Archiv der Kategorie: Rückblick

Der gedichtete Himmel – eine Geschichte der Romantik

Vortrag von Prof. Dr. Stefan Matuschek, Jena

Die Romantik war ein wahrer Innovationsschub in der europäischen Literatur. Prof. Matuschek führte hierzu als Beispiel Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“ an. Es nimmt Bezug auf Platons „Seelenmythos“ in seinem „Phaidos“. Bemerkenswert ist hierbei der Konjuktiv, in den das Agieren der Seele versetzt wird: „… als flöge sie nach Haus“.Der Konjunktiv liefert die Gewissheit, dass für uns die Welt auf Trost und Ruhe hinauslaufen kann.

Das Neue daran: Es sind zwar nur Vorstellungen, dennoch sind sie durchaus wirksam. Menschen leben auch in ihrer Einbildungskraft. Sie fragen sich zum Beispiel: Gibt es ein Schicksal? All diese Fragen können nicht durch unsere Vernunft beantwortet werden. Somit liegt die Romantik zwischen Relität und Vorstellungskraft.

Nach dem Topos der Aufklärung dürfen jedoch Wirklichkeit und Vorstellung nicht miteinander verwechselt werden. Nach ihr gibt es Realisten und Schwärmer. Die Romantik schafft jedoch einen dritten Topos, dass sie nämlich in der Vorstellung lebt und dabei Lebenswirklichkeit wird.. Sie schafft eine Heimat und richtet den Blick in die Unendlichkeit. Die Spannung zwischen Realität und Vorstellung gerät zu einem kontinuierlichen Thema in der Weltwahrnehmung. Es handelt sich um eine religiös geprägte Naturwahrnehmung, die die Natur als Gottheit verehrt. Wir versuchen, das Unendliche zu denken, es uns vorzustellen. Dabei erleiden wir „süßen Schiffbruch“.

Es geht also immer um die ganz großen Fragen. Es entfaltet sich ein großes Sinnbedürfnis, das empirisch nicht zu befriedigen, noch rational zu überprüfen ist. Somit gerät der Mensch in „metaphysische Obdachlosigkeit“. Die Romantik will genau diese Obdachlosigkeit aufheben. Die natürliche Religiosität kennt dabei keinen Fanatismus wie in anderen Religionen, wo deren fundamentalistsche Protagonisten genau zu wissen meinen, was Gott verlangt.

Die Romantik gestaltet die Wirklichkeit anders. Sie erfasst ebenso das Wunderbare. Das Wunderbare wird dabei nicht hinterfragt, es ist selbstverständlich da.

Goethe erwies sich als wichtiger Anreger der europäischen Romantik. Sein „Erlkönig“ gehört ebenso hierher. Ein weiteres wichtiges Beispiel romantischen Gedankenguts ist E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. Der Junge Nathanel verbindet das Erscheinen eines alten Mannes stets mit der Forderung, er müsse ins Bett, da der Sandmann erscheine. Er fragt nun, wer der Sandmann sei. Seine Wärterin antwortet ihm, dies sei ein großer Raubvogel, der zu frechen Kindern komme, die nicht ins Bett wollen, und der picke ihnen die Augen aus.

Die literarische Romantik simuliert die Lebenswelt. Man lebt in seinen Vorstellungen. Aber dieses Leben kann mitunter pathologisch sein, wie der „Sandmann“ beweist.

Einher geht auch eine Wiederbelebung des Mittelalters. Walter Scott hat diese Literatur des historischen Romans mitbegründet. Somit sorgte die Romantik für eine Erfolgsgeschichte des Romans. Der Prosaroman kommt ohne Theorie aus, schuf aber auch den Briefroman, in dem erstmals auch unglückliche Liebe gestaltet wird. Friedirch Schlegel meinte, es handele sich um eine Epoche wie in einem Roman. Wieland gebraucht diese Wendung. Abenteuer- und Ritterromane bekommen Konjunktur. Es ist ein Aufbruch ins Neue, das sich aller Fesseln entledigt.

Zu diesen Fesseln gehört Gottscheds Regelwerk. Goethe hat den Verteter des Ancien regime noch in Leipzig besucht. Mit seinem „Werther“ befeuert er die moderne Entwicklung. Ein Beispiel ist ebensso Rousseaus Roman „Die neue Heloise“

In Goethes „Götz von Berlichingen“, selbst im Faust finden sich romantische Bezüge. Es sind auch Grotesken an sich. Dafür steht beispielsweise der verhinderte Selbstmord von Faust. Von der Tat hält ihn der Klang der Osterglocken ab, die Erinnerungen an die Kindheit wachrufen. Er wird nun aber nicht wieder gläubig, sondern sentimental. Von Hexen ist die Rede und vom Teufel (Mephisto). Kein Leser des „Faust“ glaubt an den Teufel. Sein Nihilismus kommt viel farbiger als in der realen Welt daher. Das Erlebnis wird zu „schäumender Gotteslust“ und bestimmt den Fortgang der Handlung. Eine Ästhetisierung und hohe Spiritualität kennzeichnet das Werk. Dazu gehört die schöne Vorstellung, dass das Leben in Gottes Hand sei. Man kann dies als Gewissheit nehmen oder – als Vorstellung.

Ein Wesen voller Geist und Wunder – Adele Schopenhauer

Vortrag von Claudia Häfner, Weimar, am 3. September 2024

Es gab 2019 eine Ausstellung über sie, lange zuvor, 1975 wurden ihre Tagebücher verfilmt. Sie galt lange als Egomanin, schien vom Schicksal als die Unglückliche verurteilt. Sie kam 1797 in Danzig zur Welt. Ihr Vater verlor bei einem Sturz vom Dach das Leben. Ihre resolute Mutter Johanna zog mit ihr 1806 nach Weimar, während Bruder Arthur des Studiums wegen in Hamburg blieb. Mutter Johanna, die in Weimar recht wohltätig handelte, wollte einmal um ihren Teetisch alle großen Geister Weimars versammeln. Goethe gesellte sich der Runde bei. Amüsiert schrieb er, wie die kleine Adele einmal versuchte, den Rock des Kunsthistorikers Johann Heinrich Meyer anzuzünden.

Goethe wurde als Vaterfigur vereinnahmt. Ihre künstlerische Begabung wird gefördert. Sie zeichnet Blumenbilder, nimmt an der Weimarer Zeichenschule teil. Sie lernte Italienisch, Französisch, Englisch, neben dem Malen und Zeichnen musizierte sie und übte sich an Handarbeiten. Rasch schloss sie Freundschaft mit Ottilie von Pogwisch, der späteren Schwiegertochter Goethes. Mit ihr las sie Werke berühmter Dichter, so von Shakespeare, Calderon, Tasso, Tieck, E.T.A. Hoffmann und anderen. Randornamente entstehen, vor allem aber Scherenschnitte und Arabesken.

Adele Schopenhauers Scherenschnitte, für die sie höchste Anerkennung erhielt, sind bezaubernde Welten, in denen anmutige Gestalten in einem Traum ewiger Schönheit schweben.

Goethe zeigte sich begeistert. Vom bezaubernden Scherenschnitt „Local zu Adelens Zwergenfest“ schrieb er in seinem Tagebuch und verwies damit auf seine Mitarbeit an der figurativen Interpretation seiner Ballade „Hochzeitslied“ (Der Graf und die Zwerge). Balladeninhalt: Der Graf von Eilenburg kehrt nach einem Krieg auf sein Schloss zurück und findet dort dank einer Hochzeitsfeier von Zwergen sein Glück wieder.

1820 tritt Adele in eine neue Lebensphase ein. Die Idylle um „Vater“ Goethe erweist sich als brüchig. Familiäre, gesellschaftliche Probleme treten in den Vordergund. Bruder Arthur entfremdet sich der Familie. Nach dem Wiener Kongress setzen sich die alten Standesunterschiede wieder durch. Die Kluft zwischen Adel und Bürgertum vertieft sich. Das Leben verdüstert sich.

Dennoch: 1817 gründeten Adele Schopenhauer, Ottilie von Pogwisch und Caroline von Egloffstein den „Musenverein“, eine eigene kleine literarische Gesellschaft. Die Freundinnen nannten sich „Adel-Muse“, „Tille-Muse“ und „Muse-Line“. Sie diskutierten ihre Erzählungen, Dramen oder Gedichte, die für gut befundenen Arbeiten wurden gesammelt, aber nicht veröffentlicht. Ein eigenhändiges Manuskript im Nachlass der Familie Frommann enthüllt wahrscheinlich ihre erste bewusste Publikation: das Märchen „Farben und Töne“. Schlag Mitternacht öffnet die glückliche Welt der Elfen ihre Pforten für ein Kind, der Erzähler-Ich der Geschichte, und zeigt ihre phantastische Schönheit und Harmonie. Aber alles mündet in einen Alptraum …

Den erlebte Adele selbst. Die unerfüllte Liebe zu dem Chemiker Gottfried Osann, ihre von dem jungen Studenten Louis Stromeyer nicht erwiderten Gefühle und die soziale Isolation brachten sie an den Rand einer Depression. Sie beschloss daher, Weimar zu verlassen, dies auch aus finanziellen Gründen. Auf der Suche nach einer neuen Wohnung lernte sie 1828 Sibylle Mertens-Schaaffhausen kennen, die ihrem Leben eine jähe Wendung geben sollte. Die Sammlerin, Mäzenin und Musikerin führte in Bonn einen einflussreichen Salon und besaß mehrere Anwesen am Rhein. Sofort entwickelte sich eine innige Freundschaft. So kam es, dass Adele mit ihrer Mutter den Zehnthof in Unkel am Rhein beziehen konnte. Ab 1832 wohnten sie nur noch in Bonn. Die enge Beziehung zum „gütigen Vater“ in Weimar lebte im Briefwechsel fort. Sie durfte ihn um Autographen, und Medaillen bitten und vermittelte Mineralien, Altertümer, Bücher und Radierungen. Goethe: „Möge es unter uns noch lange beym Alten bleiben.“ Auch die vertraute Beziehung zu Ottilie von Goethe dauerte fort. Adele beteiligte sich an deren mehrsprachigen Zeitschrift „‚Chaos“, die aus den Aktivitäten des Musenvereins hervorgegangen war. Adele veröffentlichte ihre Beiträge, auch die zusammen mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen verfassten, anonym oder unter dem Namen Viator.

Mit Annette von Droste-Hülshoff trat eine Dritte in den Freundschaftsbund. Ein interessanter Briefwechsel begann.

Dennoch erwies sich das Leben am Rhein als engstirnig und provinziell. Hinzu traten finanzielle Sorgen. Von den ökonomischen Zwängen erdrückt, erbat Mutter Johanna von Großherzog Carl Friedrich und Großherzogin Maria Pawlowna eine Pension, die ihr ermöglichte, nach Weimar zurückzukehren. Sie nahm ihren letzten Wohnsitz in Jena und starb dort 1838.

Adele begann nun zu reisen. Um dies finanzieren zu können, begann sie eine Karriere als Arabeskenmalerin. 1838 sandte sie an ihren Düsseldorfer Freund Immelmann eine außergewöhnliche Umsetzung einer Komposition vomn Wolfgang Maximilian von Goethe, die „Galoppade der Vögel“, die sie in ein ironisches gesellschaftskrtisiches Bild verwandelt hatte.

Mit dem jüngeren Enkel Goethes Wolfgang Maximilian schrieb sie das Drama „Erlinde“. Der Text basiert auf der thüringischen Sage von der Ilm-Nixe. Adele arbeitete zugleich als Literaturkritikerin.1844 erschienen bei Brockhaus die „Haus-, Wald- und Feldmärchen“, wo sie das erste Mal unter ihrem richtigen Namen auftritt. Es ist heute wohl das bekannteste Werk Adele Schopenhauers.

1844 begab sich Adele zu ihrer Freundin Schaaffhausen nach Italien. Die arbeitete dort als Archäologin. Von Genua ging es nach Rom. Noch vor ihrer Abreise hatte Adele dem Brockhaus noch ein weiteres Manuskript geschickt: „Anna. Ein Roman aus der nächsten Vergangenheit“.Dort nimmt sie das von ihr schon behandelte Thema der weiblichen Selbstbestimmung und des Einflusses der historischen Ereignisse auf die individuele Entwicklung wieder auf. Sie war zudem als Auslandskorrespondentin tätig. In Italien verfasste sie auch ihren letzten Roman: „Eine dänische Geschichte“. Auch schrieb sie – eine Innovation – einen Reiseführer über Florenz. Der richtete sich vor allem an reisende Frauen.

