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Tränen, Tugend und Religion – August Hermann Niemeyer als Leser Klopstocks

Vortrag von Dr. Christian Soboth, Halle, am 16. Oktober 2018

Auch August Hermann Niemeyer, 1754 geboren, 1828 verstorben, Urenkel und als Direktor der Glauchaschen Anstalten Nachfolger August Hermann Franckes, war ein Leser Klopstocks, „[a]uf dessen hohes, unerreichtes Lied/ Dem Knabenauge schon die Trän‘ entfloß“, wie 1778 die Widmung von Niemeyers Gedichten formuliert. Ob nach des Knabenauge auch noch des Mannesauge Tränen entflossen sind, sei der bescheidene Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die schlichte Frage, deren Beantwortung wegen der Fülle des Materials lückenhaft ausfallen wird, lautet: Was macht Niemeyer mit sich, indem er mit Klopstock und mit dessen Werk umgeht? Sind die bei Niemeyer für die Jahrzehnte von 1770 bis 1800 manifesten Klopstock-Spuren lesbar als Zeugnisse einer Identitätsmodellierung im Zeichen fortdauernder Verehrung?

Die Geschichte der Klopstock-, vor allem der Messias-Lektüren ist auch eine Geschichte von Kuriositäten und Peinlichkeiten: Lessing überfiel feierliches Gähnen; Moritz, in der romanesken Brechung des Anton Reiser, litt während der Lesung des Messias unter einer entsetzlichen, beklemmenden „Leerheit der Seele“. Goethes Mutter dagegen ging mit Freundinnen, zu denen auch Susanna Katharina von Klettenberg gehörte, zu Ostern in Klausur, um den Messias zu meditieren. Enthusiasten verehrten Klopstocks Mutter als eine heilige Frau und feierten mit dem Tod Christi und dem Beginn der Messias-Niederschrift die zwei bedeutendsten Tage der Geschichte der Christenheit, und schließlich äußerte ein Fan, was Herder in Rage brachte, dass die Christen Klopstock anzubeten hätten, wenn es nicht Christus gäbe.

Wirkungsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass neben faktischen auch fiktive Klopstock-Lektüren stehen: Lotte und Werther, wenn nicht die berühmtesten Klopstock-Leser, so doch berühmtesten Klopstock-Sager, brechen bei Nennung des heiligen Namens in Tränen aus, auf das stimmigste begleitet von einem heftigen Sommergewitter mit starkem Regenfall.

Klopstock war ein rechter Wundermann, er verwandelte (Wein-)Wasser in Wein. Nach einer tränenseligen Messias-Lesung vor Ludwigsburger Handwerkern im Frühjahr 1776 schreibt der reich entlohnte Klopstock-Rezitator und -Herausgeber Christian Friedrich Daniel Schubart an den Dichter: „Da konnt‘ ich […] manch gutes Glas Wein auf Ihre Gesundheit trinken.“ Im tränenverhangenen Blick der ergebenen Gemeinde geriet die Grenze zwischen Gegenstand, Buch und Autor mitunter ins Schwimmen.

Seit den 1750er Jahren gehörte die Lektüre von Klopstocks Werken zu den Grundfesten der oratorischen Schulung auf dem Pädagogium Regium des Halleschen Waisenhauses. Niemeyer, von 1760 bis 1771 Zögling der Einrichtung, die er später als Direktor leiten sollte, hatte Klopstocks Werk schon während der Schulzeit und im anschließenden Studium, durch den Philosophen und Klopstock-Anhänger Georg Friedrich Meier, kennen und lieben gelernt.

Begegnungen von Klopstock und Niemeyer haben – abgesehen von Niemeyers Besuchen in Hamburg 1776 und 1798 – lediglich auf dem Papier stattgefunden, in unterschiedlichen Textsorten und literarischen Gattungen: die wenigen überlieferten Privatbriefe, die von 1775 bis 1784 zwischen Hamburg und Halle gewechselt wurden, die 1778 veröffentlichten Oden, die den Gedichten in der Ausgabe von 1783 beigegebene Abhandlung Über Dichtkunst und Musik in Verbindung mit der Religion, die im Umkreis von Klopstocks Konzept einer heiligen Poesie am Oratorium das Verhältnis von Literatur und Musik ausschreitet, das von Niemeyer 1785 kompilierte Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und die erstmals 1790 herausgegebene, auflagenstarke Sammlung neuer geistlicher Lieder. Ein Anhang zu Johann Anastasius Freylinghausens Gesangbuch, schließlich die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts von 1796 und abschließend die Briefe an christliche Religionslehrer (im zweiten Teil der 2. Auflage von 1803). Nebenbegegnungsschauplätze sind ein verschollenes Gemälde von Caroline Bardua, Niemeyers Klopstock-Würdigung und Berichte von dessen Beerdigung und der Säkularfeier seines Geburtstages im Hallischen patriotischen Wochenblatt (24.02., 3.03.1821;17.07.1824) sowie 1828 – Niemeyers eigenes Begräbnis auf dem halleschen Stadtgottesacker.

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach Niemeyers Arten und Weisen des Umganges mit Klopstock sei schon jetzt gegeben: Hatte das Knabenauge über und dank Klopstock geweint und auch noch das des Jünglings, das Männerauge ist trocken geblieben. Niemeyer hat kein lebenslang identifikatorisches Verhältnis zu Autor und Werk unterhalten. Dem hochtemperierten Beginn folgt eine nicht unerhebliche Abkühlung. Niemeyers Klopstock-Begeisterung bleibt jubilatorisch von den frühen 70er bis in die mittleren 80er Jahre. 1774 schreibt Niemeyer an seinen späteren Schwiegervater Friedrich Köpken, Klopstock sei „der größte Dichter […], der vielleicht gelebt hat“ und lediglich mit den antiken Autoren zu vergleichen. Einher geht die Begeisterung mit einer regen dichterischen Produktion, Niemeyer schreibt Gedichte, Erzählungen und religiöse Dramen (Abraham, Lazarus, Thirza und ihre Söhne, Mehala), die ausdrücklich im Zeichen des adorierten Meisters stehen. Wenn annähernd zu datieren, fällt der Scheitel- und Scheidepunkt in die Jahre 1784/85: Niemeyer wird zum Ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät, zum Inspektor des Königlichen Pädagogiums und Mitdirektor des Waisenhauses ernannt. Der Dichter Niemeyer räumt Zug um Zug dem Amts- und Würdenträger den Platz und die Distanzierung von Klopstock, bzw. die Distanzierung von der frühen Klopstock-Begeisterung setzt ein, bzw. die Begeisterung wandelt sich in ein sehr besonderes wissenschaftliches Interesse an einem Autor und dessen Werk, die sich unschätzbare Verdienste um eine Nationalsprache und eine Nationaldichtung der Deutschen erworben haben, aber dem Leser zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Herz rühren, es moralisch bewegen oder religiös erschüttern können. Wie stellt sich diese Verwandlung des Interesses dar?

Niemeyers Klopstock-Lektüre ist nicht stumm geblieben, sie hat sich Ausdruck verschafft, einen Ausdruck freilich, den Niemeyer mit einer Heerschar von Klopstock-Begeisterten der Zeit geteilt und zudem vom Meister selbst gelernt hat. Niemeyers Briefe lesen sich wie Klopstock-Briefe. Obwohl von Sprachnot ist die Rede ist, greift ein Überschwang, der von Tränensturzbächen unterlegt ist. Anbetungs-Klischees finden sich gehäuft in den wenigen überlieferten, in der Historisch-Kritischen Klopstock-Ausgabe abgedruckten Briefen.

Die Niemeyer-Briefe aus den Jahren 1775 und 1777 seien im Folgenden genauer betrachtet. Sie sind in Ton und Tenor exemplarisch, und das nicht allein für Niemeyers den Meister spiegelnde und bestätigende postalische one-way-Beziehung zu Klopstock. Der mit unerschöpflichem Eifer und in verstiegenster Weise angerufene Dichter hat, wenn überhaupt, in der Regel kurz und bündig geantwortet. Niemeyer hat am Ende der Korrespondenz knapp zwanzig (nachgewiesene) Zeilen in den Händen gehalten.

Am 14. Oktober 1775 erreicht Klopstock ein Brief aus Halle, der im Zeichen des biblischen Wortes von der „Fülle des Herzens“ (Mth. 12,34 und Luk. 6,45) und der reichlich geweinten Tränen steht, mit denen sich der Briefschreiber zwischen den Klopstock-Weinenden des Jahres 1774, Lotte und Werther … platziert. Während im Werther der Ort, zu dem die Tränen abfließen, ungenannt bleibt, ist es bei Niemeyer … in stupender Übereinstimmung der Messias, den „aus meinem Auge so manche Thräne der Tugend und des edlen Entschlusses“ benetzt. Eine von der Schrift hervorgerufene Beweinung der Schrift hat statt, deren diffuse biblische Kontextualisierung in Niemeyers Brief nicht von ungefähr an die Beweinung Christi erinnert. Die Aura des poetischen Vorwurfs springt über auf das Buch, das zum Gegenstand der tränenreichen Verehrung wird. Zugleich plausibilisiert und authentifiziert die Träne die Begeisterung des Lesers für den Autor und dessen Werk: „Und Gott! du weißt daß ich nicht heuchle, siehst ja die Thräne hörst das Flehn, daß so oft vor dir um unaussprechlichen Segen für Klopstock bittet.“ (6.02.1777) Der so oft und gern gegenüber pietistischer Frömmigkeit erhobene Vorwurf der Heuchelei wird von der Träne gleichsam weggewaschen, womit nicht gesagt sei, Niemeyer sei noch ein Pietist reinsten Wasser gewesen wie sein Urgroßvater.

Die Klopstock gedankte Fülle des Herzens und die dem erfüllten übervollen Herzen entströmenden Tränen versucht Niemeyer nahe dem gesprochenen oder besser dem geschluchzten Wort zu verschriftlichen. Zu den aussagekräftigen Topoi der frühen Briefe gehört der vom Versagen der Sprache infolge der Überwältigung durch die von der Klopstock-Lektüre hervorgerufenen Empfindungen. In Sorge, die der Sprachnot abgerungene Wortwahl und Wortfügung werden unangemessen sein, und, weil unangemessen, affektiert oder geheuchelt wirken, bevorzugt Niemeyer – freilich wortreich beschworen – statt des geschriebenen Wortes das beredte Schweigen. Der Konnex von Empfindungsreichtum und Sprachnot spricht unbedingt für die Qualität von Klopstocks Werk, er spricht für das Gelingen der Lektüre und so zugleich für die Empfindsamkeit des Lesers.

