Der Priester Konrad von Marburg, ihr
Seelsorger, missbrauchte sein seelsorgerliches Amt gegenüber Elisabeth in grausamer Weise. Er
nahm ihr die Kinder weg und isolierte sie, indem er ihr ein Kontaktverbot zu ihren Freundinnen
befahl. Da Elisabeth sich durch Gelübde an ihn gebunden hatte, mochte sie sich nicht dagegen
wehren. Er peitschte sie aus und bespitzelte sie. Die Gesundheit der jungen Frau war dem nicht
lange gewachsen. Sie starb 1231 mit nur 24 Jahren. Elisabeth wurde in Marburg begraben und
deshalb gibt es in Marburg eine Elisabethkirche.
Wir fuhren an diesem Tag noch nach Wehrshausen, um dort zu übernachten.
Am nächsten Tag, am 09.September, fuhren wir nach Frankfurt am Main. Seit dem Mittelalter
gehört Frankfurt am Main zu den bedeutenden städtischen Zentren Deutschlands. Im Jahr 794
erstmals urkundlich erwähnt, war es seit 1372 Reichsstadt. Bis zum Ende des Heiligen Römischen
Reiches 1806 wurden die meisten deutschen Könige in Frankfurt am Main gewählt und seit 1562
auch die Kaiser gekrönt. Von 1815 an war die Freie Stadt Frankfurt Mitgliedsstaat des Deutschen
Bundes und zugleich dessen politisches Zentrum. Sie war Sitz der Bundesversammlung sowie
1848/49 der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt.
Wir besuchten zunächst die Paulskirche. Sie ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungs-
ort genutzter ehemaliger Kirchenbau. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann
Friedrich Christian Hess tagten 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter National-
versammlung, der ersten Volksvertretung für ganz Deutschland. Die Paulskirche gilt damit neben
dem Hambacher Schloss als Symbol der demokratischen Entwicklung Deutschlands. Aus dieser,
für die Paulskirche und die deutsche Demokratiegeschichte bedeutendsten Epoche, ist von der
Innenausstattung jedoch fast nichts mehr erhalten. Am 18.März 1944 brannte die Paulskirche nach
einem Luftangrifft aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1947/48 als erstes historisches
Gebäude Frankfurts mit Hilfe von Spenden aus allen deutschen Ländern äußerlich bis auf das
Kegeldach wieder aufgebaut. Im Inneren entstand, anstelle des früheren Kirchenraumes mit
Emporen, eine niedrige Wandelhalle mit darüberliegendem Versammlungsraum in Plenarsaal-
Bestuhlung. Der Innenraum wurde sehr schlicht gestaltet. Zum hundertsten Gedenktag der
Nationalversammlung wurde sie am 18. Mai 1948 als Haus aller Deutschen wiedereröffnet. Vom
31. März bis zum 3. April 1848 war die Kirche Versammlungsort des Vorparlaments, das die Wahl
zur Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung
zum ersten Mal zusammen. Am 28. März 1849 verabschiedete die Nationalversammlung eine
Verfassung für das deutsche Reich, die als Vorbild für die Verfassungen der Weimaer Republik und
der Bundesrepublik Deutschland diente. Die Abgeordneten boten dem preußischen König Friedrich
Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an. Er lehnte aber ab, weil er die Kaiserkrone nicht vom
Pöbel erhalten wollte. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Tafeln und Denkmäler an der
Außenfassade der Kirche angebracht, um an bedeutende Personen oder Ereignisse der deutschen
Geschichte zu erinnern. Neben dem Nordeingang der Paulskirche wurde 2002 eine Plakette des
deutschen Turnerbundes angebracht. Damit wird aus Anlass des 150. Todestages des Turnvater
Jahns die historische Verbindung zwischen der Turnbewegung und der Nationalversammlung
geehrt. An der Südwestseite der Kirche folgen weitere Gedenktafeln für Carl Schurz sowie für den
Präsidenten der Nationalversammlung Heinrich von Gagern.
Bevor wir zum Romantikerhaus und zum Goethemuseum gingen, besuchten wir ein Café und
pünktlich 13.00 Uhr waren wir im Romantikerhaus. Das Deutsche Romantik-Museum präsentiert
einzigartige Originale mit neuen modernen Ausstellungsformen, die die Zeit der Romantik
erfahrbar machen. Es ist weltweit das erste Museum, das sich der Epoche der Romantik als Ganzes
widmet. Im Dialog mit dem benachbarten Goethe-Haus sind Manuskripte, Graphik, Gemälde und
Gebrauchsgegenstände zu sehen. Das Deutsche Romantik-Museum bietet eine multimediale – im
romantischen Sinn synästhetische – Umsetzung von Ideen, Werken und Personenkonstellationen.
Das Goethe-Haus im Großen Hirschgraben war bis 1795 der Wohnsitz der Familie Goethe. „Mit
dem Glockenschlage zwölf“, wie Johann Wolfgang Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ berichtete,
kam er am 28. August 1749 zur Welt und verbrachte hier seine Jugendjahre.
1795 verkaufte Goethes Mutter das Haus.
Nach der Kriegszerstörung am 22.03.1944 wurde das Elternhaus Goethes wiederaufgebaut und mit
den erhalten gebliebenen alten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Das Goethe-Haus ist typisch
für die bürgerliche Wohnkultur im Spätbarock und lohnt einen Besuch nicht nur wegen seines
berühmten Bewohners. Der Besuch bietet einen interessanten Einblick in den Lebensstil des 18.
Jahrhunderts. Zwar entspricht die Einrichtung nicht mehr dem Original, aber man hat versucht, die
einzelnen Zimmer möglichst originalgetreu wieder herzurichten. Goethes Studierzimmer im
zweiten Obergeschoss ist ausgestattet, wie es einst war. Hier schuf der Meister den „Götz von
Berlichingen“, den „Urfaust“ und „Die Leiden des jungen Werther“. Das Goethe-Haus ist im Besitz
der Stiftung Freies Deutsches Hochstift, die auch das mit dem Goethe-Haus verbundene Goethe-
Museum betreibt. Wir besichtigten die Staatszimmer im ersten Stock, das Musikzimmer, die
Bibliothek des Vaters, das Studierzimmer im zweiten Stock und das Geburtszimmer des
Dichterfürsten mit der Taufanzeige.