Geschwächt von einem Unterleibstumor kehrte sie 1848 zu Sibylle nach Bonn zurück. Sie starb dort 1849.

Werther-Motiv bei in- und ausländischen Dichtern

Ersatz-Vortrag (künftig auch Power point) von Bernd Kemter, Gera, am 14. Mai 2024 – geplanter Vortrag von Prof. Drux, Köln, musste krankheitsbedingt entfallen

,Zunächst: Goethes Werther-Motiv fand seinen Niederschlag auch in musikalischen Werken. So schuf Jules-Massenet seine Oper „Die Leiden des jungen Werther“. 1792 komoponierte Rodolphe Kreutzer eine komische Oper „Charlotte et Werther“. Georges Duvals „Werther ou Les egarements d’un coeur sensible“, eine Vaudeville, also ein revueartiger Liedyklus, wurde im Pariser Theatre des Varietes seit 1817 mehrere Jahre lang erfolgreich aufgeführt. Doch wollen wir uns heute ausschließlich mit der Adaption des Werther-Motivs bei einigen deutschen und ausländischen Dichtern beschäftigen.

,Zunächst ein kurzer Blick in die polnische Geschichte. Polen erlitt ein tragische Schicksal. Es wurde dreimal geteilt, 1772, 1793 und 1795 – zwischen Russland, Österreich und Preußen. Mit dem Wiener Kongress gab es gewissermaßen noch eine vierte Teilung. Dennoch blieb der Gedanke nationaler Einheit stets lebendig. So gab man sich am 3. Mai 1791 eine Verfassung, noch vor dem französischen Code Napoleon.

Immer wieder haben Polen versucht, ihren Staat wiederherzustellen. Immer wieder gab es Aufstände, so 1794/95, im November 1830, den bedeutendsten, dann 1848 und der letzte im Januar 1863, der blutig niedergeschlagen wurde. Nach diesen vergeblichen Versuchen verzichtete man auf militärische Auseinandersetzungen, beschränkte sich auf die Pflege der Sprache und Kultur, die katholische Kirche begleitete aktiv diesen nationalen Gedanken. Dann, nach dem Ersten Weltkrieg entstand der polnische Staat erneut. Damit wollen wir es bewenden lassen.

Immerhin interessierte sich auch Goethe für polnische Dichter, einige haben ihn sogar besucht. Doch dabei blieb es nicht. Er selbst bereiste – im Gefolge seines Herzogs während der schlesischen Kampagne – polnische und schlesische Gebiete. Es blieb 1790 bei seiner einzigen Reise. Später äußerte er, sein Alter verbiete ihm einen neuerlichen Aufbruch, wenn jedoch Polen ihn besuchen kämen, sei dies eine willkommene geistige Reise.

,Jetzt kommen wir zum Thema: Das Werther-Motiv im Spiegel einiger in- und ausländischer Dichter

Goethes „Werther“ inspirierte gleich mehrere Dichter, sich mit dem Schicksal des jungen unglücklich Verliebten in eigenen Werken auseinanderzusetzen. Der Vortrag weist diesen Umstand an Beispielen von Hölderlin, Lenz, Rilke, Stendhal, Mickiewicz und Lord Byron, italienischen und französischen Autoren nach.

Spuren des Werther-Motivs finden sich beispielsweise in Rainer Maria Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Der 18-jährige Adelige kämpft gegen die in Ungarn eingefallenen Türken. Vor der entscheidenden Schlacht übernachtet der Fahnenträger mit seiner Kompanie in einem Schloss. Dort verliebt er sich in die Gräfin, verbringt mit ihr eine Nacht im Turmzimmer. Währenddessen stecken die angreifenden Türken das Schloss in Brand. Der Cornet rettet die Fahne, wird jedoch inmitten der Feinde getötet. Die lyrisch-impressionistische Prosa beschreibt die Gefühle von Jugend und Lebenshunger, Liebe und Tod.Einige Motive sowie die Tagebuchform verweisen auch in Rilkes Briefroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ auf den unglücklichen Werther.Es zeigt sich, dass die Bewältigung dieses anspruchsvollen Themas durchaus unterschiedliche, ja motivisch abweichende Versionen zeitigte. ,Setzen wir also mit Adam Mickiewicz fort, dies auch deshalb, weil der berühmte polnische Dichter fast selbst ein Werther-Schicksal erlebt hätteIm Versroman „Dziady“ Vorväter, Urahnen), übersetzt zumeist als „Totenfeier“. Die Fabel handelt von Gustaw, der angewidert von der Leere und Eitelkeit seine Jagdgesellschaft verlässt, sich in die Wildnis begibt, um eine ersehnte Geliebte zu besingen. Weil er sie nicht mehr findet, gibt er sich enttäuscht den Tod.

Darin heißt es in einfacher prosaischer Übersetzung:

Und sie ist so zärtlich, so schön berührend.

Wie Frühlingsflaum im Gras, das von den Zephyrwinden

weggeweht und von frühem Tau überglänzet wird.

Jeder meiner Gefühle wird sie augenblicklich rühren.

Jedes scharfe Wort würde sie verletzen. (Dies sei ferne von mir.)

Doch ihre Freude verdämmert im Schatten meiner Traurigkeit:

So erkannten wir die Gefühle des anderen in unserer gemeinsamen Seele.

Was der eine dachte, erriet der andere.

Alles Sein ist eng miteinander verbunden,

Wir schauten unsere Gesichter im Spiegel an

Wir sahen unser Herz, als stünde es an einem steilen Hang.

Was für ein Gefühl blitzte vor meinen Augen auf

augenblicks wie ein Lichtstrahl

es dringt in ihrem Herzen ein

und das Leuchten kehrt in mein Auge zurück

Oh ja! Ja, ich habe sie geliebt!

Wirst du nun aus Angst die Maske der Verdammten

auf das Antlitz deiner Geliebten setzen?

Ich erlaube mir, Sie in diesem Zusammenhang auf meine Erzählung „Kalliopes Sturmvögel“ aufmerksam zu machen, in der besagte Werther-Bezüge eine wichtige Rolle spielen, jedoch ebenso Goethes Streifzug 1790 durch Schlesien und Polen sowie zeitgeschichtliche politische und militärische Ereignisse; Themen, von denen bereits die Rede war. Dies nur nebenbei..

Mickiewicz erzählt auf meisterhafte Weise Leid und Qual der unglücklichen Liebe seines Haupthelden, die verzweifelten Kämpfe eines gebrochenen Herzens, die wie im „Werther“ im Selbstmord enden. Gustaw erscheint nun als ein zu ewigen Qualen verurteiltes Gespenst. Hier beginnt nun die Totenfeier mit der Geisterbeschwörung. Der Werther-Handlungsstrang wird jetzt verlassen, dafür tauchen verwandtschaftliche Beziehungen zu Goethes „Faust“ und „Hermann und Dorothea“ auf. Was nun das Werther-Motiv betrifft, so hatte Mickiewicz ganz offensichtlich sein eigenes Schicksal vor Augen. Er selbst sieht sich als Werther, seine geliebte Maryla als Lotte. Deren Verlobter Wawrzyniec Puttkamer weist auf Albert hin, einen Menschen, den der Liebhaber Marylas duchaus achten muss. Maryla schwört indes auf die ,poetische Seelengemeinschaft‘ mit Mickiewicz, für die Ehe scheint ihr Puttkamer besser geeignet.

Er trägt sich zunächst wie Werther mit Selbstmordgedanken, doch dann entscheidet er anders. Ein Duell soll entscheiden. Mit Józef Łoziński, einem Freund, begibt er sich zu Puttkamer, um ihn auf Pistolen zu fordern. Sie treffen das Paar während eines Spaziergangs. Maryla spricht freundlich mit dem Verliebten, fasst ihn bei der Hand, wandelt mit ihm durch den Park. Mickiewicz scheint das Duell völlig vergessen zu haben. Er und sein Begleiter werden als Gäste sogar ins Herrenhaus eingeladen. Doch in der Nacht weckt Mickiewicz seinen Freund, sie schleichen aus dem Haus und kehren nach Vilnius zurück. Der Dichter hat sich sehr ob seiner ursprünglichen Absicht geschämt und Łoziński gebeten, über die peinliche Angelegenheit kein Wort verlauten zu lassen. Doch sein Freund hat sich an sein Versprechen nicht gehalten. Anderenfalls hätten wir ja von der misslichen Affäre nichts erfahren. Unglückliche Verliebte, sie sind tragische und komische Figuren zugleich im turbulenten Spiel der Welt.

Zu jener Zeit, als Mickiewicz seine ,Totenfeier‘, die ,Dziady‘, schrieb, hat Mickiewicz überaus gründlich Rousseaus Briefroman ,Die neue Heloise‘, Lord Byrons Gedicht ,Manfred‘ und natürlich vor allem Goethes ,Werther‘ gelesen und sich von allem inspirieren lassen. Übrigens: Ein anderer Dichter, nämlich Kazimierz Brodzinski hat den „Werther“ ins Polnische übersetzt.

Anrührend ist das Drama Lord Byrons „Manfred“.

„Manfred“ (1817 entstanden) ist ein dramatisches Gedicht, in dem der Titelheld sich die Schuld am Tod seiner Geliebten Astarte gibt und als einzigen Ausweg aus diesem Unglück seinen eigenen Tod betrachtet. Mit überirdischen Fähigkeiten gesegnet, ruft er magische Wesen zu Hilfe, die ihm das Sterben ermöglichen sollen.. Diese weigern sich jedoch, ihn von seiner Bürde zu befreien und stellen ihn vor scheinbar unüberwindbare Hürden, die er für die Erfüllung seines Wunsches bezwingen muss. Manfred verzweifelt – wie Goethes „Faust“ – an seiner ungenügenden Welterkenntnis, er verschreibt sich finsteren Mächten, treibt okkulte Experimente in dunklen Nächten. Und er hat eine Geliebte, Astarte, wie Faust sein Gretchen. Er verfällt den teuflischen Mächten, wird aber von der Hölle erlöst.

Byron verfasste das metaphysische Drama nur kurze Zeit, nachdem die inzestuöse Liebesbeziehung zu seiner Halbschwester Augusta bekannt geworden war, in deren Folge seine Ehe zerbrach und er vor den Schmähungen der Londoner Gesellschaft in die Schweiz fliehen musste. Da die Hauptfigur ebenfalls eine verbotene Beziehung pflegt und an ihren Schuldgefühlen zu zerbrechen droht, sahen viele Kritiker in dem Stück ein persönliches Bekenntnis Byrons.

Kommen wir nun zum Friedrich Hölderlin und seinen Briefroman „Hyperion“

„Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ ist der Roman eines jungen Griechen des 18. Jahrhunderts, der eine Wiedergeburt der großen Vergangenheit seines Volkes ersehnt und mit seinen Versuchen, die Würde und Schönheit der antiken Gesellschaft zu erneuern, scheitert. Der Aufstand der Griechen gegen das türkische Joch vom Jahre 1770 bildet den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Geschehens. Hyperion bekennt seinem deutschen Freund Bellarmin in Briefen sein Schicksal.

In der Liebe zu Diotima auf der Insel Kalaurea gesundet Hyperion und findet zu sich selbst. Diotima fordert ihn auf, sich seiner vaterländischen Pflichten bewusst zu sein: „Du wirst Erzieher unsers Volks!“ Der Aufstand gegen die Türken trennt die Liebenden. Voll Zuversicht zieht Hyperion mit seinem Lehrer Alabanda in den Kampf für einen Freistaat der Schönheit und Harmonie und muss erleben, dass seine Kampfgefährten nach dem Sturm auf Misistra, das alte Sparta, plündern und morden. Hyperion sucht den Tod; Diotima stirbt; die Ideale erweisen sich als trügerisch.

Die Prosa des „Hyperion“ hat die Sprachgewalt der gebundenen Rede, die Ausdruckskraft hymnischer freier Rhythmen. Von unvergänglicher Schönheit sind die Schilderungen der griechischen Landschaft und die Liebesbriefe Hyperions und Diotimas. „Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.“

Jakob Michael Reinhold Lenz folgte dem Werther-Motiv mit seinem Briefroman „Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden“. Dieser Verweis gilt jedoch nur bedingt, wenn man die gesamte Handlung überblickt. Herz, der Waldbruder, lebt in seiner Phantasiewelt. Er sucht nach einer Geliebten wie Goethes Werther, hat jedoch nur wenig Glück bei den Frauen. Als er an ein Mädchen gerät, das er leidenschaftlich liebt, ertappt er sie mit einem Rivalen. Er zieht sich nun aus einem weiteren Grund in Waldeinsamkeit zurück, nachdem er nämlich von einer vermögenden, aber hässlichen Hauswirtin mit Intrigen umsponnen wird. Immerhin: Das Fragment wurde von Goethe huldvoll aufgenommen, er ließ es 1797 – fünf Jahre nach dem Tode des Dichters – in der Zeitschrift „Die Horen“ drucken.