Klopstocks Position im Briefwechsel ist unstrittig: Niemeyer folgt und verfällt den (Selbst-)Stilisierungen, den (auto)hagiographischen Strategien, und er reproduziert sie, wenn er 1777 – bezeichnenderweise an Klopstock – zur Bestätigung und Legitimierung von dessen Autorschaft schreibt, dass „Gott durch Sie so viel that, so viel Freuden schaffte.“ Niemeyers Ergebenheit kulminiert in der Erhebung des Messias-Autors zum Messias. Klopstock ist ein, wenn nicht für den zerdehnten Augenblick der Niederschrift des Messias das bevorzugte Werkzeug Gottes. Dementsprechend jubilatorisch formuliert Niemeyers Brief von 1775: „Ich kann nicht länger schweigen, verehrungswürdiger Mann! Es mag Enthusiasmus, es mag zu kühne Freyheit, es mag Andringlichkeit scheinen – mein Herz weiß es beßer, daß es nichts von dem allem ist.“ Wenn nicht das, was dann, fragt sich der Leser. Die Antwort lautet: „Nichts als eben dis warme, zu mächtige Gefühl von Danck und Hochachtung um es in das Herz zu verschließen, ists was mich schreiben heißt.“ Klopstock weckt einen wortreichen Enthusiasmus in seinem Leser, der versetzt in einen höheren Geisteszustand selbst schöpferisch und zum Dichter wird. Die Rhetorik des Briefs wird angereichert um das biblische Motiv vom Zungen-Reden bzw. dem Oralität inszenierenden Zungen-Schreiben auf Befehl und durch Inspiration. Eine im 18. Jahrhundert, bei Goethe, bei Lenz und Lavater nicht seltene Inszenierungsformel für den Dichter als überwältigten „Laller seines Gefühls“. Dank und Hochachtung gelten, wie schließlich im Weiteren expliziert wird, dem Lehrer Klopstock, dem Niemeyer die „würdigsten Begriffe von der Religion“ und das „Bild reine[r], vollkommener wahrer Tugend“ schulde, „danach ich mich wenigstens gern bilden möchte“.

Mit Blick auf Niemeyers Sozialisations- und Bildungskontext des Halleschen Waisenhauses formuliert der Urenkel August Hermann Franckes kühne Sätze: Er verschiebt die entscheidende Prägung und Bildung zu Frömmigkeit und Tugend aus dem genuin Religiösen ins Ästhetische, in die Literatur, auch wenn der Literatur, bzw. der Poesie in Klopstocks von Niemeyer mitgetragenem Sinn der Anspruch eignet, eine heilige zu sein. Zwischen Christus und den zur Nachfolge gestalteten Lebensweg schiebt sich in der Rolle einer prägenden und zur Nachfolge ermunternden Instanz Klopstocks literarisches Werk.

Die Frage, ob Niemeyer mit derartigen Funktionszuschreibungen an die Poesie gegen den waltenden Geist des Waisenhauses und der Theologischen Fakultät in der frühen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts opponiert hat, ist wohl zu stellen, aber nicht präzise zu beantworten. Der genannte Geist hat in der Forschung noch keinen klaren Kontur gewonnen. Dass sich die Verhältnisse an Waisenhaus und Universität wie auch deren Bezug zueinander geändert hatten, ist anzunehmen. Grundsätzlicher: Ist für die Zeit zur und nach der Jahrhundertmitte bezüglich des Halleschen Waisenhauses und der Theologischen Fakultät noch sinnvoll von Pietismus oder pietistischen Rudimenten zu sprechen? Das auszuloten und zu konturieren, ist eine interdisziplinäre Herausforderung für die Kirchengeschichte und die Historische Pädagogik, die Philosophiegeschichte und die Literaturwissenschaft. Festzuhalten ist, dass der junge Niemeyer Klopstocks Messias auf Augenhöhe mit der Bibel bringt.

In dem Assoziations- und Allusionsfeld der Briefe versucht Niemeyer im Prozess des Schreibens zu einer Selbstbeschreibungsidentität zu gelangen. Infolge von Klopstocks messianischer Überhöhung ist Niemeyer nicht allein der vereinzelte Anbeter in Klausur, er ist vielmehr ein Jünger und Apostel seines Gottes und von dessen Werk. In der Rolle eines Petrus, der jedoch den Herrn nicht verrät, sondern im Gegenteil der Welt bekannt macht, berichtet Niemeyer, wie er „unter Zwang dreimal den heiligen Namen“ auf Bogen für Freunde oder Publikum habe notieren müssen. Niemeyer stiftet und versucht mit dem Autor eine perfekte Kommunikationsgemeinschaft zu etablieren, in die weitere schon zu Klopstock Bekehrte oder noch zu Bekehrende einbegriffen werden. Die genaue Kenntnis von Klopstocks Werk, die persönliche Bekanntschaft und der briefliche Austausch mit dem Dichter bieten Formeln zur Selbststilisierung, die aus der Stilisierung des verehrten und geliebten Meisters resultieren und auf ihn bezogen sind. Im Glanz des Gottes sonnt sich der Jünger und kommt zu Ruhm. Vor allem die von Klopstock brieflich erwiesene Wertschätzung bestätigt und zeichnet Niemeyer im Freundeskreis aus. Klopstocks Zuneigung verschafft Akzeptanz und Anerkennung. Der studiosus theologiae Niemeyer der 1770er Jahre führt ein Leben im Lichte Klopstocks, durch ihn wird Niemeyer für sich selbst und für die Gemeinschaft Gleichgestimmter als Person identifiziert und sichtbar. Lesen wir die Briefe als Dokumente der (Er-)Zeugung des Subjekts durch den Akt der Lektüre, dann mögen Klopstock und dessen Werk für Niemeyer, der nach dem frühen Tod der Eltern bei einer Ziehmutter, Sophie Lysthenius, aufwuchs, Vater und Mutter zugleich gewesen. Sie haben ihn die würdigsten Begriffe von Religion und Tugend gelehrt und – in Form der Tränenseligkeit –seine Empfindsamkeit geschult.

Lediglich für einen kurzen brieflichen Augenblick gerät das klar geordnete Verhältnis zwischen Autor und Fan in Unordnung. Nachdem Niemeyer über dem und über den Messias geweint hat, empfindet er den „brennenden Durst“ nach Hamburg oder Karlsruhe zu Klopstock zu reisen, „nur um Sie (Sperrdruck) zu sehen, nur aus Ihrem (Sperrdruck) Munde eine Versicherung Ihrer Güte zu hören“: Formulierung und Kontextualisierung alludieren Christi Leiden am Kreuz, der den irdisch/himmlischen Ersatz-Vater um Gnade und Erlösung von der Gottesferne anfleht.

Ich hatte es angedeutet: Klopstocks Briefe sind gemessen an Niemeyers aus- und tiefgreifenden Ergüssen kurz, knapp, nüchtern und ergebnisorientiert. Niemeyer erklärt sich bereit, in Sachen Klopstock mit dessen Verleger Hemmerde in Halle Verhandlungen zu führen, Klopstock nimmt das Angebot an und erteilt Niemeyer Aufträge. Das muss nicht weiter ausgeführt werden. Misslichkeiten und Verwerfungen zwischen dem ausgesprochen akribischen Anwalt seines eigenen Werkes und einem eher genervten Verleger bleiben nicht aus.

Das beredte Schweigen, die bruchlose Adaption von Klopstocks Sprache sowie die Aufnahme von dessen Anregungen sind wesentliche Aspekte von Niemeyers über Klopstocks Autorität gewonnenem Verhältnis zum Wort, aber es sind nicht die einzigen und nicht die wegweisenden. Zur Erzeugung des Subjekts in der Funktion und im Amt eines Jüngers und Apostels gehört auch die Genese von Niemeyers eigener Autorschaft aus dem Klopstock geschuldeten Enthusiasmus, die freilich mittelbar und unmittelbar auf Klopstock bezogen ist. Mittelbar, weil sich Niemeyer in Gattung, Semantik, in Syntax und poetischem Gestus an Klopstock orientiert; unmittelbar, weil Person und Werk Klopstocks auch thematische Vorwürfe von Niemeyers lyrischer Produktion sind. Die entsprechenden Gedichte, vor allem aus der Klopstock gewidmeten Ausgabe von 1778, legen davon, wenn nicht ein gelungenes, so doch beredtes Zeugnis ab.

Bereits im ersten Brief von 1775 hatte Niemeyer den Versuch unternommen, die Fülle des Herzens, die Tränenflut und das drohende Versagen der Sprache durch Verse aufzufangen und zu bannen. „Der kennt nicht meinen ganzen Danck / Dem es da noch dämmert / Daß, wo sich in voller Empfindung die Seele ergießt / Da nur stammlen die Seele kan.“ Die ausgesuchte Lexik, der verdrehte Satzbau, der rhythmisierte (und nicht ganz elegant) strömende Vers, die Zeilensprünge substituieren den im Brief protokollierten, semantisch aufgeladenen Tränenfluss. Der physiologische Effekt der Lektüre drängt zur poetischen Sprache, er wird – ansatzweise – sinnhaltig eingeholt und in Worten an den Verursacher zurückerstattet.

Ausgebaut wird der lyrische Auftakt in der 1778 veröffentlichten, bereits 1775 entstandenen An Klopstock betitelten Ode, deren Kontextualisierung der Wertschätzung des Dichters klar Ausdruck verleiht. Der Band öffnet mit der Ode An Gott, der die Klopstock gewidmete Ode folgt und schließlich die An das Vaterland gerichtete Ode: ein lyrisches Tryptichon, in dessen Klopstock zugedachter Mitteltafel auch Gott und Vaterland präsent sind. Ich zitiere:

„Zwanzig Lenze dahin! Immer noch schmacht’ ich / Fern und einsam nach Dir! Nannte beym Namen dich / Oft in Stunden der Wonne, / Rief Dir, rief Dir, und fand dich nicht! //

Wenn vom thauenden Stern, über des Schlummernden / Auge Ruhe sich goß, schwebte die Denkerin, / In der Täuschungen Irre / Hin zum säuselnden Palmenhayn, // Sah dich wandeln, – so sieht, was er am Abend hofft, / In der Dämmrung der Nacht täuschend der Schlummernde – / Flog schon zitternden Fluges / Dir entgegen, umfasste dich, // Bis der Morgen mich weckt’ – ach dann umarmt’ ich noch / Lang das theure Phantom, breitete zitternde / Arme bang ihm entgegen und faßt’ es nicht. // Hättest du rinnen gesehen, rinnen die seligen / Thränen sanften Gefühls, hätt’ ich mit lauterem / Sanft verstummendem Danke, /Dich an das schlagende Herz gedrückt, // Sänger Gottes! O Du, der im gewaltigen / Hymnenflug, in Psalmen über die Erde mich / Hob, im Liede, wie keins nicht, / Hamus hört und Olympia! // Wie der Wandrer am Quell, nach den Umarmungen / Seines Vaterlandes ringt – ach es wird säumender / Oft noch glühn im Westen, / Eh er im Arme der Gattin ruht, – // So ringt dürstend mein Herz nach den Umarmungen / Unter den Palmen, wo Gott wandelt im Abendkühl, / Daß du lächelnd mich segnest, / Du mich segnend der Laufbahn weihst. // Sieh! Schon schwimmt mir im Blick seliges Vorgefühl! / Seh ich ihn kommen – ihn nah, da du mich segnen kannst? / Schwebt vom goldnen Olympus / Schon hernieder der Wonnetag? (1778)