Nach der Besichtigung des Goethemuseums fuhren wir nach Aschaffenburg und übernachteten im
„Goldenen Ochsen“. Nachdem wir unsere Zimmer im Hotel bezogen hatten, wanderten wir
gemeinsam zur Gaststätte „Fegerer“. Gemeint ist der Schornsteinfeger. Wir liefen vorbei am
Schloss, hatten einen wunderschönen Blick vom Schlossberg aus auf den Main und freuten uns
schon jetzt auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im Garten der Gastwirtschaft nahmen wir unser
Abendbrot ein. Nach dem Abendbrot gönnten wir uns noch einer Stunde eines gemütlichen
Beisammenseins uns wanderten danach gemeinsam zurück zu unserem Hotel.
Am nächsten Tag, am 10.September, fuhren wir nach Miltenberg. Miltenberg liegt zwischen dem
Odenwald und dem Spessart. Die Stadt liegt am Main und wir hatten eine Schiffstour auf den Main
gebucht und zwar eine Kurzfahrt von Miltenberg nach Freudenberg. Auf der Fahrt bewunderten wir
die Buntsandsteinfelsen, sahen Schwäne, Graureiher, Kormorane und zahlreiche Enten. Schön war
auch der Anblick der Burg Freudenberg. In der sehr gut erhaltenen Burg finden im Sommer
Aufführungen statt. Bestimmt hat man von der Burg aus einen fantastischen Ausblick auf
Freudenberg und den Main. Auch die Buntsandsteinfelsen bieten einen schönen Anblick. Der
Buntsandstein aus den umgebenden Bergen war bei Baumeistern sehr gefragt, zumal sich dieser auf
dem Main leicht verschiffen ließ. Am Mainufer sind auch die Weinberge zu sehen. Zu Zeiten der
Römer verlief hier der Limes. Der Main ersetzte Palisaden und Wälle. Der Main bildete einen
„nassen Limes“. Der Fluss diente genauso wie heute dem Transport, der Fischerei und dem
Holzwirtschaft. Mit den Römern kam auch der Weinbau ins Land. Nach der Schiffstour besichtigen
wir Miltenberg. Die Stadt Miltenberg entwickelte sich seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Schutze
der Mildenburg. Die prachtvollen Fachwerkbauten in der Altstadt sind sehenswert. Erhalten ist auch
ein großer Teil der alten Stadtmauer und ihrer Wehrtürme.
Mit dem Bus fuhren wir nach Aschaffenburg zurück. Aschaffenburg liegt an der Nordwestecke des
Mainvierecks an der Mündung der Aschaff in den Main und am Westrand des Spessarts. Der
Erzbischhof und Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg, residierte anfangs in Halle und
verlegte 1541 infolge der Reformation seine Residenz nach Aschaffenburg. In Aschaffenburg
befinden sich das Stadttheater, das unter Großherzog Karl Theodor von Dalberg 1811 erbaut
wurde.
Am Nachmittag dieses 10. Septembers besichtigten wir das Museum der Stiftskirche. Gezeigt
werden archäologische Funde von der Jungsteinzeit, der Römerzeit und des Mittelalters.
Erwähnenswert ist die beachtliche Sammlung römischer Funde aus den Limeskastellen am
Untermain mit einem eingerichteten Lapidarium. Präsentiert werden auch reiche Bodenfunde aus
alemannischen und fränkischen Reihengräbern des 6. bis 8. Jahrhunderts. Bedeutend ist ebenfalls
der mittelalterliche Staatsschatz mit wertvollen Objekten aus Silber, Gold und Bergkristall.
Wir bewunderten die Rekonstruktion des Magdalenenaltars aus der Werkstatt Lucas Cranach des
Älteren (Stiftsschatz). Die Altartafeln stammen aus dem Mainzer Domschatz St. Martin. Der Patron
des Bistums Mainz ist in kostbare, perlenbesetzte bischhöflichen Gewänder gehüllt. Der Kontrast
zu der armseligen Gestalt des verkrüppelten Bettlers ist recht groß. Der Bischof wirft dem Bettler
ein Almosen in die Schale und blickt dabei über den armen Bettler hinweg.
In der Stiftskirche befindet sich noch heute das prachtvolle Bronzegrabmal Albrechts von
Brandenburg, das Albrecht sich von dem berühmten Nürnberger Bildhauer und Erzgießer Peter
Vicher dem Jüngeren anfertigen ließ.
Bedeutend sind auch die erhaltenen historischen Räume des Stifts: der Kapitalsaal des 12./13.
Jahrhunderts, der „Gotische Saal“ (13. Jahrhundert), der „Paramentenraum“ mit einer farbigen
Stuckdecke aus dem Jahr 1723 sowie der ehemalige Stiftskarzer, das Kanonikerzimmer und der
neue Kapitelsaal, in dem Teile der originalen Ausstattung aus der Zeit um 1620 zu sehen sind.
Albrecht von Brandenburg wirkte in Aschaffenburg als Mäzen bildender Künstler, wobei er
besonders Lucas Cranach den Älteren umfangreich mit Aufträgen bedachte. Aus Brandenburg
brachte er viele seiner der Kirche gestifteten Kunstschätze mit. So wechselten mehrere Cranach-
Bilder und ein Reliquien-Kalender, in welchem zu jedem Tagesheiligen eine seiner Reliquien
gesammelt wurde, in den Besitz der Stiftskirche. Aus seiner neuen Residenz führte Albrecht auch
den berühmten Schriftwechsel mit Martin Luther zum Ablasshandel.
Im Anschluss an die Besichtigung des Stiftmuseums besuchen wir die „Stiftskirche St. Peter und
Alexander“. Die Stiftskirche war ein Teil eines Stifts, dessen Gründung auf den Herzog Liudolf
von Schwaben im10. Jahrhundert zurückgeht. 1814 wurde Aschaffenburg bayrisch und gehört zum
Bistum Würzburg. 1958 erhob der Papst Pius XII.das Gotteshaus zur Basilika. Im Jahr 1516 gaben
die Stiftsherren von St.Peter und Alexander bei Mathis, dem Maler, der später als Matthias
Grünewald berühmt geworden ist, Altarbilder in Auftrag. Grünewalds „Beweinung Christi“ ist ein
Meisterwerk. In fahler Todesfarbe stellt Grünewald den gemarterten Leichnam mit der Dornenkrone
dar. Parallel zum Haupt Christi sind die in Verzweiflung gerungenen Hände Marias zu sehen. Zu
Füßen von Jesus Christ sitzt Maria Magdalena, die das Leid Marias teilt. „Die Beweinung Christi“
zählt zu den herausragenden Kunstwerken der Renaissance in Deutschland. Sehenswert sind auch
der wunderschöne Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert, das ottonische Kruzifix aus dem 10. Jahr-
hundert und der „Maria-Schnee-Altar“.