Kommen wir nun zu Stendhals Roman „Rot und Schwarz“.

Zum Inhalt des zweiten Buches: Julian, Sohn aus ärmlichen Verhältnissen, als Hauslehrer immerhin empor gestiegen, lernt schnell, die ihm übertragenen Aufgaben gut zu erfüllen, und gewinnt Vertrauen und Anerkennung seines Dienstherren. Einen großen Teil ihrer Zeit verbringt die adelige Gesellschaft um Marquis de la Mole, Pair von Frankreich, in den Salons von Paris, zu denen auch Julian aufgrund seiner Tätigkeiten für den Marquis Zugang hat. Dort wird die glänzende Erscheinung Mathildes, der jungen Tochter des Marquis, von einigen Adeligen umschwärmt. Mathilde jedoch ist von diesen Verehrern gelangweilt. Julian interessiert sich zunächst nicht für Mathilde. Er bleibt ihr fern, aus Angst, sein Stolz könnte von ihr verletzt werden. Gerade dieses Desinteresse ist es, das Mathildes Eitelkeit reizt. Sie stellt sich vor, Julian könnte ein neuer Danton sein, ein revolutionäres Genie im Gegensatz zu den einförmigen und aus ihrer Sicht nicht mehr von dem Heldenmut ihrer Vorfahren beseelten adeligen Verehrern. Sie verliebt sich in ihn und schreibt ihm einen Liebesbrief. Julian glaubt aber zunächst an eine Falle der Adeligen, die dazu dienen solle, ihn zu kompromittieren. Sein Begehren, das sich zu einer leidenschaftlichen Liebe steigert, muss er Mathilde gegenüber allerdings immer wieder maskieren, um sich als Dandy ihr Interesse zu sichern.

Mathilde stürzt sich immer tiefer in die Liebe zu dem nicht adeligen, mittellosen Julian, obwohl dies völlig gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstößt, die sie selbst so hoch achtet. Als sie schwanger wird, entschließt sie sich, ihrem Vater die Beziehung zu gestehen. Dieser ist entsetzt über den Verrat des von ihm geschätzten Julian. Trotzdem will er nach einigem Ringen Julian eine falsche Identität als adeliger Offizier geben und in die Hochzeit einwilligen, um den Ruf seines Hauses nicht zu gefährden.

Als der Marquis de la Mole jedoch Erkundigungen über Julians Vorleben einholt, erhält er einen Brief von Madame de Rênal, in dem sie Julian als Herzensbrecher schildert, der es auf das Geld reicher Frauen abgesehen habe. Madame de Rênal hat sich wegen ihres Ehebruchs mit Julian zwischenzeitlich tief in Reuegefühle verstrickt und hat den Brief von ihrem Beichtvater diktiert bekommen – einem Jesuiten, der aus Karrieregründen dem Marquis de la Mole gefallen möchte. Als Julian von diesem Brief erfährt, der kurz vor dessen Verwirklichung seines alten Traums von einer Karriere als Offizier und seinem gesellschaftlichen Aufstieg zerstört hat, reist er nach Verrières und schießt dort auf Madame de Rênal.

Madame de Rênal erholt sich von ihrer Verletzung und söhnt sich mit Julian im Gefängnis aus. Er erkennt dort, dass sie die einzige ist, die je wirkliche Liebe für ihn empfunden hat. Mathilde, die auf Madame de Rênal sehr eifersüchtig ist, wird nun von Julian verachtet. Beide ihn inbrünstig liebende Damen lassen derweilen nichts unversucht, sein Leben doch noch zu retten. Julian will jedoch lieber sterben, als mit der Schmach dessen, was er getan hat, leben zu müssen, und verletzt die Geschworenen durch eine ehrliche Rede so in ihrer Ehre, dass sie ihn zum Tod verurteilen. Mathilde kann hernach das abgeschlagene Haupt ihres Geliebten mit einem großen Aufwand in den Bergen um Verrières feierlich bestatten. Madame de Rênal hatte zwar gelobt, sich um Julians noch ungeborenes Kind zu kümmern. Aber sie stirbt drei Tage nach Julian in den Armen ihrer Kinder.

Ein Italiener hat sich ebenfallsmit dem Werther-Motiv beschäftigt, worauf dankenswerterweise Anne Bohnenkamp-Renken vom Goethehaus Frankfurt auf meine Nachfrage hinwies. Sie nannte – neben dem soeben besprochenen Stendhal – auch weitere französische Autoren.

Zunächst soll uns der Briefroman „Ultime lettere di Jacopo Ortis“ von Ugo Foscolo ein wenig beschäftigen. Der fiktionale Herausgeber Lorenzo Alderani erklärt in einer Vorrede an den Leser, er präsentiere im Folgenden die Briefe seines Freundes Jacopo Ortis, um der unbekannten Tugend ein Denkmal zu errichten. Der Leser weiß so von Anfang an, dass Ortis inzwischen verstorben ist. Die nun folgenden Briefe erstrecken sich vom 11. Oktober 1797 bis zur Nacht vom 25. auf den 26. März 1799. Es sind ausschließlich diejenigen von Ortis, Alderani fügt lediglich, vor allem zum Ende hin, einige für das Verständnis notwendige Erläuterungen ein.

Jacopo Ortis ist ein junger Venezianer, der geglaubt hatte, dass Napoleon das zersplitterte Italien einigen würde, was sich nach dem Frieden von Campo Formio als Illusion erweist (hier gibt es übrigens Parallelen zu Stendhals Roman „Die Kartause von Parma“, ein junger Idealist schließt sich Napoleons Treuppen an). Schon wenige Tage zuvor geht der junge Patriot, dem Verfolgung droht, ins Exil in die Euganeischen Hügel. Dort beginnt er gleich, seine Briefe zu schreiben. Im Exil lernt er Teresa kennen, die Tochter eines venezianischen Aristokraten, und verliebt sich in sie. Auch wenn sie seine Gefühle erwidert, muss sie ihr Versprechen einlösen, den vermögenden Odoardo zu heiraten. Es bleibt bei einem einzigen Kuss. Nach einer ergebnislosen Aussprache mit ihrem Vater reist Ortis durch Norditalien und besucht Stätten, die wichtig sind für den Ruhm der italienischen Nation, wie Florenz, wo er ehrfürchtig vor den Gräbern von Galileo, Machiavelli und Michelangelo steht, oder wie Ravenna, wo er die Urne des „Vaters Dante“ umarmt. Er leidet gleichermaßen an der nationalen Schmach und am Liebesverzicht. Der Gedanke an Selbstmord begleitet ihn von Anfang an; nur die Idee, dass ein Aufbegehren der Italiener gegen die Fremdherrschaft noch möglich ist, wenn sie sich auf die vergangene künstlerische Größe besinnen, und die Hoffnung auf eine Verbindung mit Teresa halten ihn zurück. Als er erfährt, dass sie geheiratet hat, erdolcht er sich.

Foscolos Ultime lettere gilt gemeinhin als erster Roman der italienischen Literatur. Heroischer Gestus (auch wenn er tatenlos bleibt) und edle Melancholie ließen den Roman bei den Zeitgenossen zu einem großen Erfolg werden. Die Parallelen zu Goethes Die Leiden des jungen Werther – der Aufbau des Briefromans, die unglückliche Liebe zur Braut eines anderen, der Selbstmord – wurden schnell erkannt, auch wenn Foscolo betonte, ihm gehe es, anders als Goethe, um die politische Situation seines Landes und nicht um romantischen Weltschmerz. Giuseppe Mazzini, einer der Protagonisten des Risorgimento, der italienischen Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts, lernte den Roman in seiner Jugend auswendig.

Zu nennen wäre jetzt Joseph Antoine Gourbillons Briefroman „Stellino ou le nouveau Werther“, das als e-book in französischer Sprache vorliegt. Eine Neu-Herausgabe würde sich unbedingt lohnen, ist allerdings sehr aufwendig. Ich habe zumindest die ersten Seiten gelesen und finde es trotz der düsteren Handlung recht amüsant. Zu erwähnen wäre noch Charles Nodier, geboren in Besancon, der sich vor allem mit Schauergeschichten und einem der ersten Romane zum Suizid einen Namen machte. Nebenbei: Wegen eines satirischen Gedichts auf Napoleon saß er auch mal für kurze Zeit im Gefängnis, konnte jedoch untertauchen, nachdem er sich sogar an einer Verschwörung gegen den Diktator beteiligt hatte. Eine sehr interessante Gestalt, meine ich.

Den Reigen setzt eine weibliche Version fort, denn zu den frühesten französischen Werther-Adaptionen gehört Pierre Perrins „Wertherie“

Die Heldin trägt kurzerhand diesen Namen. Der verheiratete Mann, den die junge Schwärmerin abgöttisch liebt, heißt – merkwürdig genug – Herzberg. Die Heldin vergiftet sich mit Opium.

Von französischen Autoren wären noch drei mit ihren Werken aufzuführen. Francois de Chateaubriands „Rene“. Als René bei den Natsches ankam, war er genötigt worden, ein Weib zu nehmen, um sich dem indianischen Brauch und Herkommen zu fügen; er lebte jedoch nicht mit ihr. Sein Hang zur Schwermut zog ihn in die Wälder: dort brachte er Tage und Wochen einsam zu, und glich einem Wilden unter den Wilden. Außer Schakta, seinem Adoptivvater, und dem Pater Souël, dem Missionsprediger des Forts Rosalie, pflog er fast gar keinen Verkehr mit den Menschen. Diese beiden Greise hatten großen Einfluß auf sein Herz gewonnen; der Erstere durch eine liebevolle Nachsicht, der Andere hingegen durch eine außerordentliche Strenge gegen ihn. Ein gegensätzliches Motiv zu seiner faden Ehe durchzieht das Buch: nämlich zärtliche Liebe und Hingabe zu seiner Schwester Amelie; eine Geistesfreundschaft aus ihrer Jugendzeit. Zu den Wertheriaden wäre ebenso Benjamin Constants „Adolphe. Anecdote trouvee dans les papiers d’un inconnu, et publiee“ zu zählen. Ein junger Adliger mit besten Aussichten erobert aus einer Laune heraus die Geliebte eines anderen, Elléonore, wie eine Trophäe. Doch statt einer flüchtigen Liebschaft entwickelt sich eine Bindung, die den Protagonisten zu erdrücken droht.

Nun kommen wir zu einer anderen Szenerie. „Oberman. Lettres publiees par M. Senancour“ Oberman. Roman in Briefen ist ein Briefroman des französischen Schriftstellers Étienne Pivert de Senancour, (1770–1846), der 1801 in Paris begonnen, 1803 in der Schweiz vollendet und 1804 in zwei Bänden veröffentlicht wurde. Er gilt als eines der wichtigsten Werke der französischen Frühromantik.

In dem Roman gibt es keine klare Handlung: Der Protagonist schreibt an einen (möglicherweise imaginären) Empfänger, der genauso im Dunkeln bleibt wie andere Figuren. Während Oberman in die Schweiz reist, gibt er sich philosophischen Betrachtungen hin, die er in seinen Briefen niederlegt. Oberman wird von einer „tristesse d’une vague profonde“, einer unerklärlichen Melancholie heimgesucht, die ihn von einem Ort zum anderen treibt, verzweifeln lässt und zur Untätigkeit verdammt. Typisch romantisch im Oberman sind die schwärmerischen Naturbeschreibungen.

Vielen Künstlern diente Oberman als Inspirationsquelle, u. a. Liszt oder Delacroix. Liszt nannte Oberman „das Buch, das stets mein Leid betäubt“. Vallée d’Obermann ist der Titel eines Klavierstückes in seinen Années de pèlerinage.

Bekannt dürfte sein, dass kein Geringerer als Napoleon den Werther als Hauptwerk Goethes ansah und den Verfasser hierzu beglückwünschte.