Die intertextuellen, miteinander verschränkten Bezüge zu antiker Mythologie und Bibel (vor allem zu den Psalmen und den Evangelien mit christologisch-messianischen Motiven) sind deutlich, ebenso die formale, die semantische, die syntaktische und motivische Nähe zu Klopstocks Gedichten. Zentraler Gegenstand ist die erhoffte, im Traum zum Greifen nahe, im Augenblick des morgendlichen Erwachsens zur Illusion verflüchtigte, aber schließlich doch – nach der mystischen Devise: Sehnen macht sehen – in den Blick gerückte unio, die Umarmung mit Gott. Aber ist es der christliche Gott? Der Anfang des Gedichts alludiert die eingangs genannte Szene aus dem Werther. Niemeyers lyrisches Ich will keiner von dem im Werther gescholtenen Unwürdigen sein, die den heiligen Namen Klopstock nennen. Das lyrische Ich ruft den „Sänger Gottes“ an, um durch dessen Umarmung der Laufbahn (der dichterischen wie ergänzt werden darf) geweiht zu werden. Eine geichtete Bitte um Initiation in die Dichtung, wobei der Sänger Gottes als ein Mittler in Erscheinung und Funktion gerufen wird. Christlich gesprochen und zugleich antikisch perspektiviert: „Niemand kommt zum Gedicht denn durch mich.“

Dass Niemeyer nicht zeitlebens ein Verehrer und Lordsiegelbewahrer Klopstocks geblieben ist, habe ich erwähnt. Als Beleg mögen die Klopstock-Bearbeitungen im Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und in der Sammlung neuer geistlicher Lieder dienen. Was 1796 die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts im Kapitel Wahl des Lehrstoffes unter der Zweyten Regel: Fortschreiten vom Leichten zum Schweren explizieren werden, ist in den vorausgehenden pädagogisch gebundenen Anthologien Praxis. Klopstocks Lieder, da sie – zu Gellerts Fabeln in Wortwahl und Wortfügung „dem Ideenkreise und der Empfindungsart der Kinder“ „fern“ stehen – werden umgeschrieben. Ein Übergriff, den Klopstock erstaunlicherweise nicht kommentiert hat, weil er ihm vielleicht verborgen geblieben ist. In der 2. Strophe von Klopstocks Morgenlied heißt es: „Dank dir Herr! zu dir hinauf / führ mich jeder meiner Tage, / jede Freude, jede Plage.“ Niemeyer formuliert: „Dank sei dir, zu dir hinauf / müsse jeder Tag mich leiten, / zur Unsterblichkeit bereiten.“ Erhard Hirschs Beobachtung, Niemeyer habe Klopstocks ‚volkstümliche Einfachheit‘ zu ‚akademischer Abgeblaßtheit‘ verschlimmbessert, ist durchaus zutreffend. Gemäß dem freilich später in den Grundsätzen geäußerten Vorbehalt gegenüber Klopstocks Wortwahl und -fügung sind dessen „Freude“ und „Plage“ griffiger als Niemeyers „Unsterblichkeit“. Indem ein auf Halleschen Kurs gebrachter Klopstock in den Kanon des Waisenhaus-Liedgutes aufgenommen und in den Schulunterricht integriert wurde, verschaffte sich die Institution einen in der Wirkung nicht gering zu schätzenden ear-catcher für ihr Konzept von Erziehung und Bildung und – Frömmigkeit.

Pädagogisch verwertet wird Klopstock in den Grundsätzen auch in Sachen Leibesertüchtigung. Behandelt wird neben dem Gehen, Laufen und Tanzen, dem Stelzengehen („macht dreist, gewandt und ist in manchen Ländern unentbehrlich. Nur auf Treppen hat es leicht Gefahr“) auch Springen, Klettern, Ringen, Werfen, Balancieren, Schwimmen, Reiten und Schlittschuhlaufen. Niemeyer orientiert sich an Johann Christoph Friedrich GutsMuths Schrift zur Körperlichen Erziehung, und er zitiert Johann Peter Francks Medicinische Policey, die keine Bewegung kennt, „die dem Körper zuträglicher wäre und ihn mehr stärken könnte. – Reine Luft, stärkende Kälte, Beschleunigung des Laufs der Körpersäfte, Anstrengung der Muskeln, müsse auf Leib und Geist gleich wohlthätig wirken.“ Niemeyer ergänzt: „Klopstocks Gedicht Der Eislauf und die Kunst Tialfs sind Beweise, das es bis zur Ode begeistern kann.“

Wenn die Tränen, die der Messias (VIII, 425) in eine metaphorische Analogie zum Erlösungsblut Christi und dem eigenen Wort- und Tintenstrom setzt („Furchtbar strömte das Blut der Versöhnung.“), den Quell bieten, aus dem sich Niemeyers verschiedenartig verbalisierte anfängliche Klopstock-Begeisterung speist, dann ist die Quelle mit den Briefen für Religionslehrer in der 2. Auflage von 1803 weitgehend versiegt.

Gegen die ehemals hauseigene Theologie und Frömmigkeit kritisiert und verwirft Niemeyer, der sich selbst als denkender Christ bezeichnet, den uniformierenden Bekehrungsprozess urgroßväterlicher Provenienz, dem die Träne als Beleg und Beweis galt. Die Träne hat als untrügliches Zeichen der Rührung, der Reue und Bekehrung, ausgespielt.

Man würde aber auch in neueren Zeiten, nicht so oft von Kanzeln und in Erbauungsschriften die bekannten Worte des Dichters, von den ‚weichgeschaffnen Seelen, die nicht lange fehlen können und von den thränenlosen Sündern die beben sollen‘ wiederholt haben – die wenigstens dem Buchstaben nach geradezu den Schöpfer anklagen, der nicht alle weich erschuf, und wodurch Thränen – diese zweydeutigsten unter allen Zeichen der Besserung [bezeichnenderweise spricht Niemeyer nicht von Bekehrung, sondern von moralischer „Besserung“] – zum Wahrzeichen eines Menschen gemacht werden, zu dem man noch Hoffnung haben könne.

Zugespitzt auf eine tränenselig-schwammige Kunst, deren Effekte für die intendierte moralische Besserung des Menschen unergiebig sind, fährt Niemeyer fort:

Daß der Dichter sich diese Folgen nicht dabey dachte, ist hier gleichgültig. Genug daß man so unbestimmte Ausdrücke, die noch dazu die herzergreifende Melodie, welche ein Künstler wie Graun mit ihnen zu verbinden wußte, zu Lieblingsworten macht, die gefährliche Täuschung befördern, schnelle Rührung für Ablegung der Fehler zu halten, den aber, dessen Auge die Thränen versagt sind, an sich selbst irre zu machen. Dichtersprache ist immer bedenklich, wo so viel auf Wahrheit der Begriffe ankommt.

Statt für Autonomie der Kunst plädiert Niemeyer für deren Re-Pragmatisierung im Erziehungsprozess. Die Kunst hat sich der moralischen Besserung in Form einer neologisch über- bzw. verformten Bekehrung funktional zu- bzw. unterzuordnen und entsprechende Verbalisierungsregeln zu beachten. Im Einvernehmen mit dem Pädagogen-Kollegen Johann Heinrich Campe formuliert Niemeyer eine entschiedene Kritik an der zur Empfindelei verkommenen Empfindsamkeit. Wer die Träne, wie dies 1784 der Physiognom Joseph Perteny getan hatte, zum Ehrenzeichen und Tugendbeweis des Empfindsamen erklärt, übersieht laut Niemeyer nicht allein, dass der Mensch „auch zur Zeit seiner moralischen Wiedergeburt, seine natürliche Beschaffenheit [behält]“. Das eigentliche Skandalon ist für Niemeyer, dass die seelische Vielfalt als göttliche Schöpfung zugunsten einer überdies manipulier- und inszenierbaren Gemütshomogenität, die sich in Tränen zeigen solle, in Abrede gestellt wird.

Die Briefe schließen mit einer Würdigung Klopstocks anlässlich von dessen Tod. Der 23. Brief, der den „Verlust für die Freunde der Religion“ bekannt macht, datiert – ein übler Verdrucker – vom 24.03.1802. Bevor Niemeyer das Wort ergreift, zitiert er einen ungenannten Zeitgenossen des Jahres 1801, der die Frage erörtert, warum der „große Sprachwohltäter der Nation“ (und nicht etwa der Dichter) sein Publikum verloren habe. Die Antwort lautet, dass zur Mitte des Jahrhunderts kein Interesse mehr an Religion und an religiöser oder religiös fundierter Dichtung bestehe. Klopstock, der im Zuge der Verinnerlichung und der Emotionalisierung des Glaubens zu einer Herzens- und Privatsache den wortlosen Empfindungen der Zeitgenossen eine Sprache gegeben habe, die moralischen und ästhetischen Ansprüchen gerecht geworden sei, habe den Lesern des Jahres 1801 nichts weiter zu sagen. Während nämlich die antike Mythologie, die nach wie vor wesentlicher Grundstock der literarischen Produktion sei, der Phantasie entstamme und das Gefühl für die Kunst anrege, handele es sich bei der christlichen Mythologie, der Klopstocks Messias von dem ungenannten Zeitgenossen zugerechnet wird, um ein Produkt der Spekulation und der Dogmengläubigkeit.

Dieser Ursachenforschung in Sachen Publikumsschwund hält Niemeyer entgegen, Klopstock biete weder Dogmen noch arbeite er an einer christlichen Mythologie, er stelle nicht einmal die Passion und den Tod Christi dar, sondern er inszeniere empfindsame Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster von an der Passion Beteiligten. Das Bemerkenswerte an Niemeyers Messias-Lektüre im Jahr 1803 ist deren emotionsgeschichtliche Akzentuierung. Niemeyer liest mit den trockenen Augen eines Wissenschaftlers. Über den Messias sind Einsichten in das, wie Niemeyer unter Verwendung eines Begriffs von Herder formuliert, „Empfindungssystem der Vergangenheit“ zu gewinnen, sowohl auf der Grundlage der im Messias dargestellten als auch auf der Grundlage der durch die Lektüre generierten Empfindungen. Jedoch gehören die dargestellten und die erlesenen Empfindungen der Jahrhundertmitte an, sie sind nicht mehr aktuell. Welche Empfindungen 1803 empfunden werden und wie sie zu versprachlichen wären, fragt und sagt Niemeyer leider nicht. Niemeyer betreibt, was heute kulturwissenschaftlich up to date ist: historische Emotionsforschung. Das besagt: Gefühle fallen nicht vom Himmel, sie sind nicht einfach da, sondern sie werden kulturell, sozial geformt und sind wandelbar. Und zu den formenden Kräften gehört selbstverständlich auch die Kunst, die Literatur. Diese bilden also nicht Gefühle nur ab, sondern gestalten und prägen Gefühle. Gefühle verändern sich in der und durch die Geschichte hindurch, sie sind historisch und müssen, um verstanden zu werden, historisiert, d.h. in ihrem jeweiligen Entstehungs- und Wirkungskontext gesehen werden.