17.30 Uhr gingen wir gemeinsam zur Gaststätte Fegerer“. Heute war es regnerisch, deshalb wurden
wir im Keller der Gasstätte untergebracht.
Für den Abend war ein Kabarettbesuch gebucht. Vince Ebert trat als Alleinunterhalter auf und
verglich die Deutschen und die Amerikaner miteinander. Nach der Pause machte er mit witzigen
Bemerkungen den Zuschauern den Unterschied zwischen Männern und Frauen klar.
An unserem Abreisetag, dem 11.September, trafen wir uns früh um 8.00 Uhr, um das Pompejanum
zu sehen. Wir liefen durch den Schlossgarten, der von Friedrich Ludwig Sckell angelegt wurde und
sich vom Schloss Johannisburg bis zum Pompejanum erstreckt. Wir bewunderten den
wunderschönen Arkadengang, den Blick auf den Main und den herrlichen Fernblick. Auf dem
kurzen Spaziergang kamen wir auch an dem Frühstückstempel vorbei.
Wir wussten, dass wir um diese Zeit das Pompejanum noch nicht besichtigen konnten, aber nach
dem Frühstück war das Pompejanum geöffnet. Wir wanderten also noch einmal zu dem reizvollen
Nachbau eines römischen Hauses, das sich auf dem Weinberg über dem Main erhebt und auf
Veranlassung Ludwigs I. vom Architekt Friedrich von Gärtner geschaffen wurde. Angeregt durch
die Ausgrabungen in Pompeji ließ König Ludwig I. diese ideale Nachbildung eines römischen
Wohnhauses von 1840 bis 1848 bauen, nicht als Villa für sich selbst, sondern als Anschauungs-
objekt, das Kunstbegeisterten auch hierzulande das Studium der antiken Kultur ermöglichen sollte.
Um zwei Innenhöfe, das Atrium mit seinem Wasserbecken und das begrünte Viridarium im
rückwärtigen Hausteil, sind im Erdgeschoss die Empfangs- und Gästezimmer, die Küche und die
Speisezimmer angeordnet. Für die prachtvolle Ausmalung der Innenräume und die Mosaikfußböden
wurden antike Vorbilder kopiert oder nachempfunden.
Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, konnte das Pompejanum seit 1960 in mehreren Phasen
wieder restauriert und vervollständigt werden. Seit 1994 sind hier nun zusätzlich originale römische
Kunstwerke aus den Beständen der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in
München zu sehen. Neben römischen Marmorskulpturen, Kleinbronzen und Gläsern zählen zwei
Götterthrone aus Marmor zu den wertvollsten Ausstellungsstücken. Zusätzlich finden jährlich
wechselnde Sonderausstellungen zu archäologischen Themen statt. Um das Pompejanum erstreckt
sich eine kleine, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Gartenpartie. Hier sollte eine
»mediterrane Ideallandschaft« entstehen. Wärmeliebende Gehölze wie Feigen, Araucarien,
Mandelbäume, Wein, Säulenpappeln und Kiefern prägen zum Großteil noch heute das Bild dieses
südländisch anmutenden Gartens.
Nach der Besichtigung des Pompejanums war ein Frühschoppen geplant. Wir saßen noch einmal
gemütlich beisammen, unterhielten uns bei Bier oder Wein über all das Erlebte dieser Reise.und
dankten Angelika und Bernd Kemter für die große Mühe, die sie sich mit der Organisation dieser
Fahrt gemacht hatten.
Auf der Heimfahrt las uns Bernd Kemter wieder Gedichte von Wieland vor. Dann bedankten wir
uns bei unserem Fahrer Klaus. Er hat uns hervorragend kutschiert, durch enge Gassen der
verschiedenen Städte geschleust und er verstand es auch, einem Fahrern auszuweichen, der uns
unsachgemäß von rechts überholte.
Die Fahrt hat uns allen viel gegeben. Wir haben viel gesehen und auch viel gelernt.
Unser Dank gilt vor allem Angelika und Bernd Kemter, die uns auf der ganzen Reise hervorragende
Führer waren und auch durch ihr Wissen beeindruckt haben.
Wir hoffen, dass wir noch viele schöne Fahrten mit der Goethegesellschaft erleben können.
Erika Seidenbecher
Maria Pawlowna – eine russische Zarentochter am Weimarer Hof
Vortrag von Dr.Annette Seeman am Dienstag, 6. September, 18 Uhr, Haus Dacheröden
Beinahe beste Freunde – Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe
Vortrag von Dr. Dieter Strauss, Offenbach, am 4. Mai 2022
„Alexander nötigt uns zur Naturwissenschaft“. Dieses Lob stellt das wichtigste Verhältnis zwischen Goethe und Alexander von Humboldt ins Licht. Im März 1794 besuchte der Dichter in Jena die beiden Brüder Alexander und Wilhelm, der wiederum mit Friedrich Schiller befreundet war. Aus dem Zusammentreffen dieser vier Geistesgrößen entstand die „Kleine Akademie“; ein reger Gedankenaustausch insbesondere zu naturwissenschaftlichen Fragen.
1799 bis 1804 unternahm Alexander von Humboldt seine Südamerika-Reise. Goethe hat diese Unternehmung leidenschaftlich verfolgt, alles über sie gelesen. Humboldt erkletterte den Chimborazo in Ecuador. Er gelangte im Urwald bis an die Grenze Brasiliens, das er nicht betreten durfte. Er musste sich auf die Westküste der spanischen Kolonien bis Lima beschränken. Doch durch diese Reise wurde er gewissermaßen ein Weltstar, gemäß „Faust“ (Manto in der Klassischen Walpurgisnacht): „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt!“ Hier wäre auch die große Brasilien-Expedition des Georg Heinrich von Langsdorff zu nennen, der dieses Land zwischen 1822 und 1829 bereist hat. Bei Strauss‘ Remake in den 90-ern waren wie bei Langsdorff Künstler dabei, die ihre Eindrücke in Zeichnungen und Installationen festgehalten haben. Humboldt kam 1829 auch nach Russland, bis an die mongolische Grenze.