Es gibt Werke deutscher Autoren, die man dem Werther-Motiv zuordnen kann. Ein amüsant-satirisches Gegenstück lieferte Friedrich Nicolai mit seiner bereits 1775 erschienenen Erzählung „Die Freuden des jungen Werthers“. Er eröffnete damit die Reihe der sogenannten Wertheriaden. Der Hauptheld Hannes will dem Beispiel des Werther folgen, doch ihm wird von einem älteren Freund abgeraten. Nun werden Goethes Personen eingeführt. Werther liegt auf dem „Sterbebett“, als ihm Albert eröffnet, dass jener gar nicht sterben muss, er habe die Pistole mit Hühnerblut geladen. Lotte bekommt von Werther ein Kind. Sie führen einen gemeinsamen Haushalt, leben schließlich in einem großen Haus. Er lebt glücklich mit seiner Lotte. Was hat Werther gelernt? Zitat: „Erfahrung und kalte gelassne Überlegung hat ihn gelehrt, ferner nicht das bisschen Übel, das das Schicksal ihm vorlegte, zu wiederkäuen, dagegen aber die Wonne, die Gott über ihn ausgoss, mit ganzem, innig dnkbarem Herzen aufzunehmen.

Manche Aufklärer lobten die beißend kritische Darstellung Nicolais, manchen Stürmern und Drängern war sie verhasst. Äußerst entrüstet reagiert Goethe selbst, er eröffnete einen heftigen literarischen Feldzug gegen Nicolai.

Wie auch immer: Weltschmerz, Melancholie, das Motiv der „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard) kamen nicht nur im „Jahrhundert der Empfindsamkeit“, sondern bis in heutige Zeit in mannigfaltigen Versionen und Genres auf den Markt.

Es gibt ein kleines Buch, ebenfalls mit ganz direktem Bezug zu Goethe, zumindest, was den Titel betrifft: Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ Der Inhalt ist kurz erzählt.In einer Ostberliner Gartenlaube liest der junge Edgar W. mit wachsender Begeisterung den „Werther“ – und verliebt sich prompt in eine Frau, die eigentlich schon vergeben ist. Die Uraufführung des Bühnenstücks 1972 in Halle war ein voller Erfolg, Plenzdorfs Stück, das die Situation von DDR-Jugendlichen in den 70-er Jahren beschreibt, wurde seitdem auf vielen Bühnen der DDR, in der Bundesrepubik und in mehreren anderen Ländern aufgeführt.

Von der Defa abgelehnt, wurde das Buch 1976 wurde das Stück in Westdeutschland verfilmt. Die Geschichte erzählt von einem Jugendlichen, der aus seiner kleinbürgerlichen Umwelt ausbrechen will und beim Lesen von Goethes Werk Die Leiden des jungen Werthers immer wieder Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Leben entdeckt.

Ein Unterschied der Theateraufführungen in der DDR und in der BRD besteht darin, dass die Urfassung einen Selbstmordversuch enthält, in späteren Fassungen aber von einem Unfalltod die Rede ist. Auch in der Buchfassung wurde der Schluss verändert, einiges wurde erweitert, anderes wiederum getilgt.

Edgar Wibeau wurde von seinem Vater verlassen, als er fünf Jahre alt war. Nach dem Tod Edgars mit 17 Jahren befragt sein Vater Personen, die seinem Sohn nahestanden, um ihn im Nachhinein kennenzulernen.

Edgar wächst in DDR-Zeiten bei seiner Mutter als Musterschüler und Vorzeigeknabe auf – vielleicht nicht ganz freiwillig, denn er macht seine Ausbildung an einer Berufsschule, die von seiner Mutter geleitet wird. Nach einem Streit mit seinem Lehrmeister Flemming tut er, was er schon lange tun wollte – er verschwindet mit seinem Freund Willi aus seinem Heimatort, der fiktiven Kleinstadt Mittenberg, und geht nach Berlin. Willi zieht es jedoch bald wieder nach Mittenberg zurück. Edgar bleibt allein in Berlin, wo er in einer verlassenen Gartenlaube neben einem Kindergarten in Berlin-Lichtenberg unterkommt. In diesem Kindergarten arbeitet die 20-jährige Charlie, in die er sich bald verliebt. Dieter, ihr Verlobter und späterer Ehemann, und Charlie selbst geben Edgar viel zu denken. Der einzige, mit dem Edgar Kontakt hält, ist sein Jugendfreund Willi. Diesem schickt er regelmäßig Tonbänder mit Zitaten aus Goethes Werther, die seine eigene Lage gut beschreiben, Nachdem der junge Rebell an einer Kunsthochschule nicht aufgenommen worden war, sich selbst als verkanntes Genie aber nie ganz abschreibt, nimmt er eine Arbeit als Anstreicher auf. Um Addi und Zaremba, seinen Arbeitskollegen, etwas zu beweisen, versucht er, ein „nebelloses Farbspritzgerät“ zu entwickeln, an dem Addi selbst gerade erst gescheitert ist. Beim ersten Versuch, die selbstgebaute Maschine in Betrieb zu nehmen, wird Edgar durch einen Stromschlag getötet.

Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe

Vortrag von Francesca Müller-Fabbri, Weimar, am 8. April 2024

Ottilie von Goethe (1796 – 1872), Goethes „geliebte Schwiegertochter“, wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen. Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich.

Die Mutter kam mit zwei Töchtern nach Weimar, die Witwe wurde dort „die Gräfin“ genannt, da sie in der Tat eine geborene Gräfin Henckel von Donnersmarck war. Die Mutter fand rasch eine Hofdamenstelle bei Herzogin Luise. Am 17. Juni 1817 heiratete Ottilie August von Goethe und zog zu ihm in die Mansarde des Goethe-Hauses am Frauenplan. Sie hatte mit ihm die Kinder Walther Wolfgang von Goethe (1818–1885), Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–1883) und Alma Sedina Henriette Cornelia von Goethe (1827–1844). Doch die Ehe verlief unglücklich: Augusts Alkoholprobleme und Ottilies Liebschaften belasteten die Verbindung, die zudem ganz unter dem Eindruck des imposanten Schwiegervaters stand. Das Verhältnis zwischen Ottilie und ihrem Schwiegervater entwickelte sich nämlich sofort recht vielversprechend. 15 Jahre lebten sie unter einem Dach. Ottilie begeisterte sich für E. T. A. Hoffmann und Lord Byron. Dem Schwiegervater sprudelte eine jugendliche Welle an Lebendigkeit und Lust auf romantische und englischsprachige Literatur entgegen. Er schenkte Ottilie Vertonungen seiner Gedichte, die sie zu Gehör brachte. Bald nahm sie an der Ausarbeitung einiger Schriften des Dichters teil. Die geistreiche Schwiegertochter entwickelte sich zum Anziehungspunkt der internationalen Gästeschar des alten Goethe. Als Weimar ab den 1820-er Jahren Ziel englischsprachiger Studenten wurde, avancierte Ottilie zur Vermittlerin bei Hof sowie in gelehrten Kreisen und erhielt bald auch aufgrund ihrer Übersetzerinnentätigkeit den Spitznamen „englischer Konsul“.

Ottilie von Goethe pflegte ebenso eine intensive Beziehung zu der fast gleichaltrigen Adele Schopenhauer, die mit ihrer Mutter Johanna ebenfalls in Weimar lebte. Da Adele und Ottilie in Danzig geboren und ohne Vater aufgewachsen waren, verband sie schnell eine intensive Freundschaft, die erst mit Adeles Tod endete.

Ottilie dichtete sehr viel. Sie gründete auch einen Musenverein für Mädchen. Ottilie übersetzte den „Tasso“ ins Englische, es gab ja eine relativ große englische Gemeinde in Weimar.

Dennoch wurde ihr intellektuelles Lebenswerk bislang wenig beachtet. Dabei wirkte sie als Übersetzerin und Agentin des englisch-deutschen Kulturtransfers, sie förderte eine neue Generation von Kunstschaffenden in Weimar, Leipzig und Wien,. Ottilies handschriftlicher Nachlass, ihre Bibliothek, ihre Kunst- und archäologischen Sammlungen, ihre Publikationen und Übersetzungen erweisen sich als ein erstaunlich reicher Fundus, um ihre weltoffene Persönlichkeit darzustellen und zugleich ein Stück Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Ab 1829 gab sie die Zeitschrift „Chaos“ heraus. Die Beiträge kamen aus allen Teilen Europas, waren in verschiedenen Sprachen verfasst und gaben Gelegenheit, auf die Beiträge der anderen zu reagieren. Neben Goethe und weiteren Weimarer Bekannten waren auch zahlreiche berühmte Zeitgenossen vertreten, macht Karsten Hein imGoethe-Jahrbuch 2022 aufmerksam. Weiter erfahren wir: Das Blatt existierte von September 1829 bis Februar 1832, unterbrochen bei Augusts Tod 1830 und beendet mit dem Ableben des Dichters. Mitwirken am „Chaos“ durfte nur, wer mindestens einen 24-stündigen Aufenthalt in Weimar nachweisen konnte. Die Redaktion hatte ihren Sitz in der Mansarde des Goethe-Hauses: die Herausgeberin stellte das wöchentlich erscheinende Journal zusammen. Die eingereichten Texte in beliebiger Sprache mussten unveröffentlicht sein und wurden nicht mit Klarnamen gekennzeichnet. Geschützt durch Pseudonyme konnte man sich frei fühlen, Wahrheiten und Gefühle offen aussprechen. Mitunter bezogen sich die Texte aufeinander, und es entwickelte sich ein interaktives poetisches Hin und Her. Und ein weiteres Novum: Etwa ein Viertel der rund 100 Mitwirkenden waren Frauen.

Nach Augusts Tod lebte Ottilie weiterhin bei ihrem Schwiegervater, dem sie unter anderem bei der Ausarbeitung des Fausts (2. Teil) half. Obwohl sie sich gelegentlich von Goethe überfordert fühlte, gehörte er, den sie liebevoll „Vater“ nannte, zu den wenigen stabilen Größen in ihrem Leben. Goethe starb 1832. Das Testament des Schwiegervaters machte Ottilie eine zweite Heirat finanziell unmöglich. Der Tod Goethes bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Wende in Ottiliens Leben. Der Dichter war Dreh- und Angelpunkt all ihrer Aktivitäten gewesen; es entstand eine große Leere. Zudem wurden laut Testament ihre drei minderjährigen Kinder Universalerben und erhielten bis zu ihrer Volljährigkeit Vormünder. Die Kunst-, Naturalien- und Briefsammlungen wurden unter die Betreuung des großherzoglichen Bibliothekssekretärs gestellt und sollten möglichst an eine öffentliche Anstalt verkauft werden. Wohnhaus und Garten blieben zunächst unverkäuflich. Ottilie wurde das Wohnrecht und ein jährliches Wittum sowie für jedes Kind ein Alimentations- und Erziehungsgeld bis zur jeweiligen Volljährigkeit zugesprochen … Soweit Karsten Hein.

Es folgten Jahre mit wechselnden Aufenthaltsorten. Neben Weimar und Italien hielt sie sich häufig in Wien auf. Während ihrer ausgedehnten Italienreisen besichtigte sie Galerien, Museen und betätigte sich als Kunstsammlerin. Ottilie brachte es im Laufe ihres Lebens zu einer beachtlichen Kunstsammlung. Die Inventarliste ihrer Wiener Wohnungzählte hunderte von Bildern und Objekten.

Obwohl sie sich in Weimar nicht mehr heimisch fühlte, kehrte Ottilie von Goethe 1870 in die Stadt zurück und verbrachte ihre letzten beiden Lebensjahre im Goethe-Haus. 1872 starb sie an einem Herzleiden. Sie wurde im Familiengrab der Goethes auf dem Historischen Friedhof Weimar nahe an der Fürstengruft beigesetzt.

Klopstock – Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburstag

Vortrag von Prof. Hans-Joachim Kertscher, Halle, am 4. Juni 2024

Im Hinblick auf Centenarfeiern für Dichterpersönlichkeiten in Deutschland setzten die in seiner Geburtsstadt Quedlinburg vom 1. bis 3. Juli 1824 ineszenierten Feierlichkeiten zum 100. Geburstag von Friedrich Gottfried Klopstock erste Maßstäbe. Der galt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unbestritten als einer der größten Dichter der Deutschen. Sein 100. Geburtstag wurde daher im gesamten deutschen Sprachraum feierlich begangen. Die aufwändigste Feier fanden in seiner Geburtsstadt Quedlinburg sowie in seinem Sterbeort Hamburg statt.