Die aus der Substanz des Messias heraus erforderliche Historisierung des Werks nicht vollzogen zu haben, macht Niemeyer schließlich den Kanzelpredigern zum Vorwurf. Predigten im Übergang zum 19. Jahrhundert haben nämlich nicht mehr, jedenfalls längst schon nicht mehr ausschließlich das Gemüt zu bewegen oder das Herz zu erschüttern oder zu rühren, Predigten sollen belehren und einen Nutzen für den Verstand erwirken. Dennoch schade maßvolle Klopstock-Lektüre nichts, wenn es – und hier folgt Niemeyer Georg Friedrich Meiers Kunst zu predigen von 1772 – um eine didaktisch geschickte, ästhetisch gefällige Präsentation der Religion im Zeichen von Sittlichkeit und Tugend geht.

Der von Niemeyer gewünschten Historisierung des im Messias gebotenen „Empfindungssystems“ entspricht die Historisierung der eigenen Messias-Lektüre. Die Erinnerung an die enthusiastische Jugendlektüre bereitet Niemeyer „unangenehme Empfindungen“. Klopstock ist ein Fremder für das Herz und zugleich ein interessanter Gegenstand für den Kopf geworden.

Niemeyer begeht keinen Vatermord, unternimmt aber auch nichts um den Nachruhm des einst teuren Verblichenen zu mehren. Geschätzt bleibt Klopstock wegen der hohen Kunst, Empfindungen versprachlicht zu haben, die jedoch keine dreißig Jahre nach Abschluss des Messias schon der Vergangenheit angehören. Zudem konturiert sich die sprachliche, ästhetische Leistung in Abgrenzung von der kalten, abstrakten Sprache der Philosophie, sie wird nicht unbedingt aus sich selbst heraus gewürdigt. Niemeyer schließt: „Die Epoche der religiösen Dichtkunst ist vorüber.“ Soweit die überlieferten Äußerungen des späteren offiziellen Niemeyer zum Messias. Ob der Privatmann nicht doch heimlich, still und leise bei dessen Lektüre geweint und wie hoch oder tief er z.B. Klopstocks Oden geschätzt hat, ist unbekannt.

Resümierend ist zu sagen: Niemeyer hat sich von Klopstock freigeschrieben. An die Stelle des feuchten ist das trockene Auge getreten, an die Stelle des emphatischen und empathischen Leserausches des unordentlichen Schülers und Studenten die abgeklärte und abwägende, historisch-kritische Analyse des ordentlichen Professors, an die Stelle der rückhaltlosen Identifikation die pädagogisch-rhetorische Verwertungsperspektive.

Niemeyer ist zu Staub geworden, und Klopstock wohl auch. Konkurrenz in Sachen Nachruhm und Fortleben sei vermieden. Dennoch muss abschließend auf zwei Tatbestände hingewiesen werden: Über unseren Köpfen kreist in einer mittleren Entfernung von 355 Millionen Kilometern von der Sonne im inneren Bereich des Asteroidengürtels der Planetoid (9344), der am 12. September 1991 von den Astronomen Börngen (Jena) und Schmadel (Heidelberg) entdeckt und am 2. Februar 1999 in den Minor Planet Circulars auf den Namen Klopstock getauft wurde. Und schlussendlich: Unter www.logh.net/guide/loghg009.htm findet sich ein Verzeichnis galaktischer Helden, The Legend of the Galactic Heroes Guide mit einer Klopstock Incident genannten Seite, die einen weißbärtigen bombenwerfenden und königsmordenden Klopstock präsentiert. Klopstock strikes back, möchte man angesichts der Vernachlässigung des Dichters durch die Leserschaft vermuten, womit Lessings Mahnung, den Dichter zu lesen, außerordentlich Nachdruck verliehen ist.

 

Herbstausflug nach Altenburg und Posterstein

Uns erwartete ein schöner Ausflug. Im Altenburger Lindenau-Museum machten wir uns mit der Geschichte des Hauses vertraut. Weiterhin standen im Mittelpunkt der Führungen die Gipsabgusssammlungen sowie die einzigartige Sammlung frühitalienischer Tafelbilder, die größte ihrer Art nördlich der Alpen.

Stimmungsvoll gestaltete sich unser Besuch des Postersteiner Auenhofs. Bettina Martin hatte alles liebevoll vorbereitet. So konnten wir uns nach Herzenslust beim Altenburger Bauernkuchen und bei deftigen Speisen stärken. Sodann erfreute uns das Trio „Sanssouci“ (Geige, Cembalo, Piccoloflöte) mit Musik, insbesondere aus der Barockzeit. Es war ein sehr schönes, gelungenes Konzert. Führungen durch den Kräutergarten schlossen sich an-

So verlebten wir einige frohe, gesellige Stunden.