Zurück zu Südamerika. Er reiste auch durch Venezuela, östlich von Caracas: „Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde.“ Es ging ihm nur um Erkenntnis, nicht um Geld und Gold. Humboldt hat seine Forschungsreise selbst finanziert, nur für die Russlandreise kam Zar Alexander auf. Humboldt reiste auf dem Amazonas und dem Rio Negro. Er wollte experimentieren und fragen, fühlen und schmecken. Beispiel: Die Indios konnen 15 Baumrinden-Arten mit verbundenen Augen auseinander halten. Sein Credo gemäß „Faust“:
Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Es sollen aber auch poetisch-künstlerische Darstellungen zu ihrem Recht kommen. So sieht Goethe den Alexander von Humboldt als einen Augenmenschen mit Gefühl.
Humboldt gelangt in Einbäumen bis zum Amazonas, muss aber abbrechen. Er besucht Kuba, den Nordwesten Südamerikas, Mexiko bis Washington, weilt zu Besuch beim US-amerikanischen Präsidenten Jefferson. Er folgt im Juni 1799 dem Ruf des spanischen Königs nach Teneriffa, besteigt dort den Vulkan Teide. Er ahnt schon: Alles ist in Bewegung, alles hängt ab vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit. Wenn nicht gottgegeben, bleibt die Erde gottentvölkert und der Himmel leer. Er verurteilt die Sklaverei als Schande und Unfug. Er kauft zwei Sklaven und lässt sie frei. Er bricht zum Orinoco und Rio Negro in Richtung Amazonas auf. Auch besuchte er die Curacao-Hato-Höhlen in der Karibik, die entflohenen Sklaven als Zufluchtsort dienten. Dort beobachtete er Vögel und Eulen. Den Indios gelten die Höhlen als Ort der Seelen ihrer Vorfahren, und Humboldt respektierte dies. Er besuchte die fruchtbaren Aragua-Täler und den Valenciasee in Venezuela. Dort kommt er zu dem Schluss, dass die Zerstörung der Urwälder durch die europäischen Ansiedler die Quellen versiegen lässt; zumindest nehmen sie stark ab. Er ahnt den Klimawandel. Das Gebiet wird später zum Nationalpark Venezuelas.
Im März 1800 besucht Humboldt den Orinoco, den zweitgrößten Fluss Südamerikas, die Katarakte von Atures und Maipone im Orinoco. Er besucht Höhlen, stellt dort Skelette fest, die in Körben hängen. Er stiehlt einen Schädel, schickt ihn zum Göttinger Prof. Blumenbach zur Analyse. Er stellt sich die Frage, ob es eine direkte natürliche Verbindung zwischen Rio Negro und Orinoco geben müsse. Die Geographen verneinen. Es liege ein Gebirge dazwischen. Aber offensichtlich entdeckt Humboldt einen Kanal. Auf Kuba kritisiert Humboldt das Zurückdrängen der Subsistenzwirtschaft zugunsten von Monopolpflanzen wie Kaffee und Zuckerrohr. Nun besichtigt er den Magdalenenstrom und gelangt nach Bogota.
Die großen Mühen fordern ihren Tribut. Geschwüre, Verletzungen, Atemnot stellen sich ein. Dem Chimborazo kommen sie, er und der Arzt, Botaniker Bonpland auf 5000 Metern nahe Die Träger laufen davon. „Mit der Natur lässt sich nicht spaßen.“ Beim Abstieg erblicken sie den Gipfel des Chimborazo. Es entsteht eine Zeichnung. Im Oktober 1802 gelangt Humboldt über Lima nach Guayaquil; Stadt mit dem wichtigsten Hafen Ecuadors. .Er erforscht dort den späteren Humboldtstrom. Die weitere Reise führt ihn 1803/04 nach Mexiko. Er bewundert den dortigen Botanischen Garten, verurteilt nochmals die Sklaverei. Anfang August 1804 gelangt er nach Bordeaux, seine Reise ist zu Ende. Exemplare von 2000 neuen Pflanzenarten und Hunderte Gesteine bringt er mit. Er verfasst zwischen 1807 bis 1827 dreißig Bände über seine Reise, zunächst auf französisch. Die deutsche Übersetzung ist schlecht. 1827 muss er nach Preußen zurück, er fürchtet Berlin wie die kurische Sandwüste. Aber er mischt Berlin auf. Er hält gut besuchte Vorlesungen in der Singakademie, regt die Gründung des Botanischen Gartens an. Und er organisiert 1828 in Berlin einen wissenschaftlichen Kongress. Goethe begleitet diesen Kongress „im Geiste“. Das letzte Treffen mit Goethe findet 1831 statt. 1828 war allerdings das wichtigste Treffen.
Goethes Reisen in die Neue Welt haben sich hingegen nur in sdessem Kopf abgespielt.
Kastratengenies im 18. Jahrhundert
Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen am 5. April 2022
Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert
Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.
Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)
Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?
Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.
Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.
Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,
„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).
Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).
Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.
Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:
In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die
Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“
Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.
Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.
Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.
Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)
Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:
Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.
Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.
Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.
Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.
In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.
Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.
Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.
Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.
Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.
Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:
Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,
Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.
[…]
Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,
Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]
Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,
Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]
Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,
Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.
Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.
Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:
„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!
Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?
Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?
Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.
Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).
Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.
Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.
***
Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.
Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:
„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“
Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.
Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde
Ein Geschlecht das mir gleich sei
Zu leiden, weinen
Genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich!“
In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:
Spude dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Zaudern.
Frisch, holpert es gleich,
Ueber Stock und Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!
Und die letzte Strophe:
Töne, Schwager, in’s Horn,
Raßle den schallenden Trab,
Daß der Orkus vernehme: wir kommen,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.
Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.
Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.
***
Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.
In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.
Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.
Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).
Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.
***
Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.
Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert
Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.
Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)
Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?
Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.
Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.
Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,
„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).
Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).
Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.
Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:
In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die
Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“
Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.
Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.
Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.
Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)
Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:
Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.
Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.
Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.
Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.
In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.
Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.
Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.
Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.
Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.
Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:
Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,
Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.
[…]
Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,
Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]
Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,
Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]
Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,
Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.
Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.
Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:
„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!
Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?
Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?
Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.
Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).
Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.
Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.
***
Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.
Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:
„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“
Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.
Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde
Ein Geschlecht das mir gleich sei
Zu leiden, weinen
Genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich!“
In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:
Spude dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Zaudern.
Frisch, holpert es gleich,
Ueber Stock und Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!
Und die letzte Strophe:
Töne, Schwager, in’s Horn,
Raßle den schallenden Trab,
Daß der Orkus vernehme: wir kommen,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.
Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.
Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.
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Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.
In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.
Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.
Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).
Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.
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Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.
Wenn man kein Liebchen hat, gibt’s keine Nacht mehr
Wenn man kein Liebchen erwartet, gibt’s keine Nacht mehr – Goethe und die Liebe
Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar
Zunächst gab der Referent einen Überblick über die vielfältigen Frauenbekanntschaften und Liebschaften Goethes. Der Dichter wohnte zwar am Frauenplan, so führte der Referent seinen amüsanten Vortrag weiter aus, aber er hatte keinen „Frauenplan“.
In vielen Werken spielte die Liebe eine maßgebende Rolle.Frauen und die Liebe waren für ihn stets eine Quelle literarischer Inspiration
Markantes Beispiel ist Frau von Stein. Wir können uns ein Bild von dieser Liaison machen, weil zumindest Goethes Briefe an sie erhalten sind. Die Stein hat Goethes Werben jedoch stets in die Schranken gewiesen. Offenbar war ihre Beziehung rein platonischer Natur gewesen. Aber hierzu regte sich Widerspruch. Einige Autoren vermuten, dass es dennoch eine körperlich erfüllte Liebe gab. 1781 soll sich Goethes asketisches „Noviziat“ erledigt haben. Es bleibt ebenso eine Hypothese, wie die Annahme einer verbotenen Liebe zu Anna Amalia. Die Herzoginwitwe beförderte immerhin Goethes Schaffen, im Liebhabertheater wurde Goetes „Fischerin“ uraufgeführt. Auch komponierte die Herzogin, schenkte Goethes Lustspiel „Erwin und Elmire“ ihre Musik, ebenso zum „Jahrmarktfest von Plundersweilern“ und „Paleophron und Neoterpe“.
Seine erotischen Abenteuer in Italien verarbeitete Goethe beispielsweise in den „Römischen Elegien“ und „Venezianischen Epigrammen“. Zu Ersteren, in Schillers „Horen“, erschienen merkte Gymnasialdirektor Karl August Böttiger entrüstet an, die „Horen“ müssten jetzt eigentlich mit einem „u“ geschrieben werden.
Am 12. Juli 1788 traf Goethe im Park an der Ilm eine hübsche, braungelockte 23-Jährige, in die er sich sofort verliebte: Christiane Vulpius. 28 Jahre dauerte ihre Verbindung, die ersten zehn als Liebesverältnis, die restliche Zeit als Ehebündnis. „Lass dich, Geliebte, nicht reun, dass du mir so schnell dich ergeben! Glaub‘ es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir“, versicherte er. Sie war sein „Bettschatz“ und er verbrachte viele „Schlampampsstündchen“, in ihrer intimen Geheimsprache „Schäferstündchen“ mit ihr. Sie selbst bekundete oft, sie sei „hasig“, liebeslüstern. 1792, während der Kampagne in Frankreich pries er die dortigen schönen breiten Betten. Die Betten zu Haus hatten oft zu leiden, wie diverse Handwerkerrechnungen bezeugen. Dort heißt es beispielsweise: „Bett beschlagen, 6 Paar zerbrochene Bänder.“ – Kurz darauf: „Noch ein neues Bett beschlagen zum Unterschieben.“ Goethe schreibt: „Uns ergötzen die Freuden desd echten nacketen Amors/Und des geschaukelten Betts lieblich knarrender Ton.“
Der Hof war entrüstet, dass Goethe ein einfaches Mädchen aus dem Volke geheiratet hatte. Es blühte der Klatsch, so hieß es von „Goethes dicker Hälfte“, von „Mägdenatur“ und „Blutwurst“. Nur Goethes Mutter, die von Christiane in Frankfurt/M. besucht wurde, fand Gefallen an ihr. Auch Adele Schopenhauer, die in Weimar einen Salon unterhielt, fand Goethes Frau akzeptabel, so dass man der nunmehrigen „Frau Geheimrätin zumindest eine Tasse Tee anbieten“ könne..
In ihrem Briefwechsel pflegten Beide ihre Geheimsprache. Flirten hieß „Äugelchen machen“. Christiane war oft eifersüchtig. Andererseits war es auch Goethe, denn seine Christiane war lebenslustig, tanzte gern. Als sie zur Kur weilte, mahnte Goethe: „Mit den Äugelchen geht es, merke ich, ein wenig stark, nimm Dich nur in Acht, dass keine Augen draus werden.“
Am 25. Dezember 1789 wurde Sohn August geboren. Herzog Carl August übernahm allen Klatsch zum Trotz die Patenschaft. Vier weitere Kinder starben kurz nach der Geburt.
Nach Christianes Tod 1816 fand der Dichter in Ulrike von Levetzow seine letzte Liebe. Sie sei „die lieblichste der lieblichen Gestalten“. Er, der 74-Jährige, wollte sie 1823 heiraten. Ihr wurde vom Großherzog ein reichliches Jahressalär von 10 000 Talern versprochen, sie könne die erste Dame am Hofe werden. Am 28. August 1823, zu Goethes Geburtstag, kam es zur letzten Begegnung in Karlsbad. Goethes Antrag wurde abgelehnt. Ein schmerzlicher Abschied. Aus diesem Schmerz heraus entstand die berühmte „Marienbader Elegie“. Er betrachtete sie als sein Heiligtum wie auch Ulrikes Handschuhe, die er von ihr geschenkt bekam. Ulrike von Levetzow starb 1899 mit 95 Jahren.
Konzert Schuberts „Winterreise“
Sonnabend, 19. Februar, im Gut Holzdorf bei Weimar
Zwei mächtigen Erdensöhnen – Ein neues Doppelfest für Goethe und Hegel
Vortrag von Prof. Klaus Vieweg, Jena, am 1. Februar 2022, 18 Uhr, im Haus Dacheröden
Der Beruf der Hofdame im Allgemeinen und im klassischen Weimar im Besonderen
Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, am 2. November 2021
Die weibliche Hofhaltung war ein Spiegelbild der männlichen; war der Regent fern, regierte der weibliche Hofstaat. Daher kommt auch der Begriff Frauenzimmer: „chambre de femmes“. Eine Kemenate als Aufenthaltsort für Frauen war damit also nicht gemeint, sondern Hofstaat. Hierzu gehörten neben mehreren ‚Bediensteten eben auch die Hofdamen, gewissermaßen als Gesellschafterinnen der Regentinnen. Schon früh wurden Mädchen aus adligen Familien auf diese Aufgabe vorbereitet. Ihre Tätigkeit am Hof war jedoch auch mit Heiratsabsichten verbunden, damit endete auch ihr Dasein als Hofdame. Die Ehen auf höchster Ebene wurden per Eheverträgen geregelt, sie enthielten beispielsweise Absprachen zu Mitgift, Morgengabe, Absicherung bei früher Witwenschaft und auch, wie viele Hofdamen und Bedienstete mitgebracht werden durften. Herzogin Anna Amalia, 16 Jahre, wurde zunächst eine Hofdame zugesprochen. Sie setzte durch, dass es vier wurden.