In Quedlinburg hatten einflussreiche Bürger schon frühzeitig den Gedanken einer Klopstock-Feier und der Errichtung eines Denkmals in der Vaterstadt des Dichters an die preußische Regierung herangetragen. Per Kabinettsordre vom 11. Mai 1820 war die Erlaubnis des preußischen Königs zur Durchführung der Feierlichkeiten in Quedlinburg eingegangen. Daraufhin ließen die Initiatoren in regionalen wie überregionalen Zeitschriften Anzeigen publizieren, die für das Ereignis gehörig die Werbetrommel rührten. Mit maßgeblicher Unterstützung des Landrates Weyhe wurde 1824 der erste Klopstock-Verein Deutschlands ins Leben gerufen. Er widmete sich den Jubiläumsfeierlichkeiten. Geplant waren ein großes dreitägiges Musikfest mit bekannten Künstlern, das unter der Leitung des Komponisten Carl Maria von Weber stattfinden sollte. Die Einladung des Vereins zur Gestaltung des Festes beantwortete der Komponist wie folgt: „Ihre ebenso schmeichelhafte als erfreuliche Einladung, der SäkularFeyer des unsterblichen Barden beizuwohnen, kann mich nur zu lebhaftem Danke für Ihr moch so ehrendes Vertrauen verpflichten; und ich werde mit wahrer Freude in allem mitwirken, wo Sie glauben, daß mein Eifer für die Sache nützlich, und meine Thätigkeit nothwendig sein könnte.“

Carl Maria von Weber scharte „in den beiden letzten Tagen des Juni“ Sänger und Musiker aus verschiedenen Gegenden Deutschlands um sich und probte mit ihnen die geplanten Stücke.. „Die Zahl der Musiker, welche bei den Aufführungen der beiden Hauptfeiertage thätig waren, betrug gegen 110, die der Sänger gegen 150. Die Gesamtzahl also ungefähr 260.“

Eine Vorfeier am 1. Juli leitete das Ganze ein. Sie „bestand aus einem Concert in der Schloßkirche, Nachmitags von 3 bis 6 Uhr“ und fand ihre Fortsetzung in der Hauptfeier am 2. Juli. Diese begann vormittags in der Schlosskirche. Dabei ertönte Beethovens 3. Sinfonie, die „Eroica“. – „Sie wurde mit vielem Ausdruck und scharfer Präcision ausgeführt, was gewiß bei einem Orchester bewunderungswürdig ist, welches aus so verschiedenen Elementen gemischt ist wie das quedlinburger, und welches nur zwei Proben dieser schwierigen Musik gehabt hatte.“ Die Veranstalter belohnten diese Leistung mit einer Medaille. Alle Mitglieder des Chores und des Orchesters erhielten eine eiserne Medaille, welche an einem blauen Bande getragen wurde: als Andenken an dieses Fest, theils auch als Erkennungszeichen, welches zugleich Eintritt in die Proben und zu dem Speisesaale gab. Die Medaille zeigte auf der einen Seite eine mit Lorbeern umkränzte Leier, auf der andern das Datum des Festes.“

Eine Mittagsmahl für die Honoratioren der Stadt schloss sich mit zahlreichen Trinksprüchen an. Für die Nachnittagsfeierlichkeiten wurden die Räumlichkeiten „im Schauspielhause des Mummenthals“ genutzt. „Laub- und Blumengehänge umkränzten die Eingänge zu dem Mummenthale und zu dem Schauspielhause“. Büsten von Homer und Vergil, der Vorbilder Klopstocks, zierten das Eingangsportal. „Oben über der Thür des Eingangs … stand Klopstocks Büste mit einem Lorbeerkranze geschmückt, nach einem Gemälde von Tischbein, in nachtblauem Felde, umgeben von einem prophetisch-apocalyptischen Siebengestirn von geschliffenem Glase und durch Lämpchen erleuchtet, hindeutend auf das höhere himmlische Epos des großen Sängers, zugleich auf eine Apotheose.“

Großes Pathos war also an die Stelle einer eingehenden Beschäftigung mit dem Werk Klopstocks getreten. Das kannte man bereits. Schon Lessing hatte im ersten seiner „Sinngedichte“ auf mangelndes Interesse an den Texten des Quedlinburgers verwiesen:

Wer wird nicht eiunen Klopstock loben?

Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.

Wir wollen weniger erhoben,

Und fleißiger gelesen sein.

Auch Hamburg, der letzte Wohnort des Dichters, beteiligte sich mit einer eigenen Centenarfeier am dem Klopstockfeierlichkeiten des Jahres 1824; auch darüber hat sich Goethe, so viel man weiß, nicht ausgelassen. Lediglich am 9. November 1824 betonte er gegenüber Eckermann die Vorreiterrolle, die Klopstock und Herder anfangs im literarischen Betrieb gespielt hätten. Nun aber sei „die Zeit ihnen vorangeeilt, und sie, die einst so nothwendig und wichtig waren, haben jetzt aufgehört, Mittel zu sein. Ein junger Mensch, der heut zu Tage seine Kultur aus Klopstock und Herder ziehen wollte, würde sehr zurückbleiben.“

Da befand sich der Weimarer freilich im Irrtum. Nicht nur die Feierlichkeiten im Jahr 1824 konnten darauf schließen lassen, dass Klopstock durchaus noch in jenen Jahren Gesprächsstoff innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu liefern vermochte. Kein Geringerer als Friedrich Hölderlin war zeit seines Lebens ein glühender Anhänger des Quedlinburgers. Bereits mit siebzehn Jahren, in seiner Maulbronner Schulzeit, bekannte er sich in der Ode „Mein Vorsatz“ zu zwei literarischen Vorbildern und fragte in diesem Zusammenhang nach dem Ziel seines dichterischen Wollens:

Ist’s heißer Durst nach Männervollkommenheit?

Ist’s leises Geizen um Hekatombenlohn?

Ist’s schwacher Schwung nach Pindars Flug?

Ist’s kämpfendes Streben nach Klopstocks Größe?

Obwohl er sich eingestehen musste, dass er den „Weltenumeilenden Flug der Großen“ nicht vollziehen könne, fühlte er sich gerüstet: „Hinan! Hinan! Im glühenden kühnen Traum / Sie zu erreichen.“

Schon in seiner Knabenzeit in Nürtingen hatte Hölderlin die Werke Klopstocks entdeckt und den Wunsch verspürt, sich „mit dem Sänger Gottes, Klopstock, himmelan“ schweben oder „Klopstocks Bild und Wielands – Mit Blumen umhängt zu sehen.“ Noch Ende der dreißiger Jahre, in geistiger Umnachtung, rezitierte Hölderlin, so der hessische Theologe Albert Diefenbach, im Tübinger Turm Klopstock „stundenlang … laut mit großem Pathos.“

Doch zurück zur Klopstockfeier in Quedlinburg. Deren Einnahmen samt der für diesen Zweck zustande gekommenen Spenden fanden Eingang in den Fonds zur Schaffung eines Klopstock-Denkmals. Es wurde in der Parkanlage Brühl am Ende einer Sichtachse aufgestellt und am 7. Juli 1831 enthüllt. Das Postament für das Denkmal gestaltete Carl Friedrich Schinkel, die darauf platzierte Büste entwarf Christian Friedrich Tieck.

WilhelmMeisters theatralische Sendung

Vortrag von Oliver Meyer-Ellendt, Wetzlar, am 5. März 2024

Als Goethe noch kein „von Goethe“ ist, geht er 1775 von Frankfurt/Main nach Weimar. Zwei Jahre später beginnt er mit dem Schreiben eines Romans, der in Theaterkreisen spielt. Die Hauptfigur nennt er „Wilhelm Meister“.

Schon als Knabe übt sich Wilhelm in der Schauspielkunst, besucht etliche Male im Jahr Schauspieler, die in die Stadt kommen. Wilhelm begibt sich als Erwachsener auf Geschäftsreise, treibt brav Schulden ein und trifft … immer wieder Komödianten. Eine der Theatergesellschaften wird geleitet von der Direktrice Madame de Retti. Er findet seine Jugendliebe Mariane, natürlich Schauspielerin, wieder, verliebt sich in sie, muss jedoch erfahren, dass er einen Nebenbuhler hat. Prompt fällt Wilhelm aus seinem Wolkenschloss in eine tiefe Krise. Joseph von Eichendroff stellt daraufhin fest, „dass Goethe selbst so eine Art von Wilhelm Meister war, und wir erfahren nachträglich aus Dichtung und Wahrheit, wie überraschend viele Jugenderinnerungen, Personen und Zustände aus seinem eigenen Leben in diesen Roman übergegagen sind.“

Wilhelm gelobt, sich künftig vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten – und tröstet sich mit seiner Liebe zum Theater.

Er beginnt sogar, selbst Stücke zu schreiben. Sein Ziel ist es, der vollkommenste Schauspieler zu werden und der Schöpfer eines großen Nationaltheaters. Höher hinauf geht’s nimmer. Zur Ablenkung von diesen Theaterflausen wird Wilhelm von seinem Gebieter Werner auf Reisen gesachickt: als Schulden-Eintreiber. Niederer geht’s kaum. Doch Wilhelm fügt sich. Das Schicksal – oder vielmehr die erzählerische Ironie – will es, dass Wilhelm fortan stets auf Theatervolk trifft. Eine Theatertruppe lässt Wilhelm spüren, dass er ein großer Kenner, Liebhaber und Beschützer des Theaters und all seiner Protagonisten ist. Und wer sich wie Wilhelm sein Leben lang der Literatur und dem Theater hingibt, ist naiv genug, eine solche Komödie für bare Münze zu nehmen – und die eigenen Münzen offenherzig herzugeben. Prompt leiht Wilhelm also der Directrice de Retti größere Teile der von ihm einkassierten Schulden, und die Truppe isst und trinkt fortan auf Wilhelms Kosten. Als Gegenleistung geraten alle jedes Mal in dionysische Begeisterung, sobald er lange Dramenmonologe rezitiert. In Madame de Rettis Truppe begegnet Wilhelm einer jungen Person, und zwar so, wie sie sich Wilhelm vorstellt: niedlich, reizend, schnuckelig und drollig; so heißt sie auch auf Französisch: „Mignon“. Ein Schauspieler-Paar, dem Wilhelm zuvor begegnet ist und das sich nun der Truppe angschlossen hat, Madame Melina und ihr Ehemann, meinen jedoch, Mignon sei zu gar nichts nütze: Auswendig lerne sie geschwind, spielen aber würde sie erbärmlich.

Madame de Retti hatte Mignon einst dem Leiter einer Seiltänzergruppe für hundert Dukaten abgekauft, da der grobe Kerl das Kind gerade auspeitschen wollte. Mignon hatte sich nämlich geweigert, den Eiertanz aufzuführen. Dies meint die Kunstfertigkeit von Artisten, mit verbundenen Augen zwischen rohen Eiern groteske Tänze aufzuführen.

Wilhelm hat inzwischen ein Trauerspiel geschrieben: „Belsazar“. Die Truppe Madame de Rettis ist vereinbarungsgemäß begeistert und sich einig: Wilhelms Stück muss aufgeführt werden. Natürlich von ihnen. Und natürlich bezahlt von Wilhelm.

Also wird Wilhelm von der Direktrice ordentlich geschröpft. Nach und nach gibt er sein ganzes Geld für Bühnenhandwerker und Ausstattung hin. Natürlich nicht sein Geld, sondern das von den Gläubigern kassierte.

Der Schauspieler Bendel ist der Geliebte der Directrice. Wenig textfest, dafür trinkfest. Er soll in „Belsazar“ den Darius spielen. Am Tage der Uraufführung hat Herr Bendel jedoch „wieder einen schweren Anfall krankhafter Trunksucht“. Er ist völlig unfähig, den Darius zu spielen. Wilhelm muss einspringen. Durchaus mit Erfolg.

Erst bei der zweiten Aufführung des „Belsazar“ spielt Bendel den Darius. Er zeigt sich weniger begabt als Wilhelm, wird aus dem Parkett mit Pomeranzen beworfen. Die Truppe verzieht sich schutzsuchend hinter die Kulissen. Nur Bendel wirft zurück, trifft einen Zuschauer. Ein wahres Schlachtgetümmel hebt an, das Publikum ersteigt mit Stöcken die Bühne und verwüstet alles. Im Tumult verschwinden die Tageseinnahmen und dann die Direktrice mit Herrn Bendel.

Und als sei dies noch nicht genug, kommt Mademoiselle Philine, eine junge, muntere Actrice, zu Wilhelm aufs Zimmer. Der Erzähler beschreibt, dass sich Philine „so artig, so schmeichelnd, so eifrig“ beträgt, dass Wilhelm sie nicht abweist. Und so gerät unser Held zum zweiten Mal an eine nicht sehr moralische Schauspielerin.

Die geschrumpfte Theatertruppe reist weiter, hat aber Mignon nicht mitgenommen. Das Figurengewimmel des Romans wird nun um einen kunstbeflissenen Grafen erweitert. Seine Exzellenz besitzt eine große Liebe zur Literatur, insbesondere zur deutschen. Außerdem hat sicherlich Philine ein wenig mit den Wimpern geklimpert, und schon lädt der Graf alle auf sein Schloss ein.