Goethes evolutionäre Reise – zur Modernität des Goethe’schen Homunculus

Vortrag von Dr. Manfred Osten, Bonn,  am 4. September 2018

Wir verspielen die Chancen, jemals das Glück zu erkennen. Wer diese Situation beginnt und fortführt, ist Faust. Die „Sorge“ haucht ihn an: Es ist die Krankheit zum Tode. Davon ist unser 21. Jahrhundert betroffen. Es herrscht eine totale Blindheit hierüber. Alles bewegt sich in Richtung digitaler Demenz, in einem Prozess, in dem wir unser Gedächtnis in den digitalen Speichern ablegen. Das „alte“ Gedächtnis wird liquidiert. Dies widerspiegelt sich in der Szene mit Philemon und Baucis und dem Wanderer, der nichts anderes als Zeus selbst ist. Es wird alles zerstört, auch Zeus selbst. Die Idylle ist dahin. Vollstrecker sind drei brutale Gestalten: Raufebold, Habebald und Haltefest.
Den historischen Hintergrund bildet der Reichsdeputationshauptschluss 1803, der das alte Europa auflöst und damit auch das „europäische Gedächtnis“ auslöscht. Als Konsequenz folgt eine ziemliche Verdüsterung, die Goethe bereits ahnt. Er hat dabei auch die Ergebnisse der Französischen Revolution und ebenso die beginnende Industrialisierung im Blick. Es handelt sich bei beiden um eine irreversible Weltveränderung.Eine nie dagewesene Beschleunigung in Produktion, Konsumtion und im Transportwesen hebt an. Damit geht eine ungeheure Unruhe des Menschen einher.
Heute kommt eine Beschleunigung in der Kommunikation hinzu. Daraus folgt eine totale Überforderung des Menschen. Die Empathie geht dabei verloren. So gilt für die Moderne, worüber schon Goethe urteilte: „Alles ist jetzt ultra.“ – „Keiner kennt sich mehr.“ Damit wird ebenfalls ein Prozess der Selbstentfremdung eingeleitet. Goethe ahnt, dass der Mensch diesen Überforderungen nicht standhalten wird. Er warnt in den „Ernsten Scherzen“ (Brief an Wilhelm von Humboldt) vor einer versuchten Optimierung des Gehirns; vor allem die neuronale Kompetenz ist dafür nicht gegeben.
Warum dies nicht funktionieren kann, zeigt sich in Faust II in der „Kaiserpfalz“. Dort erfolgt durch Mephisto eine Geldschöpfung ohne Wertschöpfung, eine Virtualisierung des Geldes. Dieser Vorgang kann von niemandem mehr reguliert werden. In seiner extremen Form entspricht dies heutigen Finanzmärkten, wo Maschinen Geldflüsse in Sekundenbruchteilen steuern. Wir sind aber durchaus nicht in der Lage, hochkomplex zu denken, wie es in diesen hochfrequenten digitalen Apparaturen geschieht. Die globale Geldschöpfung erhöhte sich nach dem 2. Weltkrieg um das 40-fache, die Wertschöpfung lediglich um das Vierfache. Die Renditen gehen ins Uferlose, während die Renditen aus Arbeit gegen Null tendieren. So wird es bis 2030 die Hälfte aller Berufe gar nicht mehr geben.
Es wächst somit die Möglichkeit vielerlei Entgrenzung. Dies kommt in den Worten des Marschalls zum Ausdruck: „Welch Unheil muss auch ich erfahren. Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr…“ Wir sind also in der Lage, immer mehr zu fordern, als produziert werden kann. Goethe sieht durchaus auch irreversible Folgen durch ungehemmte Ausbeutung fossiler Brennstoffe voraus. Doch all dies hat seinen Preis: „Tags umsonst die Knechte lärmten, Hack und Schaufel, Schlag um Schlag; Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, Stand ein Damm den andern Tag. Menschenopfer mussten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuergluten, morgens war es ein Kanal.“ Biotope trocken zu legen, bringt Unheil, wie auch die Eingriffe in die Ozeane. Eine gigantische „Landgewinnung“ wurd ja auch im „Faust II“ beschrieben. Vormals wurde ein Viertel des Kohlendioxids vom Meer aufgenommen, doch die Meere versauern zusehends und dies irreversibel. Mephisto (an Faust) beschreibt diesen Prozess: „Du bist doch nur für uns bemüht, Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; Denn du bereitest schon Neptunen, Dem Wasserteufel, großen Schmaus. In jeder Art seid ihr verloren; – Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.“
Abschied von der alten Welt, heißt Abschied nehmen von der Realität. So, wie in der „Kaiserpfalz“ virtuelles Geld geschaffen wurde, so werden wir selbst die ganze Welt virtualisieren. Wir sind Produkte der Medien und ihrer digitalen Giganten. Uns umfängt das Bängliche, wir sind verstrickt in den Netzen; ihnen sind wir ausgesetzt, sie werden uns umgarnen. Diese virtuelle Welt führt uns schon Goethe vor.
All dies sind im Grunde genommen nicht nur ökonomische, sondern auch neuropathologische Entwicklungen. Deren Gefahren gestaltet Goethe im „Faust II“. Nachdem alle reich geworden sind, müssen sich alle nur noch amüsieren. Hierhin führt auch das leistungslose Grundeinkommen, das nur noch Amüsement übrig lässt. Das Symbol des „Dreifußes“ für die Mütter steht dafür; was wir hier und auch auf der Leinwand, in dem Fernsehbildern und auf den Smartphones erleben, ist die ungeheure Brutaölität, sex and crime; auch der Raub der Helena durch Paris im „Faust“ illustriert dieses Geschehen. Und Faust hält, was geschieht, für die Realität. Er versucht, Paris zu verprügeln, um Helena zu befreien. Es misslingt, er sinkt bewusstlos zu Boden. Mephisto muss ihn retten, es bleibt eine Schattenwelt: „Mit Narren sich zu beladen, kommt der Teufel gar zu Schaden.“
Von großer Bedeutung in diesem Spiel sind wie erwähnt Goethes „Ernsthafte Scherze“ . Diesen „wissenschaftsutopischen Gespenstern“ (in der Gen-Werkstatt des Menschen) begegnet Goethe in seinen „Scherzen“ mit tiefgründiger, bitterer Ironie. Er fordert damit vor allem jene Distanz des Menschen gegenüber sich selbst ein, die er als notweniges Korrektiv versteht angesichts seiner Einsicht: „An ihm (dem Menschen) nichts wahr ist, als dass er irrt“.
Ausgangspunkt für den Paradigmenwechsel der Homunculus-Thematik ist die revolutionierende Harnstoffsynthese Wöhlers 1828; ihm gelang es, aus organischer Materie diesen organischen Stoff zu gewinnen. Nun ist es erwiesen, dass Eingriffe in die Gene möglich sind; es wird sie verändern, um sie zu optimieren. Genau dies wird die Idee des Homunculus.
Famulus Wagner erweist sich hierbei als Gen-Designer. Hier wird ein Mensch gemacht. Wagner: „Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war, Erklären wir für eitel Possen.“
Das Ziel bleibt ein optimiertes Hirn. Aber Homunculus erweist als als nicht lebensfähig, weil er nur in seiner Phiole schweben, keinesfalls aber die reale Welt betreten kann.
Allerdings gibt es Schnittstellen zwischen den Neurowissenschaften und der Kybernetik, um Gedanken lesen und bestimmen zu können. China hat eine solche Möglichkeit mittels Sensoren bereits entwickelt Falls das Leistungsvermögen absinkt, kann dies sofort korrigiert werden.
Homunculus ist hierzu fähig,allerdings ist er überhaupt nicht zufrieden, er möchte ein vollständiges Wesen sein. So gelingt das Experiment nicht vollständig, dennoch zeigen sich Faust und Mephisto überrascht, was mit ihm gelang.
Zum vollständigen Wesen gehört freilich auch das Wissen um die eigene Herkunft, das historische Gedächtnis, was Homunculus fehlt. Dies widerspiegelt die „Klassische Walpurgisnacht“. Mephisto begleitet ihn dorthin, verweist auf die Notwendigkeit, 1500 Jahre zurück in die Vergangenheit zurückzugehen. Homunculus erwirbt Herrschaftswissen über Zukunft und Vergangenheit, weist zurück zu den „Überresten“ des Altertums. Aber er ist bereits der einzig Wissende, der ihn noch kennt, den Weg zur „Klassischen Walpurgisnacht“. Er weiß zugleich, warum er diesen Weg einschlägt. Hier nämlich, wo sich sein diabolischer Geburtshelfer Mephisto als Ignorant erweist und folglich verhöhnt wird, sucht Homunculus nichts Geringeres als das, was in der Bioethik-Debatte inzwischen als Grundrecht des Menschen diskutiert wird: das Recht auf Existenz. Und nichts wünscht sich der halbfertige Homunculus mehr, als vollkommen auf die Welt zu kommen. Darauf wurde bereits hingewiesen.
Osten vermerkt: „Er (Homunculus) will seine eigene Zukunft gestalten. Und er will sie dialektisch meistern durch Rückgriff auf die fernste Vergangenheit, auf die Antike. Es ist ein Versuch, bei dem er Mephisto und Faust weit hinter sich lässt. Sie haben in dieser Zukunft nichts mehr zu suchen …
Homunculus lässt hierbei sogar die fortschrittsgläubige Optimierungsbesessenheit des ungeduldigen Projektemachers Faust hinter sich. Denn Faust verwechselt am Ende einen (Entwässerungs-) Graben mit seinem Grab und bleibt damit beiden Konstanten der Menschheitsgeschichte treu, die Goethe … diagnostiziert hatte als Torheiten und Schlechtigkeiten, das heißt Irrtum und Gewalt als Resultate übereilten Denkens und Handelns.“
Die Szene geht zurück zu den frühen griechischen Philosophen; Thales wird eingeführt. Er wendet sich an Homunculus mit einer Verheißung: „Gib nach dem löblichen Verlangen, Von vorn die Schöpfung anzufangen! Zu raschem Wirken sei bereit! Da regst du dich nach ewigen Normen, Durch tausend, abertausend Formen, und bis zum Menschen hast du Zeit.“
Die Warnung folgt auf dem Fuß, durch Proteus: „Komm geistig mit in feuchte Weite, Da lebst du gleich in Läng und Breite, Beliebig regest du dich hier; Nur strebe nicht nach höhern Orden;
Denn bist du erst ein Mensch geworden, Dann ist es völlig aus mit dir.“
Folglich scheitert Homunculus, die Phiole zerschellt am Muschelwagen der Galatee. Er wird ausgeschlossen, weil er das Festgelage antiker Gestalten in der Welt stört.
Goethes letztes Wort? Wir brauchen nicht die erneuerte Evolution. Wir können in selbstvergewissender Erkenntnis der Überforderung entgehen, indem wir uns selber auf ganz andere Weise optimieren können, nämlich zur Askese, zum asketischen Staunen. Dies muss man üben, üben, üben (Nietzsche).
Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, der Mensch muss zunächst seine Organe belehren. Wenn er dies nicht tut, sinkt er unter die Tiere. Damit wird der Barbarei der Weg bereitet, warnt Goethe im „Faust“. Dann lebt der Mensch nur nach seinen Affekten (Spinoza). Gewalt, Gier, Ungeduld treiben uns zu ständigem Fitnesszwang. Doch eigentlich sind wird durch die kulturelle Revolution domestiziert worden. Ohne sie ginge vieles verloren. Daher muss der verständige Mensch sich mäßigen, um glücklich zu sein, lautet Goethes Botschaft an die digitalisierte Welt. Jegliche Maßlosigkeit steht unter dem Fluch der Natur. Dies schlägt Mephisto in den Wind. Er pocht auf maßlose virtuelle Wünsche und Forderungen, für die er selbst nichts leistet: schnelles Geld, schnelles Handeln, schnelle Liebe (Gretchen für Faust) alles muss rasch geschehen. Enttäuschungen bleiben nicht aus. Aber wie soll man glücklich werden in einer Lage dauernder Verzweiflung? Faust umtreibt all die Dinge, die Wirklichkeit geworden sind, aber: „Nachts erscholl des Jammers Qual ..“ So verwechselt er seinen Fortschrittsglauben (vermeintlicher Entwässerungsgraben) mit seinem, dem eigenen Grab. Eine Warnung.
Dagegen steht Lynkeus der Türmer. Er zeigt Möglichkeiten auf, wie man glücklich leben kann, indem man ein Leben in Achtsamkeit und in der Anschauung führt. Damit gelingt Übereinstimmung von Mensch und Natur. Dies läuft auf Entschleunigung hinaus. Es liegt in unserer Hand, uns so weit wie möglich den Überforderungen zu entziehen. Wir müssen die Phänomene geduldig ansehen, daraus entwickeln wir das Glück. Aber unserer Welt ist momentan die Empathie verloren gegangen. Daher gilt unsere ständige Aufmerksamkeit den drohenden Verdüsterungen des Lebens, denen wir durch sittliches – gutes – Handeln begegnen müssen.
Dies ist die Gegenwelt, die Lynkeus sieht – im Gegensatz zu den furchtbaren Handlungen, die Faust unternimmt. Faust meint: Herrschaft gewinnen, ist Eigentum. Damit ist das 21. Jahrhundert vorweggenommen. Lynkeus ist anderer Ansicht: Durch Aufmerksamkeit ( für Natur und Mensch, für uns selbst) wird Eigentum generiert. Erst der nach innen gewendete Blick schafft wahres, unveräußerliches Eigentum. Goethe: „Ich weiß, dass mir nichts angehört. Als der Gedanke der ungestört. Aus meiner Seele will fließen …“

Auf den Spuren Goethes in die Schweiz

„Auf den Spuren Goethes in der Schweiz“

Im Oktober 2014 wurde unsere Erfurter Goethe-Gesellschaft gegründet. Seit dieser Zeit haben wir viele interessante Vorträge, Debatten und Exkursionen erlebt, die alle von unserem Vorsitzenden Bernd Kemter organisiert wurden. In diesem Jahr sollte uns unsere Studienfahrt auf Goethes Spuren in die Schweiz führen. Am 13. Juni 2018, morgens um 7.45 Uhr, kam der Bus mit den Geraer Goethe-Freunden am Erfurter Domplatz an. Nun waren wir 26 Reisende zu Goethes Erinnerungsorten.
Unsere erste Station war Hünfeld, eine mittelalterliche Stadt, in der wir u. a. das vor kurzem errichtete Goethe-Denkmal besichtigten. Hier erfuhren wir auch, dass der in Hünfeld gebürtige Prof. Konrad Zuse den ersten Rechenautomaten der Welt, den Computer, erfand. Er stellte ihn 1941 in Berlin vor.
Unser nächster Halt galt Sessenheim mit einem Besuch des kleinen Goethe-Museums, des Goethe-Memorials und selbstverständlich der „Goethe-Scheune“.
Kemter las uns Geschichten, Geschehnisse vor, die sich um Goethe und Friederike Brion rankten, ebenso einige „Sesenheimer Lieder“. In diesem Ort lernte er die Pfarrerstochter kennen, sie lieben, er pflegte einen regen Briefverkehr mit ihr. Auch neue dichterische Einfälle, eine neue geistige Sicht erhielt er durch diese Liebe, d. h. er schrieb und dichtete über das „Liebesidyll“ in Sessenheim.
Auch über den Ort selbst erzählte uns Kemter Geschichtsträchtiges. Hier hatten sich die „Sassen“ aus dem Elsass, die „sesshaften Leute“ also, niedergelassen. 1341 gab es also schon das Dorf Sessenheim (Goethe schrieb es lieber mit einem s) mit einer uralten, schönen Kirche, die wir uns ansahen, es gibt ein weiteres Gotteshaus. Nach dem Aufenthalt in Sessenheim fuhren wir weiter nach Mulhouse, um im dortigen Novotel zu übernachten.
Am nächsten Tag, dem 14. Juni, war Biel unser nächstes Reiseziel. Nach kurzer Stadtbesichtigung fuhren wir weiter, unserer Schiffsreise zur Petersinsel entgegen. Sie dauerte leider nur zehn Minuten. Hier, auf der grünen Insel, wanderten wir zu einem Kloster mit Cafe, denn wir hatten nach der Wanderung den Wunsch nach einer Pause mit Mittagsimbiss.
Auf der Petersinsel, so erfuhren wir, hielt sich zeitweise der streitbare Philosoph Jean Jacques Rousseau auf. Näheres über sein Leben erfuhren wir wieder von unserem Reiseleiter, der uns während der Weiterfahrt im Bus einige Kapitel aus seinen „Bekenntnissen“ und dem „Gesellschaftsvertrag“ vorlas.
Der Bus fuhr nun von Neuveville nach Lausanne. Hier im Novotel in Lausanne Bussigny waren drei Übernachtungen gebucht.
Am Freitag, dem 15. Juni, fuhren wir mit dem Bus Richtung Genf, machten aber in Rolle einen kurzen Stadtbummel, denn auch hier war Goethe gewesen. Fasziniert hat uns ein uraltes Schloss am See, welches Louis II. de Savoie um 1319 erbauen ließ. Gegen 9.45 Uhr kam unser Bus in Genf an. Mit einer örtlichen Reiseführerin begann ein Altstadtbummel. Genf ist die zweitgrößte Stadt der Schweiz und zeigt einige Besonderheiten. So ist das Rathaus – bedingt durch den See – zweigeteilt, eine Brücke verbindet beide Seiten. Eine weitere Besonderheit erblickten wir: eine Blumenuhr, sehr schön! Eine Kathedrale konnten wir ebenfalls besichtigen. Zwischen 1160 und 1250 wurde sie im romanischen und gotischen Stil erbaut. 1536 wurde sie nach der Reformation evangelisches Gotteshaus.
Nun besichtigten wir das Rot-Kreuz-Museum und erfuhren hierbei, dass 1864 im Genfer Rathaus die Konvention des Roten Kreuzes unterzeichnet und diese Organisation damit gegründet wurde.
Weitere Institutionen, die hier in der Schweiz ihren Sitz haben, sind zum Beispiel: der zweite Hauptsitz der UNO (193 Mitgliedsstaaten), die Weltgesundheitsorganisation, die Genfer Flüchtlingskonvention UNHCR, der Weltkirchenrat, das IOC,
Nach dem Museumsgang besuchten wir Park und Schloss Ferney, das Goethe während seiner zweiten Schweizreise besucht hatte.
Am Sonnabend, dem 16. Juni, stand auf unserem Programm eine Stadtführung in Lausanne mit einem örtlichen Stadtführer. Lausanne, einst ein Dorf, ist heute eine schöne, alte Stadt mit einer Metro, Fünf-Sterne-Hotels, Parkanlagen, Olympischem Museum. Vier offizielle Landessprachen sind hier vertreten: 64 Prozent Deutsch, 23 Prozent Französisch, acht Prozent Italienisch und 0,5 Prozent Rätoromanisch sowie weitere.
Wir besichtigten den Dom, der 1275 erbaut wurde und sahen sehr moderne und viele uralte Häuser – eine wirklich sehenswerte Stadt! Auch Goethe war natürlich hier und wusste diese Stadt zu schätzen. Sie besteht aus Ober- und Unterstadt, nur durch Treppen und Tunnel, auch durch Brücken verbunden.
Danach fuhren wir weiter zur Weinverkostung nach Lavaux – und per Schiff ging es wieder zurück ins Hotel.
Am Sonntag, dem 17. Juni, nahmen wir Abschied von der Schweiz, fuhren über Bern, Zürich, um beim Rheinfall Schaffhausen einen Halt einzulegen. Fantastisch, was die Natur hier geschaffen hat, es wurde seinerzeit auch von Goethe bewundert. Während unserer Rückreise gab es für alle eine Überraschung: Frau Kemter hatte ein Picknick organisiert – unentgeltlich – worüber wir uns alle freuten und bedankten. Spendiert wurde es übrigens vom Reisebüro TRI TOURS.
So konnten wir gestärkt an unseren Heimatorten Erfurt und Gera eintreffen. Es war eine sehr schöne, erlebnisreiche Reise.
Renate Dalgas