Was hatte eine Hofdame zu tun? Sie musste schön sein, geschmeidig und geistreich in der Konversation sein, loyal und jederzeit zu Diensten sein. Sie teilte das öffentliche und private Leben der Fürstin. Eine Grundübereinstimmung in vielerlei Hinsicht war vonnöten. Hofdamen mussten auch über Menschenkenntnis verfügen, so dass sie auch miteinander auskommen konnten. Hofdamen dienten auch als Vorleserinnen, ließen sich Briefe diktieren, führten Reisetagebücher. Vielfach stammten sie aus weniger begüterten adligen Familien, wurden auf diese Weise versorgt. Sie mussten Weiteres beherrschen: zum Beispiel Tanzen, Französisch, Musikinstrumente spielen, Schreiben, Geografie, Geschichte, Religion, Kunst, Literatur, allerdings genügten hierfür einfache Kenntnisse. Sie mussten allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein.
Als Anna Amalia nach Weimar kam war sie hinsichtlich ihrer Umgebung schockiert. Als sie bereits 1758 Witwe wurde, reduzierte sie ihren Hofstaat. So entließ sie aus Rachsucht den bisherigen Premierminister Heinrich von Bünau. Der hatte dem Herzog und ihr die Schatullengelder entzogen, so dass er bei Ausgaben jedes Mal gefragt werden musste. Sie schaffte einige Hofämter ab. Ihren dynastischen Pflichten ist die Herzogin trotz des frühen Todes ihres Mannes noch gerecht geworden; sie gebar ihm zwei Söhne, Carl August und Friedrich Ferdinand Constantin. Als Witwe wurde der 18-Jährigen ihr Herzogtum von den kleinen Nachbarstaaten streitig gemacht. Mit Hilfe ihres Vaters konnte sie diese Ansprüche zurückweisen. Beim Kaiser in Wien wurde sie als volljährig erklärt. Allerdings regierte sie das Herzogtum als Stellvertreterin ihrer unmündigen Söhne. Sie durfte sich auch nicht wieder verheiraten, sie hätte sonst ihr Herzogtum verloren. Zunächst hatte sie sich mit zwei Hofdamen begnügt. Auf Grund ihrer nunmehr stark gehobenen Stellung wuchsen die Repräsentationspflichten; so kamen etliche Bedienstete hinzu: zum Beispiel Kammerfrauen, geringere Kammerjungfern, Garderobenmädchen, Sekretär, Kammerlakaien, Exerziermeister (Lehrer), Mundschenk, Pagen, Küchenmeister, Kutscher. Sie stellte nun auch drei Hofdamen ein, darunter Charlotte von Schardt, die spätere Charlotte von Stein. Wie wurde die Schardt ausgebildet? Ihre Mutter war sehr fromm, dies schlug sich auch auf die Tochter nieder, sie war sehr zurückhaltend, ernst und distanziert, dabei ausgeglichen und sanft. Sie beherrschte Reiten, Tanz, Musik, Französisch. 1763 bewarb sich Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein um die 21-Jährige. Er war wohlhabend, besaß das Schloss Kochberg. Es war eine standesgemäße Partie. Das Paar wurde im Residenzschloss getraut – ein großer Gnadenbeweis der Herzogin. Anna Amalia hatte die gesamte Hochzeit ausgerichtet. Aber der Ehemann entsprach nicht den hohen geistigen Ansprüchen Charlottes. Schiller meinte über ihn: „Sein Verstand ist in täglicher Gefahr“. Und sinngemäß: Die Männer dieser Familie sind so dumm wie das Sprichwort, die Weiber indes sehr gescheit. Eine Ursache war ein Sturz des Oberstallmeisters, wobei ihm ein Splitter ins Hirn gedrungen war. Charlotte erlebte sieben recht schmerzvolle Geburten. Die vier Töchter starben, die drei Jungen überlebten, Fritz war ihr der liebste. Nach ihrer Heirat endete ihre Karriere als Hofdame, als Gast war sie jedoch bei Hofe gern gesehen.
Eine weitere wichtige Hofdame war Luise von Göchhausen, ein verwachsenes, kleines Wesen. Sie kam 1772 zu Anna Amalia. Zunächst erhielt sie kein Gehalt. Nach dem Schlossbrand 1774 zog sie mit der Herzogin ins Wittumspalais, wo sie zwei Mansardenzimmer bewohnte. Sie erweiterte ihren Handlungsspielraum, sie korrespondierte mit Goethes Urfreund Knebel und mit Goethes Mutter, die sie in Frankfurt/M. auch kennenlernte. Sie war eine sehr lustige, zu Scherz und Schalk aufgelegte Person. 1781 zog sie mit der Herzogin zu deren Sommersitz Schloss Tiefurt. Dort hatten nur wenige Menschen Zutritt, höchstens Gäste. Sie wirkte am „Journal von Tiefurt“ mit, das in vierzig Heften zu je elf Exemplaren publiziert wurde. Es versprühte vor allem den spielerischen Geist der beiden Frauen; einen künstlerischen „Dilettantismus“, wie ihn die Herzogin mochte. Auch Goethe hat daran lange Zeit mitgewirkt, zum Beispiel mit der „Ode auf Miedings Tod“ oder auch „Die Fischerin“. Nach Goethes Italienreise kam der Bruch mit dem „Dilettantismus“. Um den rang Weimars zu erhöhen, galt es nun ernstes, professionelles künstlerisches Bestreben. Mit Herzog Carl August wurde besprochen: Unser Pfand ist die Kultur nicht mehr der Dilettantismus. Aber es gab den Wunsch der Herzogin, das Theater als Intendantin zu übernehmen. Goethe und Carl August wurden sich einig, dass dies auf keinen Fall erlaubt werden dürfe. Man setzte auf großes Theater, auf große Kunst mit professionellen Schauspielern. Schillers Dramen wurden gegeben, auch Komödien. Die Schauspieler wurden bezahlt. Goethe wurde Theaterdirektor. Die Herzogin zog sich ob dieser Zurücksetzung zurück.