Doch die Truppe wird enttäuscht. Zum einen bringt man sie schäbig unter, zum anderen stellt sich wieder einmal heraus, dass Geld-Adel nicht in jedem Fall einher geht mit Geistes-Adel. So ist man auf dem Schloss ihrer schon bald überdrüssig.

Zum Glück verbessert sich die Lage der Komödianten ein wenig, indem man in einem alten, leeren benachbarten Schloss ein paar Möbel aufstellt und sie mit den Speiseresten der gräflichen Tafel versorgt.

Somit wird das Theatergerüst „aufgeschlagen und ausgezieret“, und man führt hin und wieder im eigentlichen Schloss Theaterstücke auf.

Der gräfliche Hausherr vereinigt dabei in herausragender Weise zwei Eigenschaften, die sich jeder Künstler von seinem Mäzen wünscht: Ahnungslosigkeit und Einmischungsfreude.

In der Umgebung des gräflichen Schlosses lernt Wilhelm Jarno kennen, der Kriegsveteran, Philosoph und eine Art bissiger Schlosshund ist. Und vermutlich inspiriert von Johann Gottfried Herder. Wilhelm empfindet für Jarno „eine gewisse Neigung“, obgleich dieser etwas „Kaltes und Abstoßendes“ hat. Dafür macht Jarno Wilhelm auf William Shakespeare aufmerksam, und bei der Lektüre von Shakespeares Werken glaubt Wilhelm, „vor den aufgeschlagenen ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen“. Wilhelm fängt an, „zu wittern, dass es in der Welt anders zugehe, als er sich’s gedacht“.

Der Truppe ist kein Glück beschieden. Schließlich findet sie eine Notunterkunft, und alle wefen die Schuld auf Wilhelm. Der fühlt sich unschuldig und verspricht, alle aus dem Elend herauszuführen. Mehr noch: Ein jeder soll „doppelt und dreifach so viel“ erwerben, „als er verloren“.

Zu diesem Zweck studiert Wilhelm auf dem Krankenlager weiterhin die Schriften Shakespeares, insbesondere den „Hamlet“. Nach einer längeren Zeit der Genesung erreicht Wilhelm die nächstgrößere Stadt, wo er dem Theaterdirektor Serlo begegnet. Wilhelm trifft nun auch die vorausgereiste Theatertruppe wieder und empfiehlt sie Serlo ans Herz für ein Engagement. Aurelio, eine Schwester Serlos, durchschaut jedoch die Komödianten sofort und wirft Wilhelm vor: „Ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so von Grund aus verkennt wie Sie! Was ist Ihre ganze Gesellschaft, die Sie meinem Bruder empfehlen, für ein erbärmliches Volk!“

Und auch Mignon versetzt Wilhelm in Verwirrung, wenn auch in eine andere: Beim Gute-Nacht-Sagen schließt sie ihn plötzlich fest in ihre Arme und küsst ihn „mit solcher Inbrunst, dass es Wilhelm vor der Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur angst und bange wird.“

Vielversprechender entwickelt sich am Ende des Romans Wilhelms Liebe zum Theater. Direktor Serlo wird Wilhelms Lehrer und möchte ihn fest an seiner Bühne haben – sowie die ganze Truppoe dazu. Es bleibt nicht ohne neuerliche Schwierigkeiten. Immerhin: Bendels Wunsch geht in Erfüllung, nicht mehr schauspielerin zu müssen. Melina indes soll Garderobe-Meisterin werden, um den Motten zu wehren. Auch ein Karriere-Ende am Theater.

Fritz von Stein (1772 – 1844) – ein erfülltes Leben zwischen Weimar und Schlesien

Vortrag von Prof. Detlef Jena, Rockau

Fritz von Stein war eine liebenswürdige, aufgeschlossene Natur, wurde als Knabe in Goethes Haus aufgenommen. Von dort musste er vierzehntägig Goethes Mutter nach Frankfurt in „geheimer Mission“ berichten, was ihr Sohn so trieb, denn Goethes Verhältnis zu seiner Mutter, der Frau Rätin, war komnpliziert. Obwohl er glänzende Aussichten hatte, am Weimarer Hof eine Stellung zu bekleiden, trennte er sich von der Stadt an der Ilm. Er ging lieber in preußische Dienste nach Schlesien. Dies wurde in Weimar sehr übel aufgenommen. Er blieb zwar mental mit Weimar verbunden, kam auch zu Besuch, blieb jedoch zeitlebens in Schlesien, wo er einflussreiche Posten bekleidete.

Ein Amt hing mit einem Johann Georg Knie zusammen. Der wurde 1794 in Erfurt geboren, erblindete durch Blattern. Durch seine vermögenden Eltern erwarb er sich eine reiche Bildung, besuchte beispielsweise die Blindenschule in Berlin. Später kam er nach Breslau, wo Wilhelm von Humboldt 1811 eine Universität gegründet hatte. Knie studierte dort Mathematik und Geografie. Er beschloss, in Breslau zu bleiben, gründete dort eine Unterrichtsanstalt für blinde Kinder. Blinde wurden bis dahin als Kranke behandelt, denen man Fürsorge angedeihen lassen musste. Anders Knie: Er forderte, dass Blinde als vollwertige Menschen anzusehen seien, unter Berücksichtigung ihres Leidens seien sie zu selbstbewussten Bürgern zu entwickeln. Knie wurde Direktor seiner Anstalt und als Ko-Direktor fungierte – Fritz von Stein. Knie unternahm einen Selbstversuch, zog mutterseelenallein über drei Monate lang kreuz und quer durch die deutschen Staaten, um zu beweisen, dass blinde Menschen, wenn sie genau notwendige Bedingungen beachten, durchaus in der Lage sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Dazu gehörte auch Arbeit. Die blinden Kinder und Jugendlichen in Knies Einrichtung erwarben sich in eigens aufgesuchten Manufakturen und durch spezielles Werkzeug ihren Lebensunterhalt und letztlich auch den Erhalt ihrer Schule.

Stein wolte den Geist Weimars auch nach Schlesien tragen, als enger Vertrauter Goethes der klassischen deutschen Literatur auch in Breslau eine Heimstatt schaffen. Mehrere Besuche in Weimar und Korrespondenzen mit der Ilm-Stadt trugen hierzu bei. Der Goethe-Forschung gilt es als größte Leistung, dass Fritz von Stein von seiner Mutter Charlotte 1827 ihren Briefwechsel mit Goethe – nach 1794 gab es wieder eine gewisse Annäherung zwischen beiden – übernahm und für eine spätere Veröffentlichung sorgte. Immerhin kamen drei Bände zusammen.

Es existieren etwa 400 Briefe aus Weimar an Fritz von Stein, sie wurden 1907 veröffentlicht. Vierzig Jahre lang unterhielt Fritz von Stein eine rege Korrespondenz mit seiner Freundin Charlotte von Lengefeld, verheiratet Schiller. Dieser Briefwechsel wurde 1860 publiziert, doch seitdem kaum zur Kenntnis genommen. Es gibt auch Briefe von Goethe an Fritz.

1795 kam Fritz von Stein als Assesor nach Schlesien, machte rasch Karriere, wurde Kriegs- und Domänenrat, was allerdings nur ein Titel bedeutete. Seine Entscheidung, im Land zu bleiben, führte zwei Jahre später dazu, dass er vom preußischen König zum Direktor der Kunst- und Gewerbeschule in Breslau berufen wurde. Sie kann durch ihre Beschäftigung mit Architektur, Inneneinrichtung, Materialien wie Holz, Keramik, Papier in gewissem Sinne als Vorläufer der Bauhaus-Akademie angesehen werden. Diese Akademie besteht bis heute.

Fritz von Stein leitete sie acht Jahre lang. Er hat den Posten durch die napoleonische Besetzung Schlesiens letztlich aufgeben müssen.

Zwischen 1807 und 1810 erlebte er seine schlimmste Zeit. Er war nicht nur arbeitslos, sondern auch Witwer, musste drei Kinder durchbringen. Er ließ vorzeitig sein Erbe – 30 000 Taler – auszahlen und kaufte ein Gut, das von den napoleonischen Truppen jedoch geplündert wurde. Die Frau aus seiner zweiten Ehe – aus sehr vermögender Familie stammend – investierte zwar in das Gut, verließ ihn jedoch nach kurzer Zeit, ging zu ihren Eltern zurück, da sie nicht mehr mit ihm zusammenleben wollte.

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Schlesien war infolge der Kriegswirren ein bettelarmes Land. Die Wirtschaft war völlig zusammengebrochen. Aus diesem Grund, um Gewerbe und Landwirtschaft wiederzubeleben, veranlasste Friedrich II. 1777 die Gründung einer „Schlesischen Landschaft“ – eines Darlehens- und Kreditinstitutes für den schlesischen Adel. Fritz von Stein wurde deren Generallandschaftsrepräsentant, vom Adel gewählt, allerdings nur für den niederschlesischen Bereich. Allerdings besaß er weiterreichenden Einfluss für ganz Schlesien, war er doch zugleich Mitglied des Zentralgremiums dieser Einrichtung. Selbige besaß neben finanziellen Obliegenheiten noch eine weiteres Tätigkeitsfeld: Die Institution sollte mit der Geldvergabe zugleich dafür sorgen, dass die neuesten Erkenntnisse der Agrarwirtschaft, des Handels, von Forschung und Technik Einzug ins schlesische Wirtschaftsleben fanden. Diese Ambitionen erstreckten sich ebenso auf die Schlesische Sozietät, die wissenschaftliche Erkenntnisse für den Adel bereitstellen sollte, um ihm bei der Gestaltung moderner Produktion zu helfen. Dieses System funktionierte jedoch nicht.

Daraufhin wurde 1803 die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur gegründet, die später in scharfe Konkurrenz zur jungen Universität trat. Die Gesellschaft vereinigte in sich namhafte Gelehrte. In diese Gesellschaft wurde 1820 Fritz von Stein als Präsident berufen. Er sorgte dafür, dass Goethe Ehrenmitglied wurde. Durch seinen liebenswürdigen Charakter gelang es ihm, Streit zu schlichten, Kompromisse auszuhandeln, Interessen auszugleichen.

Ich winde mich um deinen Schoß und Busen – Herder und die Liebe

Vortrag von Dr. Egon Freitag am 10. Oktober 2023

Er bezeichnete sich selbst als einen erotischen Menschen, verfasste somit auch erotische Texte. Er lernte die aus dem Elsaß stammende Caroline Flachsland kennen Sie hatte in Herders Straßburger Zeit 1770 eine Predigt von ihm gehört. Dieses Zusammentreffen erschien als Gottes Wille. Beide lasen Gedichte von Klopstock. Er nante sie Engel in mehrfachen Variationen, wie Unschuldsengel, Frühlings- und Unschuldsblume. Er nannte sie oft auch Lina. Die Eheschließung bedurfte einiger Formalitäten, so musste sie einen notariell beglaubigten Taufschein beschaffen oder ihm das Original zuschicken. Das Ehebett für die Flitterwochen sollte sie selbst besorgen, sie führte detailliert auf, was hierzu an Wolle, Federn etc. benötigt wurde. Dieses Liebeslager wurde ganz genau geplant.

Am 2. Mai 1773 fand in Darmstadt die Hochzeit statt, Goethe war zugegen. Die Hochzeitsreise führte auch nach Frankfurt/Main, wo das Paar Goethes Eltern kennenlernte. Herder brachte allerdings auch 600 Gulden Schulden in die Ehe. Dennoch begann eine glückliche Zeit. Für ihn war Caroline ein schwebender Engel in dieser Welt.

Nach seiner Auffassung war der Geschlechtstrieb der mächtigste. 1776 begrüßte Wieland das Paar in Weimar, Goethe war mit dem Herzog gerade auf der Jagd. Goethe kam den Tag darauf zur Begrüßung.