Goethe und Eckermann

Vortrag von Otti Planerer am 8. Mai 2018

Über allen Gipfeln ist Ruh …
Eckermann und Goethe – Blasrohr und Flöte – so spottete der Dichter Nikolaus
Lenau über die beiden, denn sie waren so verschieden, wie diese zwei
Blasinstrumente. Es war das Verhältnis des Anhängers zu seinem Idol, der
schwachen zur starken Persönlichkeit. Darüber sprach die Referentin.
Eckermann war nie Goethes Sekretär, wie oft behauptet wird. Herablassend nannte
Goethe ihn den „braven Eckermann, der eine einfache, reine Seele“ ist.
Wie die Referentin sagte, habe Jens Sparschuh über die beiden ein vergnügliches Buch geschrieben „Der große
Coup“. Der große Coup, das ist die Suche von Goethe und Eckermann nach möglichen
letzten Worten von Goethe auf dem Sterbebett, die als unsterblich der Nachwelt
hinterlassen werden sollen.
Aus Eckermanns Verzweiflung bei der Suche nach dem passenden Satz für den großen
Coup und Goethes Eitelkeit, ist ein sehr vergnügliches Buch geworden.
Die Gespräche zwischen den beiden sind frei erfunden, fügte die Referentin hinzu und empfahl die Lektüre.

Ausflug nach Kulmbach

Schönes Wetter hatten wir uns für diesen Ausflug am 21. April 2018 nach Oberfranken gewünscht – und wir bekamen es. Um 7.30 Uhr startete der Bus vom Erfurter Hauptbahnhof nach Gera, wo die Geraer Goethefreunde schon warteten. Nach herzlichen Begrüßungen aller Vereinsmitglieder sowie durch unseren Vorsitzenden Bernd Kemter und seiner Ehefrau Angelika fuhren wir nun unserem Ziel – Kulmbach – entgegen. Zwei Stunden lang fuhren wir durch eine herrliche, erwachende Natur – Frühlingszeit.
In Kulmbach angekommen, wurden wir herzlich von Klaus Köstner, Mitglied des dortigen Literaturvereins, empfangen und herzlich begrüßt. Es folgte eine Überraschung: Wir begaben uns zum Frühlingsfest auf den Marktplatz und wurden ALLE zu einem Bratwurst- oder Käsebrötchenessen von den Kulmbacher Freunden eingeladen. Alles war bestens organisiert. Wir freuten uns sehr über diese kleine Überraschung und bedankten uns herzlich bei Klaus, und damit bei den Kulmbacher Freunden.
Dann stellte er uns den Stadtführer, Herrn Bergmann, vor, der uns seine sehr schöne Heimatstadt, ihr geschichtliches Werden und Wachsen zeigte, erklärte und erzählte.
Los ging’s am Mönchshof-Museum zum Luitpoldbrunnen auf dem Marktplatz zum „Kleinen Rathaus“. Es besitzt eine schöne Rokokofassade – erbaut 1752. Nicht weit entfernt liegt der Burgberg mit der Plassenburg – seit 1340 Eigentum der Hohenzollern. Dann sahen wir ein Reformator-Denkmal von Johann Eck. Der war Freund von Martin Luther und in Kulmbach tätig. Hier, in Kulmbach sind 72 Prozent aller Einwohner evangelische Christen, wie uns der Stadtführer erzählte. Wir kamen an einem uralten Badehaus vorbei, es wurde 1398 erstmals erwähnt und sahen ebenso ein Prinzessinnenhaus – bewohnt Mitte des 18. Jahrhunderts von der in Ungnade gefallenen ledigen Bayreuther Prinzessin Christiane Sophie. Im Jahre 1516 wurde eine Schützengesellschaft gebildet, die dann in den folgenden Jahren Schützenfeste veranstaltete. Zahlreiche wunderschöne alte Kirchen und Burgen stehen in und um Kulmbach, zum Teil in Kriegen zerstört, aber immer wieder aufgebaut.
Nachdem wir einen kleinen Berg erstiegen hatten, stand vor uns die einzige katholische Kirche „Unserer lieben Frauen“. Hier endete die Stadtführung, und wir fuhren zum Museumskomplex, der ein Bäckerei-, Brauerei- und Gewürzmuseum beherbergt. Alls hatten die Wahl der Besichtigung. Da Kulmbach berühmt war und ist für seine Brauereien, zog es natürlich viele von uns ins Brauereimuseum. Begeisterung pur bei uns allen!
Am Nachmittag fuhren wir zur Frankenfarm bei Himmelkron. Hier gab es ein reichliches Büfett von Schnitzel-Variationen. Großartig!
Etwa um 19 Uhr traten wir die Rückfahrt an. Es war eine sehr erlebnisreiche Reise – sehr gut organisiert, wofür wir dem Kulmbacher Literaturverein herzlichst DANKE sagen.
Renate Dalgas