Herzogin Luise besaß vier Hofdamen. Nach 1800 wurde deren Besoldung hochgestuft, von 75 Reichstalern auf 330 pro Jahr. Auch die weiteren Domestiken erhielten höhere Gehälter. Daneben besaßen die Hofdamen natürlich verschiedene Privilegien: frei Kost und Logis, Deputate, Brennholz, Wachs oder Talglicht, beim Tod der Fürstin eine Pension, wobei sie allerdings ausziehen mussten. Vieles änderte sich nach 1800, alles wurde nun in Geld ausgezahlt. Man lebte gewissermaßen nicht mehr in „einer Familie“.
Die russische Zarentochter Maria Pawlowna kam 1804 nach Weimar. In 55 Kutschen wurde ihr Hausrat mitgeführt. Sie bestand gegenüber ihrem Mann Carl Friedrich auf ihren Hofstaat. Der Kompromiss, auch aus Spargründen: Zwei Hofdamenstellen wurden abgeschafft, dafür drei Hoffräulein „eingekauft“. Die verdienten natürlich weniger. Höherer Rang erforderte mehr Personal. Sie bezogen Zimmer im Schloss, wurden zu ihren Aufgaben gerufen. Sie waren gebildet. So war Ottilie von Donnersmarck eine begabte Laienschauspielerin, Julie von Egloffstein eine tüchtige Zeichnerin, Henriette von Pogwisch begründete eine französische Lesegesellschaft, in ihren Zirkeln war auch Goethe tätig. Andere waren Schriftstellerinnen oder komponierten. Maria Pawlowna gründete viele soziale und kulturelle Einrichtungen.
Der Beruf der Hofdame überlebte das gesamte 19. Jahrhundert. Auguste von Watzdorf war Hofdame bei Großherzogin Sophie. Sie erhielt 1650 Mark jährlich. Sie galt als weibliche Repräsentantin neben dem Großherzog als „Staatsdame“. Mit ihrem Gehalt war sie keineswegs zufrieden, schließlich erhielt sie 4200 Mark jährlich und eine Dienstwohnung, Personal, Equipage und einen Haushalt, der ihrer Stellung entsprach. Sie stellte sich sozialer Verantwortung, bekleidete recht selbstbewusst ihr Arbeitsverhältnis. Weniger erfolgreich war ihrerzeit Luise von Göchhausen. Sie hatte 32 Jahre lang treu gedient. Doch nach dem Tod von Anna Amalia musste sie ihre Zimmer im Wittumspalais räumen. So erfuhren die Hofdamen nicht immer eine gnädige Behandlung.
Goethes Wörterbuch. Sein erotischer Wortschatz und die Sexualdebatten seiner Zeit
Vortrag von Dr. Michael Niedermeier, Berlin, am 5. Oktober 2021
Das Akademievorhaben Goethe-Wörterbuch ist eines der ambitioniertesten lexikographischen Unternehmungen in Deutschland. Auf Grund einer Denkschrift des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt im Jahre 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Das umfassend Konzept des Goethe-Instituts kam nicht zustande; die sogenannte Berliner Akademie-Ausgabe kam über eine Reihe von 31 Bänden reiner Textausgaben poetischer Werke und Schriften zur Literatur nicht hinaus und wurde schließlich abgebrochen. Die Goethe-Biografie erschien dann losgelöst vom Gesamtprojekt in Hamburg. Nur das Goethe-Wörterbuch überlebte – wie durch ein Wunder – sogar die deutsche Teilung. Sechs wuchtige Bände von barockem Umfang liegen bisher vor. Das Wörterbuch ist frei im Internet zugänglich. 2025 soll das Gesamtprojekt beendet sein.
Goethe verfügte über einen enormen Schatz von ca. 92 000 Wörtern, weil er auch viele naturwissenschaftliche Termini benutzte. Von Luther sind etwa 23 000 Wörter überliefert, von Schiller und Shakespeare etwa 30 000, von Puschkin ca. 21 000 und von Ibsen 27 000. Und doch fehlt noch ein Teil des Wortschatze, nämlich aus dem Bereich der Erotik und Sexualität.
Goethe erkundete ausgehend von antiken Überlieferungen und diskret verwahrten musealen Sammlungen die erotisch-kosmologische Symbolik von frühen atavistischen Religionen, wie die des Kultes des Abraxas als des höchsten Allwesens. Vulva und Phallus erkennte er dabei als antike Sinnbilder des umfassenden Naturkreislaufes. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung prägten ebenso den antiken religiösen Kultus. So bezog sich Goethe in seinen „Venezianischen Epigrammen“ auf einen Sarkophag in Neapel, wenn er schreibt: „Seine Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben. Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor (…)“. Und er endet mit dem Wunsch für sein eigenes Lebensende: „Und so ziere denn auch den Sarkophagen des Dichters. Diese Rolle, die er reichlich mit Leben geschmückt.“
Neben der antik-klassischen Herkunft solcher heidnischen Fruchtbarkeitskulte idealisierten die europäischen Zeitgenossen begeistert die von Seefahrern wie James Cook entdeckten Sexualbräuche fremder Völker als Formen eines gleichsam noch naiven Verhältnisses von Kultur und Natur. Die Beobachtungen des freizügigen exotischen Sexuallebens der jungen Insulanermädchen auf Tahiti beflügelten die Phantasie. Goethe hatte in Kassel den jungen Georg Forster darüber in der Hofgesellschaft erzählen hören. Begattungsrituale waren in Tahiti Teil von öffentlich durchgeführten Zeremonialritualen, bei denen auch erstaunte Europäer anwesend waren. So berichtete der französische Südseereisende Bougainville: „Unter dem schönsten Himmel geboren, von den Früchten einer ohne Anbau fruchtbaren Erde genährt (…) kennen sie keinen anderen Gott als Amor. Alle Tage sind ihm geweiht, die ganze Insel ist sein Tempel, alle Frauen sind sein Altar, alle Männer die Opfernden. Und was für Frauen (…) Grazien in voller Nacktheit (…) die leichteste Gaze schwankt nach Wind und Begierde; der [Liebes-] Akt, seinesgleichen zu schaffen ist eine religiöse Handlung; die Vorspiele werden von den Wünschen und den Gesängen des versammelten Volkes angefeuert und das Ende wird von allgemeinem Beifall gefeiert; jeder Fremde ist zugelassen, um an diesen glücklichen Mysterien teilzunehmen.“
Goethe spielt in seiner berühmten Bearbeitung der berühmten Komödie „Die Vögel“ des Aristophanes für das Liebhabertheater auf Kochberg genau darauf an. Die komischen Haupthelden geben sich in Goethes Bearbeitung entsprechende Vogelnamen: „Otahitischer Mistfinke“ und „Großer Hosenkackerling“, beispielsweise. Kurioserweise spielte Goethe in Großkochberg sogar höchstpersönlich den Großen Hosenkackerling, während zunächst Freund Herzog Carl August, dann aber Prinz Constantin den Otahitischen Mistfinken spielen sollten.