Letztlich hatte die Familie acht Kinder, sieben Söhne und eine Tochter. Die Haushaltsführung war schwierig, stets schwebte man in Geldsorgen. Caroline erwies sich als eine ebenbürtige Partnerin. Gleim schätzte ihre Mitarbeit. Aber es gab mitunter auch Streit. Dann wechselten vom Dienstboten gebrachte Briefe von der unteren zur oberen Etage. Schließlich fiel ihr Herder um den Hals, und aller Streit fand sein Ende. Beide lebten immer über ihre Verhältnisse. Der Haushalt, die Kinder und Bücher verschlangen viel Geld. Herzog und Herzogin halfen, Goetha auch und Wieland, schließlich gewährte der Herzog eine zusätzliche Zahlung über 300 Taler pro Jahr. Aber auch dies reichte nicht. Herder gab seine „Lieder der Liebe“ heraus. Er verherrlichte die Nacktheit als griechisches Ideal. Das beste Kleid sei nur ein Hindernis wandte er sich gegen Prüderie und „einpressende Klosterlumpen“. Die Griechen seien hingegen zur Freude und Lust geboren. „Ich will nicht umsonst ein Mann sein“, bekundete er. An sich war er ein treuer Ehemann, doch dies wurde 1778 auf eine ernste Probe gestellt. Er verliebte sich in die elf Jahre jüngere Friederike Schaardt. Sie langweilte sich in Weimar, kam oft ins Pfarrhaus, die 22-Jährige erwies sich als geistreich, zierlich, anziehend. Sie war Mitarbeiterin am Tiefurter Journal und wirkte ebenso am Liebhabertheater mit. Seine Leidenschaft konnte Herder nur mühsam zurückhalten, letztlich geriet das Ganze zu einer idealischen Seelenliebe. Somit war seine Ehe nicht gefährdet. Allerdings, auf einer Reise im Harz 1783, wollte er sie heimlich treffen. Dies gelang in Blankenburg.

Herder versuchte, seine Frau an dieser Freundschaft teilhaben zu lassen. Caroline ließ sich darauf ein.

Herder trat eine große Italienreise an. Im Vatikan wurde er als Bischof von Weimar vorgestellt. Ein Abt meinte zu ihm: „Wie kann ein Geistlicher seine Frau so lange ohne Aufsicht und Weide lassen?“ Herders Antwort: „In Deutschland haben wir zum Glück die Stallfütterung eingeführt.“

Er lernte auch die berühmte Malerin Angelica Kaufmann kennen. Beide waren sich sympathisch. Herder besuchte die Museen des Vatikans, bewunderte die von Fackeln beleuchteten, wunderbare Schattenspiele erzeugenden Skulpturen von Venus, Diana und Jupiter, Er erlebte somit die Einheit harmonsichen Lebens auch von Menschen, sein Credo: Licht, Liebe und Leben.

Goethe als Patient

Vortrag von Prof. Dr. L. Engelmann, Leipzig, am 5. September 2023

Goethe als Patient

Goethes Genialität beruht ebenso „in zäher, beharrlicher, zuchtvoller Tätigkeit und Kreativität“ (Nager: „Goethe, der heilkundige Dichter“) und auf der Fähigkeit des Ausharrens, der Mäßigung, des Verzichts und der Entsagung.

Doch waren auch bedeutende Ärzte um ihn herum. In der Straßburger Zeit gehörte Georg von Zimmermann, ein engagierter Vertreter der neu aufblühenden hippokratisch, auf Erfahrung und Beobachtung orientierten Medizin und späterer Leibarzt Friedrichs des Großen, zu seiner Tischrunde. In Weimar wählte er den Jenaer Medizinprofessor Christian Wilhelm Hufeland, Mitbegründer der Geriatrie und der medizinischen Prävention, als Hausarzt. Nach dessen Berufung an die Charite wurde Johann Christian Starck, ebenfalls Professor in Jena, Goethes Leibarzt, Berater und Gesprächspartner.

In den krankheitsbelasteten Jahren, beginnend mit Schillers Tod, behandelte ihn Oberbergrat Johann Christian Reil in Halle, 1816 bis 1825 betreute ihn Wilhelm Rehbein und schließlich Carl Vogel bis zu Goethes Ende. Nicht zu vergessen, dass sein engster Freund Schiller ebenfalls Arzt war.

Goethes Vorliebe für Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie führte ihn mit Johann Christian August Heinroth, Professor für Psychiatrie in Leipzig, und dem Universalgenie Carl Gustav Carus, Gynäkologe, königlicher Hofarzt in Dresden, Maler, Philosoph und Psychologe, zusammen.

Interessant ist vor allem die Sepsis mit ihren Spielarten und Folgen, und diesen intensivmedizinischen Stoff treffen wir in Goethes Krankengeschichte immer wieder.

Goethes Leben begann wie bei jedem anderen Menschen mit dem heute noch gefährlichsten Lebensabschnitt – der Geburt. Der Junge kam asphyktisch (Atemdepression mit Sauerstoffmangel) zur Welt. Er schreibt in „Dichtung und Wahrheit“: „Dieser Umstand (Ungeschick der Hebamme), welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlass nahm, dass ein Geburtshelfer angestellt und der Hebammen-Unterricht eingeführt oder erneuert wurde, welches dann manchem der Nachgeborenen mag zugute gekommen sein.“

Die erste Klippe umschifft, befallen den Frankfurter Bub Masern, Windpocken und echte Blattern.

Allerdings sind Blattern in Zweifel zu ziehen, denn Pocken hinterlassen tiefe Narben, weil die Infektion alle Hautschichten befällt, Windpocken dagegen befallen nur die Oberhaut, und die Blasen heilen narbenfrei ab. Goethe-Porträts mit Pockennarben gibt es nicht, und bei seiner Ankunft in Weimar wird von der Damenwelt vom „Schönling“ geschwärmt.

Bereits in den Frankfurter Jugendjahren wird Goethes psychosomatische Projektion deutlich, wonach er bei psychischer Anspannung mit körperlichem Unwohlsein, bisweilen mit Krankheit reagiert.

In einer Julinacht 1768 wacht der Jüngling „mit einem heftigen Blutsturz auf“ (erste lebensgefährliche Erkrankung). Wahrscheinlich handelte es sich um eine Blutung aus einem Magen- oder Darmgeschwür. Der „Blutsturz“ hätte aber von schwarzer Farbe sein müssen, denn die Magensäure oxidiert das rote Häm zum schwarzen Hämatin. Davon ist allerdings keine Rede. Dennoch scheint eine Magenblutung als sehr begründet, denn Goethe schreibt: „Schon zu Hause hatte ich einen gewissen hypochondrischen Zug mitgebracht, der sich in dem neuen sitzenden und schleichenden Leben eher verstärkte als verschwächte. Der Schmerz auf der Brust, den ich seit dem Auerstädter Unfall von Zeit zu Zeit empfand und der, nach dem Sturz mit dem Pferde, merklich gewachsen war, machte mich missmutig. Durch eine unglückliche Diät verdarb ich mir die Kräfte der Verdauung; das schwere Merseburger Bier verdüsterte mein Gehirn, der Kaffee, der mir eine ganz eigene triste Stimmung gab, besonders mit Milch nach Tische genossen, paralysierte meine Eingeweide und schien ihre Fuktionen völlig aufzuheben, so dass ich deshalb große Beängstigungen empfand, ohne jedoch den Entschluss zu einer vernünftigeren Lebensart fassen zu können. Meine Natur, von hinlänglichen Kräften der Jugend unterstützt, schwankte zwischen Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen.“

Das ist eine typische Psychopathologie, wie wir sie bei Ulkuspatienten auch heute noch finden.

In die differentialdiagnostischen Überlegungen war von verschiedenen Seiten auch eine Lungenblutung, am ehesten infolge einer Lungentuberkulose einbezogen worden. Über ein damit verbundenes Erstickungsgefühl wie für eine Lungenblutung typisch, wird aber nicht berichtet.

Dass Goethe an einer Tuberkulose litt, gilt als möglich, weil „sich bei jeder Eruption zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man erst jetzt, nach vorüber gegangener Gefahr zu bemerken Zeit fand“.

Ein solcher Abszess kann als kalter Abszess – eine Lymphknotentuberkulose – Teilbefund der Tuberkulose sein, gehört dagegen nicht zum blutenden Magengeschwür.

Goethes Leben wird durch den Griff zum Messer gerettet (zweite lebensgefährliche Erkrankung). „Der Cirurgus … von leichter und geschickter Hand, leider etwas hektisch“, eröffnet nach Goethes Rückkehr aus Leipzig diese dicke Geschwulst am Hals. Der Patient bekommt wieder Luft und gewinnt „die Heiterkeit des Geistes“ zurück. Aber erst 1769 ist er wieder genesen. Er verlässt Frankfurt in Richtung Straßburg, um seine in Leipzig begonnenen Studien abzuschließen.

Er wandert viel, schnell und weit. Er unternimmt einen 400-km-Ritt durch das Elsass und Lothringen. „In allen körperlichen Übungen“ behauptet später sein Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland, „war er bald der Erste: im Reiten, Fechten, Voltigieren, Tanzen“.

Die Folgejahre in Weimar seit 1775 sind von drei Krankheitskomplexen gekennzeichnet: die seit der Leipziger Krankheit regelmäßig wiederkehrenden Bronchialkatarrhe und Anginen, verbunden mit Muskel- und Gelenkschmerzen, Verdauungsstörungen (2.) und (3.) gehäuft heftige Zahnschmerzen. Dazu gesellt sich eine große Wetterfühligkeit. Sein häufig gestörtes Wohlbefinden ist geprägt bisweilen von Gelassenheit und duldendem Abwarten, aber öfter von Ungeduld, Gereiztheit und Selbstmitleid. Diese Krisen bewogen ihn zu den wiederholten Bäderreisen nach Böhmen und auch zur Reise nach Italien.

Sein Umgang mit den Ärzten ist launisch. Manchmal findet er lobende Worte. In Krankheitszeiten klagt er über deren Unfähigkeit, falsche Therapien, und er beschimpft sie als „Jesuiten“ und „Hundsfötter“. Goethe als Patient zu führen, scheint somit ein schwieriges Unterfangen zu sein.

Überhaupt war er kein guter Patient. So konnte man ihn nur zur strengen Diät überreden, wenn es ihm wirklich schlecht ging. Bei den ersten Anzeichen der Besserung sah er sich, von Christiane bestärkt, nach üppigen Gerichten und Wein mit kräftigem Geschmack um. Er war zeitweise ein exzessiver Weintrinker, der mühelos bereits zum Frühstück eine Flasche leerte, über den Tag hinweg folgten weitere zwei/drei Liter. Bier lehnte er ab.

1990 beschreibt Nager in seiner Betrachtung „Der heilkundige Dichter: Goethe und die Medizin“, dass Goethe „während langer Lebensphasen im Nebel der Depression gewandert sei“. Schon in der Leipziger Studentenzeit trägt er sich mit Selbstmordgedanken. Er setzt vor dem Einschlafen einen Dolch auf die Brust und prüft, ob Willenskraft und Mut ausreichen, ihn langsam ins Herz zu senken. „Da das aber niemals gelingen wollte, lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg und beschloss zu leben“.

Seinem in Weltschmerz und Liebeskummer verfallenen leidenden jungen Werther gibt Goethe hingegen 1774 die Kugel. Die „wunderliche Krankheit“ Depression führt Goethe jahrzehntelang an langer Leine.

Goethes späte Midlife Crisis, datiert zwischen 1800 und 1810, wird durch zahlreiche Erkrankungen verstärkt. Vom Trinken wird der Leib rund, das Gesicht aufgeschwemmt, Rheuma und Gicht plagen ihn, die Zähne eitern. Auch Christiane und Sohn August sind von Trunksucht befallen. Beide sterben als Alkoholiker.

1801 erkrankte Goethe zun dritten Mal in akuter Lebensgefahr. Ein blasenbildendes Erysipel (Wundrose, bakterielle Infektion der Haut und des Lymphsystems) hatte die gesamte linke Gesichtshälfte einschließlich des Auges, Gaumens, Rachens und Kehlkopfes ergriffen. Zeitweise war er bewusstlos und phantasierte. Heute würde man wohl eine Sepsis (Blutvergiftung) diagnostizieren. Ein Schlaganfall war es nicht, eher ein Steck- oder Stickfluss. Darunter verstand man eine Lähmung der Lungen- und Luftröhrenäste, die aufgrund von Schleimverlegung den Erstickungstod bewirken sollte. Heute nennt man das Krankheitsbild: schwere eitrige Tracheobronchitis. Goethe musste wegen eines Krampfhustens in stehender Stellung gehalten werden und konnte nicht das Bett aufsuchen, sonst wäre er erstickt. Die Behandlung erfolgte mit Packungen, Senföl-Fußbädern und Aderlässen, die ihn allmählich genesen ließen.

1805 wiederholte sich ein dem Krankheitsbild von 1801 vergleichbarer Zustand – Mitreaktion der Hirnhäute bei einer odontogenen Osteomyelitis (vom Zahn oder vom Zahnhalteapparat ausgehende Entzündungen, die sich zu einem Kieferabszess oder Parodontalabszess entwickeln können,

vierter lebensbedrohlicher Zustand). In den Folgejahren wurde er von heftigen Nierenkoliken geplagt, die Bäderreisen werden fortgesetzt. Erste Manifestationen der Arteriosklerose treffen ein, die man damals noch nicht kannte. 1812 wird von Luftnot und 1813 von Herzschmerzen berichtet.