Von der schlesischen Nachtigall zur preußischen Sappho – Anna Louise Karsch

Vortrag von Prof. Hannelore Scholz-Lübbering, Berlin, am 10. April 2018

Wer in Berlin die evangelische Sophienkirche in Mitte (Spandauer Vorstadt) besucht, findet an der Nordwand eine Erinnerungstafel mit der Inschrift: „Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach ‚Kennst Du, Wanderer sie nicht, so gehe und lerne sie kennen’.“
Auch wenn sie heute aufgrund feministischer Forschungsbemühungen punktuell im Wissenschaftsdiskurs zu finden ist, Neuauflagen ihrer Gedichte vorliegen (Barbara Becker-Cantarino), der Briefwechsel nicht nur mit Gleim wichtige Aufschlüsse gibt und die „Sapphischen Lieder“ eine bemerkenswerte Lücke in der Publikation ihrer Werke schließen – das Phänomen Karschin gilt es noch genauer zu entdecken. Dies gilt insbesondere für ihr Leben und Wirken in Schlesien und Polen.Zu ihrer Zeit war sie eine bekannte Größe nicht nur im Berlin Friedrichs des Großen. Sie wurde von Dichtern und Kritikern wie Gleim, Gerstenberg, Sulzer, Ramler oder auch Nicolai als Naturtalent und „Wunderfrau“ gepriesen. Goethe schätzte sie und selbst Fontane fand Spuren in Tamsel und lobte ihre Briefe als ein „vortreffliches Zeitbild“.
In der Karsch-Forschung ist auffällig, dass von Beginn an ihr Schreiben mit Blick auf ihr Leben Beachtung fand. Es sind auch weniger die Gedichte, obwohl einige heute noch durchaus ihren Rang behaupten können, sondern vor allem ihre Briefe, die ihr tägliches Leben, ihr Denken, ihre Gefühle offenbaren und damit eine bemerkenswert unkonventionelle Frau und ein lebendiges Zeitbild vor uns erstehen lassen.
Dass Leben Schreiben ist, ist uns auch von anderen schreibenden Frauen im 18. Jahrhundert bekannt. Die Karsch oder auch Karschin, wie sie genannt wurde, ist aber die einzige Autorin in dieser Zeit, die aus dem vierten Stand stammt und von der schlesischen Kuhhirtin zur europäisch anerkannten Autorin avancieren konnte. Das wiederum gelang nicht nur durch Lieder, Einfälle und Briefe, sondern auch durch sehr geschickt inszenierte Anpassungsstrategien und Selbstinszenierungen.
In meinem Beitrag möchte ich ihre Anpassungsstrategien im Kontext ihrer Lebenssituationen und Schreibmotivationen beleuchten.E s geht um Brüche und Kontinuitäten in ihren zwei entscheidenden Lebens- und Schreibzusammenhängen: Schlesien/Polen und Berlin.
Mit ihrer Übersiedlung 1761 in die Residenzstadt Berlin prägten Preußen und sein kulturelles Klima ihr Dichten und ihr Wirken. Dieses Preußen war durch den Siebenjährigen Krieg einer Nationalisierung ausgesetzt und in den europäischen Aufklärungsdiskurs eingebunden. In diesem Kontext erregt das Werk der Karschin nicht nur nationales Aufsehen, sondern auch europäisches.
Mein Interesse gilt den Fragen: Welche Strategie entwickelte sie als Regionaldichterin und Grenzgängerin zwischen Schlesien und Polen? Wie gelang es ihr, das Dichten im preußischen Berlin so wirkungsvoll zu präsentieren, dass sie, wenn auch nicht üppig, davon leben konnte?
In „Belloisens Lebenslauf“ schreibt die Karschin über sich:
„Ich ward geboren ohne feierliche Bitte
Des Kirchspiels ohne Priesterflehn
Hab ich in strohgedeckter Hütte
Das erste Tageslicht gesehn,
Wuchs unter Lämmerchen und Tauben
und Ziegen bis ins fünfte Jahr
[…]
Die Lerche sang für Belloisen,
Und Belloise sang ihr nach.
Die Nachtigall in Elsenssträuchen
Erhub ihr süßes Lied, und ich
Wünscht’ ihr im Tone schon zu gleichen.“
Die Texte „Nachtigallen singen ihre Klagen“ oder „Klagen einer Braut an ihre Nachtigall“ sind poetische Klagelieder.
„Du Sängerin geheimer Klagen,
Geliebte Nachtigall! du singst;
Ach, laß dir meinen Kummer sagen,
Daß du ihn in Gesänge bringst!“
Die Karschin stilisiert sich als schlesische Nachtigall, bisweilen um die Nähe zur Natur zu betonen, und ihre fehlende Bildung auch im Bild der „Lerche“.
„Ohne Muse, ohne Kunst und Schriften
Singt die Lerche, schwebend in den Lüften,
Unaufhörlich ihr pindarisch Lied!
Unter ihr in früher Tagesstunde,
Singt mit bäurisch vollgenommenem Munde
Auch die Einfalt, welche Furchen zieht.“
Ihre sehr rege Phantasie treibt bisweilen seltsame Blüten. Sie brüstet sich mit kämpferischen patriotisch-nationalen Kriegsliedern, pathetisch klingenden Oden und kann gleichzeitig mit heiter-ironischem anakreontischen Geplänkel verblüffen. Eine „Wunderfrau“, die erstaunen lässt.
Anna Louisa Dürbach wurde am 1. Dezember 1722 in Hammer in der Nähe von Züllichau in der Grafschaft Glogau geboren. Sie war das dritte Kind des Bierbrauers und Schankwirts Christian Dürbach, der eine abgelegene Meierei in der Nähe der polnischen Grenze gepachtet hatte. Ihre Mutter war eine Försterstochter, die Analphabetin war, aber gut singen und tanzen konnte. Der Großonkel lehrte sie Lesen, Schreiben, Rechnen und etwas Latein. Knapp sechzehnjährig hat man sie mit dem älteren, wohlhabenden, aber geizigen Kauf- und Handelsmann Michael Hiersekorn verheiratet. Vier Wochen nach der Vermählung schrieb sie ihr erstes überliefertes Gedicht „Neujahrswunsch an den Rinderhirten“.
Adressat ist der Rinderhirte Johann Christoph Grafe, ihm verdankt sie ihre weiteren Bildungserlebnisse. Er lieh ihr Bücher, wohl auch selbstverfertigte Verse. Zu ihm entwickelte sie eine intensive, ein Leben lang anhaltende Freundschaft. Es ist sicher kein Zufall, dass er genau zu dem Zeitpunkt von Tirschtiegel nach Schwiebus übersiedelt, als Hiersekorn seine noch nicht 20-jährige Frau hochschwanger (mit dem vierten Kind) aus dem Hause jagt. Es ist vermutlich die erste Scheidung in Preußen. Sie zieht nach Schwiebus.
1742 fiel Schwiebus an das preußisch gewordene Schlesien, und damit erlangten die Einwohnerinnen und Einwohner auch ihre Religionsfreiheit zurück. Ihre Zeit von 1722 bis zu ihrer Abreise nach Berlin hat Ernst Josef Krzywon akribisch beleuchtet und Interpretationen zu auserwählten Liedern geliefert.
Von den 49 Texten aus schlesisch-polnischer Zeit entfallen
sechs auf die Schwiebuser Zeit (1738 bis 1749),
drei auf die Fraustädter Zeit (1749 bis 1755),
28 auf die Glogauer Zeit (1755 bis 1761).
Ihre Texte sind aufschlussreiche Spiegelungen ihres Lebens und ihrer Umwelt und bieten von daher Material für Einblicke in das bäuerliche Leben in der Grenzregion. In diesem Rahmen ist die Gelegenheitsdichtung aus weiblicher Perspektive zu bedenken.
1749 heiratete die 27-Jährige den Wanderschneider Daniel Karsch. Sie siedelten in das polnische Fraustadt (Wszowa) über. Die Stadt war stark deutsch geprägt, Deutsch war auch Amtssprache. Dies war eine entscheidende Voraussetzung zur Weiterentwicklung von Karschins Lese- und Schreibpraxis. Durch Pastor Herold befördert, dessen Predigt sie in Reimverse übertrug und in dessen Gegenwart sie erste Proben ihrer Improvisationskunst gab, erlangte sie rasch regionalen Dichterinnenruhm vom polnischen Lissa (Leszno) bis zum preußisch-schlesischen Glogau. Aus bitterer Not und aus Freude am Fabulieren wurde sie zur deutsch-polnischen Grenzgängerin, die als Wander- und Bettelpoetin in bürgerliche Häuser geladen ihre Reimkunst zu allen möglichen Anlässen zum Besten gab.
Durch Vermittlung las sie die Werke des von Goethe geschätzten schlesischen Lyrikers Christian Günther (1695-1723), Johann von Bessers (1654-1729) und Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769). Sie beschäftigte sich mit Klopstocks „Messias“. Edward Youngs „Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit“ beeindruckten sie tief.
Sein Lob des spontanen und intuitiven Dichtens, die Verachtung der Gelehrsamkeit und sein Kult des Originalgenies als Werk der Natur mussten bei ihr auf Sympathie stoßen.
Wesensverwandter waren der Karschin wohl aber die Gedichte ihres Landsmannes Günther, der wie sie eine besondere Rolle in der Literaturgeschichte spielt. Er wie sie schrieben Gedichte auf Bestellung, lebten als freiberuflich Dichtende und kämpften zeitlebens vergeblich um eine sichere Existenz.
Diese Lektüre sowie das Lob ihrer Freunde inspirierten die Karschin zu noch intensiverem Schaffen und führte zum ersten Druck des verschollenen „Hochzeitsliedes“ für den Postmeister Körber aus Lissa: „…mein Genie war jetzt gleich einem Vogel, der zum ersten Mal sich seiner Gabe zu fliegen bewusst ist“.
Sie wird ihre Leseerfahrungen wie ihre Bildung überhaupt verschweigen, um das Naive, Unbewußte ihrer Liederproduktion zu betonen. Mit dieser Strategie konnte sie mehr Bewunderung erreichen, die Wirkungsabsicht gelingt über Jahre so gut, dass sie 1762 an Sulzer schreibt: „Sagen Sie, meiner ganzen lobsprechenden freundlichen Welt, daß sie aufhören soll, mich ein Wunderwerk zu nennen.“
Ein bemerkenswertes Gedicht aus Karschins Fraustädter Zeit ist die zwölfstrophige Ode „An Se. Majestät den König von Polen“, die als Lob-, Staats- und Heldengedicht im Sinne der heroischen Panegyrik inhaltlich wie formal ganz in der Tradition der sogenannten Hofpoeten um Canitz, Besser, Amthor, Pietsch und vor allem Johann Ulrich von König (1688-1744) steht. Es folgte ein weiteres Preisgedicht auf Kurfürst Friedrich August II., der als August III. zugleich König von Polen war.In Schwiebus sang die Karschin ein Lob auf Friedrich, jetzt preist sie den Polenkönig.
An Friedrich:
„ O Land! vergiß des Schröckens Streiche,
Und laß die Freude würksam sein;
Doch frag dein Herz, wenn du dich freuest,
Ob du des Friedrichs würdig seiest.“
Für ihre euphorische Bewunderung Friedrichs, „der Größte aller Großen“, wie sie ihn nennt, gebrauchte die Karschin eine Vielzahl von Metaphern, Epitheta und Topoi, die seit langem in der lyrischen Rechtfertigungstradition des Krieges und im Sprachreservoir des Herrscherlobs vorgeprägt waren. Für die Karschin der Glogauer Zeit – und darin stimmte sie sogar mit Gottsched überein – besaß der Herrscher, ob er nun August III. oder Friedrich II. war, die Weihe des Gottesgnadentums und die Würde göttlicher Sendung, die sich auch im Feldzug und vor allem in Siegen offenbarte. Die Idee des weisen und mächtigen Friedensfürsten, dem Ehrfurcht und Lob gebührt, gab ihrer Dichtung die entscheidende Sendung und auferlegten Selbstauftrag. Ihre Lobgedichte auf Friedrich waren deshalb keineswegs nur fürstendienende Schmeichelei, sondern bewusste Überhöhung der Wirklichkeit.
In der Abfolge der Siege Friedrichs schrieb und publizierte die Karschin ihre Glogauer Kriegsgedichte, angefangen von Lobositz (1. Oktober 1756) über Leuthen (5. Dezember 1758) und Torgau (3. November 1760).Die gedruckten Flugschriften dieser Kriegslyrik verbreitete n sich rasch, zum Beispiel die Ode „Freudige Empfindungen redlicher Herzen“.
Wenn die Karschin gerufen wurde, bediente sie sich des Klischees einer armen Schneidersfrau, die mit Körbchen am Arm um Almosen betteln musste. Ein Fremder, der die Identität der Wanderpoetin nicht kannte, gibt ein anschauliches Bild: „Eine Schneidersfrau in Glogau […] war es. […]sie hat damals auf den Sieg bey Leuthen eine Ode gemacht, die gewiß schön war. Ich habe vierzehn Exemplare davon an meine gutten Freunde verschickt. Wir ließen sie einige Tage nach dem Dankfest in eine Gesellschaft rufen. Sie kam, ein Körbchen in der Hand, theilte Exemplare unter uns aus und fast einem jedweden einen Vers, der sich auf seinen Zustand schickte. […]Es war ein fatales Porträt […] hässlich wie die Erbsünde!“