Die breite Literatur und Pädagogik der bürgerlichen Aufklärung folgte indes der aufgeklärt daher kommenden aggressiven Sinnenfeindlichkeit und Triebregulierung, einer Kasteiung der Leidenschaften und moralischen Verdächtigung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Von dieser Zensur blieb auch Goethe nicht verschont. Den Lexikographen fehlen somit aus Goethes erotischem Wortschatz eine Anzahl von Wörtern und Sprachbildern völlig, andere konnten erst nach intensiven philologischen Recherchen teilweise wieder lesbar gemacht werden. Manche Wörter sind absichtlich aus den Manuskripten herausradiert worden. Goethes letzter Urenkel Wolfgang hatte 1885 den handschriftlichen Nachlass Goethes der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar testamentarisch überschrieben. Sie verfügte daraufhin, dass die große Weimarer Ausgabe, die sogenannte Sophien-Ausgabe, von Goethes Werken in Angriff genommen wurde. Sie sollte alle Schriften Goethes aufnehmen und dabei auch die Handschriften aus seinem Nachlass berücksichtigen. Anstößig empfundenen Verse der „Venezianischen Epigramme“ fielen dabei allerdings den scharfen Blicken, den Federmessern, Radierern und Scheren zum Opfer. Dies betrifft ebenso die nur als Handschrift vorhandenen Priapus-Verse aus den „Erotica Romana“, den „Römischen Elegien“ (ab 1788) sowie sein längeres Gedichtmanuskript „Das Tagebuch. 1810“. Teile davon verschwanden, schwer auffindbar in den Lesarten der Sophien-Ausgabe, andere wurden Jahrzehnte später, teils entschärft, im letzten Band der Werkabteilung, dem Band 53, veröffentlicht. Erst in späteren Werksausgaben, wie der Berliner, dann der Frankfurter und Münchener Ausgabe, wurden seit den 1970-er Jahren die inkriminierten Handschriften wieder mit den veröffentlichten Fassungen verbunden und lesbar gemacht.
Die „Venezianischen Epigramme“ hatte Goethe 1790 verfasst, als er im Auftrage Carl Augusts der Herzoginmutter Anna Amalia entgegen gefahren war. Anhand seiner Beobachtungen in der Stadt machte er sich lustig über die Bigotterie innerhalb der katholischen und das Schwärmertum in der reformierten Kirche lustig. Er hatte sich als Reiselektüre einen Band Martial mitgenommen und ließ sich von dessen frechen Epigrammen zu einem eigenen Vers-Büchlein anregen. Den gut versteckten Hintergrund der „Venezianischen Epigramme“, aber auch der „Römischen Elegien“ und des „Tagebuch-Poems“, vor der die gemachten erotischen Beobachtungen und Reiseeindrücke Kontur gewinnen, bildet das endlich Wirklichkeit gewordene erfüllte Liebeserleben mit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Christiane Vulpius. Nur wenige Wochen nach seinen erotischen Italien-Erfahrungen mit jener unbekannt gebliebenen Faustina, einem Mädchen, das ebenfalls aus dem einfachen Volk stammte, gelang es Goethe im höfisch und kleinstädtisch geprägten Weimar sinnliche Erfüllung und freie Lieben zu finden. Dieses intime Liebeserleben mit Christiane verklammerte Goethe mit seiner Anschauung der gesamten lebendigen Natur, reflektierte hierbei auch über Religion und Gesellschaft. Zitat: „Es „ist mein Körper auf Reisen. Und es ruhet mein Geist stets der Geliebten im Schoos.“ So heißt es gleich einführend in den „Venezianischen Epigrammen“. Der Dichter resümiert in einem ausradierten Epigramm in Bezug auf die offenbaren Folgen des anstrengenden Liebeslebens in der Stadt: „O so wisst ihr warum blaß der Venetier schleicht“.
Die Radierarbeiten ließen von den etwa 530 Versen der älteren Handschrift nur etwa 470 Verse übrig. Später konnten mehrere Verse wieder lesbar gemacht werden. Andere wiederum wurden rekonstruiert aus Textfassungen, die aus Goethes reisetagebuch stammen. Ungeklärt wird aber wohl auf immer der Wortlaut von immerhin noch etwa 30 Versen bleiben.
Für den Phallus hat der Dichter neben dem eher sachlichen „Glied“ oder „männlich Glied“ in seinen Versen auch so bildhafte benutzt wie Griffel, Rute, Pfahl, Gebein oder elfter Finger. Mehrfach hat er auch so ironisch-verhüllende wie anspielungsreiche Ausdrücke gewählt wie Knecht, Iste oder Meister Iste. Iste stammt vom lateinischen Demonstrativpronomen „ist“ und bedeutet jener, der da, dieser. Im 1810 verfassten privat-intimen „Tagebuch“-Poem ist es eben der Iste, der dem Reisenden auf dem Nachtlager mit einer nackten jungen Magd eigensinnig seinen Dienst versagt.
Wie Epikur und Lukrez negiert Goethe einen göttlichen Antrieb des Kosmos von außen. Überall in der belebten Natur erblickt er das Wirken einer sich stets wandelnden inneren generativen. Sie zeige sich als unendlicher morphologischer Prozess eines stetigen Wechsels von Anziehung und Abstoßung sowie von Freiheit und Begrenzung. In der Natur offenbare sich dieser Prozess in einem immerwährenden Liebesreigen von Zeugung, Befruchtung, Geburt, Wachstum, Vermehrung und Absterben. Hierbei vertraut er nicht auf das Symbol des Kreuzes, sondern auf die Auferstehung des „Iste“, der die innere Triebkraft nach Fortpflanzung der Geschlechter in der Natur versinnbildlicht.