Im Februar 1823 erkrankte Goethe zum fünften Mal lebensbedrohlich mit starken Herzschmerzen, Beklemmung im gesamte Brustbereich, Angstgefühl, Beinödemen, Schüttelfrost und hochgradiger Atemnot, so dass er nur im Bett aufrecht sitzend atmen konnte. Die heutige Intensivmedizin hätte wohl die Diagnose eines akuten Myokardinfarktes [Der Herzinfarkt oder (genauer) Herzmuskelinfarkt bzw. Myokardinfarkt, auch Koronarinfarkt genannt, ist ein akutes und lebensbedrohliches Ereignis infolge einer Erkrankung des Herzens, bei der eine Koronararterie oder einer ihrer Äste verlegt oder stärker eingeengt wird ]gestellt. Mediziner seiner Zeit hatten dem kaum etwas entgegenzusetzen. Was Goethes behandelnde Ärzte, Huschke und Rehbein, taten, waren Meerrettich-Kompressen für die Herzgegend, Aderlass und Blutegel. Letztere beide reduzierten die Füllung (heute: Vorlast) im Herzen, und die Blutegel setzten die Blutgerinnbarkeit herab.

Noch am 23. Februar wähnte er sich am Rande des Todes, doch der 25. brachte die Wende. Dennoch blieb Goethe hochgradig hinfällig. Sein Zustand deutete auf eine fortbestehende Linksherzinsuffizienz oder gar ein Lungenödem hin, die sich im November 1823 nochmals klinisch lebensgefährlich manifestierte (sechster lebensgefährlicher Zustand).

Zeitgenossen bemerkten zudem eine einsetzende Schwerhörigkeit und Gedäöchtnisschwäche, vor allem bezüglich der näheren Vergangenheit.

Nach dem Tode seines Sohnes August 1830 flüchtete Goethe in die Arbeit, und es ist durchaus denkbar, dass die Somatisation seiner Psyche zur siebenten lebensbedrohlichen Gesundheitskrise durch ein angeblich blutendes Ulkus (tiefliegendes Geschwür) geführt hat. Seine lebenslange Trinklust und Heines Beobachtung des gelben mumienhaften Gesichts machen eine chronische Lebererkrankung mit Blutung aber wahrscheinlicher.

Goethes Ende, seine achte Lebenskrise, wird von seinem Arzt Carl Vogel im Detail beschrieben und in Hufelands Journal veröffentlicht: „Fürchterlichste Angst und Unruhe trieben den seit lange nur in gemessenster Haltung sich zu bewegen gewohnten, hochbejahrten Greis mit jagender Hast bald ins Bett, wo er durch jeden Augenblick veränderte Lage Linderung zu erlangen vergeblich versuchte, bald auf den neben dem Bett stehenden Lehnstuhl. Die Zähne klapperten ihm vor Frost. Der Schmerz, der sich mehr und mehr auf der Brust festsetzte, presste dem Gefolterten bald Stöhnen, bald lautes Geschrei aus. Die Gesichtszüge waren verzerrt, das Antlitz aschgrau, die Augen tief in ihre lividen Höhlen gesunken, matt, trübe; der Blick drückte die grässlichste Todesangst aus. Das Rasseln in der Brust verwandelte sich in lautes Röcheln. Abends war der ganze Körprer kalt, der Schweiß durch vielfache, meistens wollene Bekleidung und Bedeckung gedrungen. Die lichten Zwischenräume von Besinnung kamen weniger häufig und dauerten immer kürzere Zeit. Die Kälte wuchs, der Puls verlor sich fast ganz, das Antlitz wurde aschgrau …“

Goethe stirbt am 22. März 1832 am „Stickfluss infolge eines nervös gewordenen Katarrhalfiebers“. Die Beobachtungen Vogels sind die klassische Beschreibung eines finalen Herzinfarktes, dessen Symptomatik und Pathophysiologie aber erst 70 Jahre später bekannt wurden.

Schwiegertochter Ottilie hält Goethes Hand. Als sie glaubt, nun sei der alte Mann gestorben, löst sie die Umklammerung. Da flüstert Goethe seine letzten Worte: „Nun, Frauenzimmerchen, gib mir dein gutes Pfötchen!“ Sekunden später ist er tot.

„Und möchte gern im besten Sinn entstehn“ – Zum Bildungsprozess der Homunculus-Figur in Goethes Faust II

Vortrag von Prof. Rudolf Drux, Köln, am 6. Juni 2023

In der Szene „Laboratorium“ in Faust II stellt Goethe dar, wie der „hochgelehrte“ Magister Wagner „durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist“. Dessen begeisterte Schilderung ist klar zu entnehmen, was sich „in der innersten Phiole“ ereignet. Darin

Erglüht es wie lebendige Kohle,

Ja wie der herrlichste Karfunkel,

Verstrahlend Blitze durch das Dunkel.

Ein helles weißes Licht erscheint!

Sichtbar wird im Spiel der Farben, dass Wagner das Destillationsverfahren der Alchimisten zur Läuterung und Umwandlung von Stoffen anwendet: Die in der Flasche in strahlendem Rot erglühende und in ein „helles weißes Licht“ verfeinerte Kohle zeigt die Umwandlung der materia prima an, aus der sich nach anfänglicher Schwärzung (negrido) durch Aufhellung (albedo) der Homunculus (Menschlein) entwickelt, womit das alchimistische opus magnum verrichtet ist.

Klar wird die Genese des Homunkel (mit alchimistischen Fachbegriffen) beschrieben:

Es leuchtet! Seht! – Nun lässt sich wirklich hoffen,

Dass, wem wir aus vielen hundert Stoffen

Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an,

Den Menschenstoff gemächlich komponieren,

In einen Kolben verlutieren,

Und ihn gehörig kohobieren,

So ist das Werk im stillen abgetan.

(verlutiert – mit Lehm verschlossen; kohobiert – mehrfach destilliert)

1828, ein gutes Jahr, bevor er die Homunculus-Episode endgültig niederschrieb, gelang es Friedrich Wöhler, eine organische Substanz, den Harnstoff, synthetisch herzustellen, womit durch „Kristallisieren“ (wie damals die mechanische Veränderung anorganischer Stoffe bezeichnet wurde) das größte Geheimnis der „organisierenden Natur“ enthüllt zu sein schien.

Dass Goethe nicht viel von solch „pergamentenem“ Erkenntnisoptimismus hielt und die Überzeugung des Adepten Wagner ablehnte, auf den natürlichen Zeugungsakt zu Gunsten eines „höhern Ursprungs“ des Menschen verzichten zu können, das gibt auf der Handlungsebene des Dramas der weitere Werdegang des „Männleins“ in vitro zu verstehen: Als Galatea, der Meerestöchter Schönste, am Ende der Klassischen Walpurgisnacht erscheint, zerschellt es mit seiner Phiole „von Pulsen der Liebe gerührt“ an ihrem Muschelwagen – die Schönheit der Göttin, Signum vollkommener Körperlichkeit, nach der sich Homunculus im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit als reines Geistwesen sehnt, treibt ihn ins Meer, wo alles Lebendige seinen Ursprung hat. Indem er so den ehernen Gesetzen der Natur gehorcht, kann er seinen dringlichsten Wunsch erfüllen und wirklich „im besten Sinn entstehn“.

Das Begehren, „weislich zu entstehn“ ist leitmotivisch mit Homunculus verbunden; dass er „voll Ungeduld“ den „geschloßnen Raum“verlassen möchte, auf den er als „künstlich“ Geschaffener angewiesen ist, rechtfertigt „der große Zweck“ völliger Menschwerdung. Zum Schluss geht das Feuer seines reinen Geistes in den Urkörper des Ozeans ein, was die Sirenen, im Duktus einer rhetorischen Frage mit Daktylen und Alliterationen als „ägäisches Fest“ hymnisch preisen:

Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,

Die gegeneinander such funkelnd zerschellen.

Im Spiel der sich vereinigenden Elemente, das zugleich mit der Verbindung von Männlichem und Weiblichem als Koitus (also wiederum sehr körpernah) konnotiert ist, wird Homunculus zur organischen Ganzheit und bringt damit das Geheimnis des Lebens zur Anschauung.

Von daher lässt sich nachvollziehen, dass bei der Suche nach der Bedeutung des Homunculus auch eine Nachlass-Notiz seines Sekretärs Riemer herangezogen wurde: Goethe habe mit dieser Figur „die reine Entelechie darstellen wollen, (…) den Geist des Menschen, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt“, d. h. jene Einheit des Lebens, die das Ziel (telos) seiner Entwicklung als Anlage in sich trägt, seine materielle Form organisierend und gestaltend.

Doch auch auf der seichteren Ebene eines literaturkritischen Diskurses ist Homunculus ausgemacht worden: Das reine Geistgeschöpf, das nach einem Körper strebe, sei eine Parodie auf die romantische Universal-Poesie, die laut einem Diktum ihres Programmatikers Friedrich Schlegel beständig „im Werden“ und durch die Mischung der Gattungen („auf Mischung kommt es an“) gekennzeichnet sei. Diese Dichtung hat aber nach Meinung des alten Goethe nur theoretische Entwürfe, Schemen, Kopfgeburten statt lebendiger Werke aus Fleisch und Blut hervorgebracht.

Früherer Gewährsmann der Homunculus-Herstellung war der Hohenheimer Arzt und Naturphilosoph Paracelsus mit seiner Rezeptur, wie ein „Mensch außerhalb des weiblichen Leibes und einer natürlichen Mutter geboren werden könne“. Dabei muss „das Sperma eines Manns“ in einem dicht verschlossenen kürbisartigen Gefäß durch Einlagerung in Pferdemist einem intensiven Fäulnisprozess unterzogen werden. Wenn es „in steter gleicher Wärme“ des Dungs verbleibe und mit dem geheimnisvollen Menschenblut genährt werde, entstehe nach vierzig Wochen „ein recht lebendig menschlich Kind“, das jedoch viel kleiner sei als ein natürliches. Auf die Frau wird also verzichtet. Bis 1875 (Entdeckung der weiblichen Eizelle) galt, dass allein der Vater für die Nachkommenschaft bestimmend sei.

Insofern nun Homunculus nur aus „dem Sperma des Mannes“ bzw. aus einem spirituellen Prozess hervorgeht, der Mann aber in philosophischen Schriften etwa von Anaxagoras oder Aristoteles mit dem Verstand, mithin der prägenden Form, der strukturierenden Kraft korrelliert ist, muss der ohne stoffliche Weiblichkeit Geborene zwangsläufig geistiges Potenzial in Reinkultur aufweisen.

Und in der Tat, der frei von störender Weiblichkeit in vitro erzeugte Homunculus verfügt durchweg über herausragende geistige Fähigkeiten, die er auch bei Goethe demonstriert, wenn er als reines Geistwesen in der Phiole über die Bühne schwebt. Zum einen vermag er sich in Fausts Traum einzuschleichen und ihn als „die lieblichste von allen Szenen“ auszulegen, spielt sich in ihr doch eine weitere mythische Zeugung ab, nämlich die der schönen Helena, deren Mutter Leda von Zeus höchstpersönlich, „der Schwäne Fürsten“, beglückt wird; zum anderen ist er in der Lage, den Helena begehrenden Faust in die Antike zu geleiten. So bewährt sich Homunculus als Traumdeuter, Reiseleiter und Allheilnittel, d h. er nimmt genau die Aufgaben wahr, die die Alchemie dem Stein der Weisen zuschreibt (Homunculus wird auch als Stein der Weisen gesehen).

Dennoch empfindet er vom Augenblick seiner Entstehung an ein starkes Unbehagen an seiner Körperlosigkeit, die ihn als unvollkommenes Erzeugnis alchimistischer Laborarbeit stigmatisiert. Eben deshalb vermischt er sich, seinem „Bildungstrieb“ folgend, zum Höhepunkt des zweiten Aktes in der Klassischen Walpurgisnacht mit den Wellen des Meeres, aus dem das Leben „entsprungen“ ist, bevor es sich „in tausend, abertausend Formen entfaltet“ – und holt damit für sich die Evolution nach. So setzt Goethe der Urzeugung, der Entwicklung von Organismen aus anorganischen Stoffen im Labor das organische Wachstum „nach ewigen Normen“ in der Natur entgegen – das ist für das volle Menschsein unabdingbar.