Neben geistlicher Lyrik, Kriegslyrik und Herrscherlob schrieb die Karschin in der Glogauer Zeit viele Gelegenheitsgedichte profaner wie sakraler Art. Vorherrschend waren Hochzeits- und Trauergedichte, die den Unterhalt der Familie sichern sollten. Oft erhielt sie Naturalien, Kleidung, kleinere Spenden.
Nun zur preußischen Sappho in Berlin. „Es hat sich hier im Bereiche des Geschmacks eine wunderbare Erscheinung gezeigt: eine große Dichterin, die blos die Natur gebildet hat und die, nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht. […] Sie besitzt einen ausnehmenden Geist, eine sehr schnelle und sehr glückliche Vorstellungskraft. […] Ich zweifle sehr, ob jemals ein Mensch die Sprache und den Reim so sehr in seiner Gewalt gehabt hat, als diese Frau. Sie setzt sich in einer großen Gesellschaft unter dem Geschwätz von zwölf und mehr Personen hin, schreibt Lieder und Oden, deren sich kein Dichter zu schämen hätte […] darunter viele sind, welche in der griechischen Anthologie eine gute Figur machen würden.“
Mit dieser überschwänglichen Begeisterung kündigt Sulzer dem Dichter und Kritiker Bodmer in Zürich die Ankunft der Karschin in Berlin an. Sie wird wie eine Sensation aufgenommen, mit Neugier beäugt und mit Gunstbezeugungen in Adels- und Bürgerhäusern überschüttet. Das verwundert aus heutiger Sicht auch deshalb, weil sie dem weiblichen Schönheitsideal des 18. Jahrhunderts keineswegs entsprach.Sie war so hässlich, dass Lavater sie in die „Physiognomik“ mit den Worten aufnahm „Lieber keine Verse machen, als so aussehen!“. Er wird es danach im Text relativieren und sie als „geistreich“ charakterisieren und ihre „männliche Stirn“, das „Seherauge“, die „hässliche Nase“, das „beinerne Kinn“ betonen.
Sie weiß darum und sie weiß auch, dass sie ein Kuriosum darstellt. Sie nutzt ihre Popularität, lässt Bewunderung, Mitleid und Taxieren ihrer Fähigkeiten bewusst zu, um ihre Ansprüche und Vorstellungen durchzusetzen. Sie wurde nicht manipuliert, sie manipulierte und entzog sich den ihr nicht passenden „Verbesserungsvorschlägen“ der Berliner Aufklärer. Gleim wollte sie bekanntermaßen zur „deutschen Sappho“ machen, und Ramler sollte ihr das richtige Versmaß beibringen. Ich bezeichne sie in Anlehnung an Gerhard Wolf als „preußische Sappho“, weil sie stark von der Berlinisch-preußischen Kulturlandschaft nach 1761 geprägt wurde.Sie konnte weder die „Fesseln de r Kunst“ erdulden noch Regeln anerkennen. Ihr Verständnis als Schreibende war das einer Produzierenden, die Dienstleistungen erbringt, für die sie entlohnt wird, um ihre immer größer werdende Familie zu ernähren. Das war in Schlesien so und wird sich in Berlin fortsetzen.
Mit ihrer schnellen Auffassungsgabe und ihrer Aufmerksamkeit, die sie bei Hof erregt, finden sich auch Neider. Sie geht auf die ihr zugewiesenen Rollen ein. Sie ist die Naive aus dem Volk, die durch ihr „Genie“ imponiert. Sie fällt allerdings immer wieder aus dieser Rolle heraus, weil sie spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, weil sie Anstandsregeln und Politur nicht beachten will. Auch in Berlin bleibt sie angewiesen auf milde Gaben und hat keine ausreichende Häuslichkeit und Versorgung. Ihre mehr als 1000 Briefe an Gleim sind dafür beredtes Zeugnis. Diese gehören zu der wohl wichtigsten Leistung ihres Lebens. Einer Publikation hat sie nicht zugestimmt. In Gleim sah sie nicht nur den Bewunderer und Lehrer, sondern sie projizierte auch ihre ungestillte Liebeserwartung auf ihn. Alles, was er ihr empfiehlt – Homer, Pindar, Xenophon, Plutarch -, verschlingt sie mit großem Eifer. Er verspricht die Publikation ihrer Gedichte, muss sie als Frau aber gleichzeitig abwehren, weil er ihr Liebesbegehren nicht teilen kann. Sie akzeptiert das, nennt ihn Thyrsis, sich Sappho, unterzeichnet sehr anspruchsvoll so ihre Oden und muss sich gefallen lassen, verlacht zu werden.
„Sing ich Lieder für der Liebe Kenner:
Dann denk ich den zärtlichsten der Männer
Den ich immer wünschte, nie erhielt,
Keine Gattin küsste je getreuer,
Als ich in der Sappho sanftem Feuer
Lippen küsste, die ich nie gefühlt.“
Sie kann nicht selbstbewusst wie Charlotte Unzer, die „Unzerin“, wie die Karschin sie nennt, Gleim Paroli bieten oder wie Melpomene Trauergesänge dichten. Ihr steht allein eine soziale Erfahrung als Basis für ihre Poesie zur Verfügung.
„Meine Jugend war gedrückt von Sorgen,
[…]
Ohne Regung, die ich oft beschreibe,
Ohne Zärtlichkeit ward ich zum Weibe,
Ward zur Mutter! wie im wilden Krieg,
Unverliebt ein Mädchen werden müßte,
Die ein Krieger halb erzwungen küsste […] “
Als die Karschin in Berlin eintraf, war sie 39 Jahre alt und in Begleitung ihrer elfjährigen Tochter. Der Sohn blieb zur Erziehung in Boyadel. In der Forschung wird dieses Faktum ihrer Übersiedlung nach Berlin als gönnerhaftes Verhalten des Barons von Kottwitz kommentiert. Für unseren Ansatz ist interessant, wie die Tochter Caroline von Klencke das erklärt. Baron von Kottwitz hatte der Karschin eine wertvolle Tabakdose geschenkt und unter dem Tabak waren sechs Goldtaler gemischt. „Sie glühete ihren Dank in Gesängen aus; der Baron ward davon bezaubert, und stellte ihr frei, daß sie von ihm etwas bitten sollte, was zu ihrem Glücke beitragen könnte.“
Sie zögerte nicht lange und bat ihn, sie mit auf seine Reise nach Berlin zu nehmen. Das ist ganz offensichtlich ein dreistes Ansinnen, aber in ihrer Lage zeugt es auch von Realitätssinn. Sie musste die Situation ausnutzen, um ihren trunksüchtigen Ehemann loszuwerden, und sie vermutete in der Stadt mehr Verdienstmöglichkeiten. Ihre Strategie sollte aufgehen.
Es sind wiederum, wie schon in Schlesien und Polen, die Loblieder auf Friedrich den Großen und ihre Stegreifdichtungen, die zu ihrem plötzlichen Ruhm in Berlin führten. Berlin war vor dem Machtantritt Friedrichs II. kein Kulturzentrum. Allerdings ist nach Hermsdorf die Ausgangslage der Berliner Literatur Gebrauchsliteratur. Das literarische Leben wird wesentlich bestimmt von dem persönlichen Verhältnis zwischen Autorin/Autor und Auftraggeberin/Auftraggeber in einem lokalen Umfeld. Die Residenzen Potsdam und Berlin wurden unter Friedrich II. Schauplätze eines preußischen Modells einer Kulturpolitik des aufgeklärten Absolutismus.Die Besonderheit Berlins bestand darin, dass die Sprachen des kulturellen Lebens am Hof und in der Stadt unterschiedlich waren: Französisch und Deutsch.
Goethes Erzählung über den Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) bezeugt, in welchem Maße der wechselvolle Verlauf den Rahmen der herkömmlichen Kabinettskriege sprengte. Er wirkte ganz offensichtlich nicht nur bei ihm, sondern auch bei der Karschin als der Einbruch einer unerhörten Art von Wirklichkeit in den Alltag. Die Folge war eine Politisierung des Denkens.
Seit Eröffnung dieser Kämpfe 1756 versorgte Ewald von Kleist Gleim in Halberstadt mit brieflichen Nachrichten vom Kriegsschauplatz. Unter ihrem Eindruck schrieb Gleim seine „Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier.“ Sie erschienen zunächst als Flugblätter, später beteiligten sich Ewald von Kleist, Ramler, Peter Uz an der Überarbeitung der Texte, und es war Lessing, der sie zusammenstellte und mit einem „Vorbericht“ bei seinem Berliner Verleger Voß herausgab.An dieser Aktion patriotischer Propaganda nahm als einzige Schriftstellerin in Schlesien auch die Karsch teil.
Ihre Kriegslieder verraten ein naiv zutrauliches Verhältnis zu einem König und Feldherrn, für den doch auch sprach, dass er persönlich im Krieg präsent war. Die Karschin hat mit ihrem „Hymnus auf den Sieg des Königs bei Torgau vom 3. November 1760“ eingestimmt in die Freudenausbrüche der Bevölkerung.
„[…]
Der König winkt, die Reuter falten
Ernsthaft die Stirnen und ihr Arm
Wird ihren Feinden schwer. Geschwungene Säbel spalten
Den Kopf, und vom Gehirn noch warm
Zerfleischt das Schwert die Eingeweide.“
Mendelssohn, der die „Briefe, die Neueste Litteratur betreffend“ herausgibt, kommentiert im 143. Brief vom 12. Februar 1761 diese Strophen: „Welches Gemälde! Sagen Sie mir doch, ob es wahr ist, daß die Reuter die Stirnen falten, wenn sie einhauen! Der Zug ist erhaben, und so viel ich weiß, noch ungebraucht. Ich begreife nicht, wie ein unkriegerisches Frauenzimmer auf diese Bemerkung hat zuerst kommen können.“
Die Karschin hat Friedrichs Siege besungen, schreibt für die komponierende Prinzessin Amalia den Text zu einer Kantate und nutzt jede Gelegenheit, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.
Am 11. August 1763 hat sie die gewünschte Audienz bei Friedrich II. Rasch wurden noch zwei Gedichte ins Französische übersetzt. Sie hatte sich ein Haus erträumt; sie wird es zunächst nicht erhalten. 1773 – also zehn Jahre später erhielt sie vom Hof ein Gnadengeschenk von zwei Talern. Sie schreibt statt eines Dankbriefes:
„Zwey Taler gibt kein großer König,
Ein solch Geschenk vergrößert nicht das Glück,
Nein, es erniedrigt mich ein wenig,
Drum geb ich es zurück“
Sie, die sich solchen Stolz sozial nicht leisten kann, gab nicht auf. 1783, weitere zehn Jahre später, erhält sie drei Taler. Sie bestätigte den Empfang mit den Worten:
„Seine Majestät befahlen
Mir, anstatt ein Haus zu baun
[…]
Aber für drei Taler kann
Zu Berlin kein Hobelmann
Mir mein letztes Haus erbauen“.
Erst nach dem Tode des Alten Fritz’ sollte die Karschin auf ungewöhnliche Weise ihren Wunsch doch noch realisiert sehen.
Caroline von Klencke beschreibt, dass ihre Mutter sich wegen einer Freundin und deren Naturalienkabinett an die Gouvernante der regierenden Königin von Preußen wandte. Sie erhielt die Auskunft, dass der König zunächst alle Schulden des verstorbenen Königs bezahlen müsse. Es bestätigt wieder einmal ihre Geistesgegenwart und Bauernschläue, dass sie in dem Moment die Schulden ihr gegenüber auch einfordert. Das Haus als „Gnadengeschenk“ wurde am „Haakschen Markt“ gebaut.Das Haus war für sie eine neue Hoffnung. Sie lud viele B ekannte und Freunde ein, behielt aber ihre alte Gewohnheit bei. „Noch immer blieb sie halbe Tage an den Schreibtisch gefesselt, und ging die übrige Zeit in die kleinen Zirkel ihrer liebsten Freunde.“ Noch drei Tage vor ihrem Tod wird sie diese Strategie verfolgen.
Fazit
In den schlesisch-polnischen Jahren der Karschin entwickelt sie ihre Gelegenheitsdichtung ebenso wie ihre politische Lyrik und orientiert sich an dem überlieferten Formenbestand. Für unsere Fragestellung ist von Belang, dass sie trotz Druckfassungen diese nicht nur persönlich an die betroffenen Personen verteilt, sondern auch im Beisein von einem kleineren oder größeren Personenkreis ihre Improvisationen in Schnelligkeit liefert. Ich möchte das „situatives Improvisieren“ nennen. Diese Strategie hat einerseits nicht unerheblich zu ihrem Ruhm beigetragen, hat andererseits aber auch die Kritiker herausgefordert. Die Schnelligkeit ihres Reimes galt als Indiz für ihre Natürlichkeit.
Mit Gedichten wie „Das ständige Einerlei“ und „Schlesisches Bauerngespräch“ überschreitet sie die Normen der Gelegenheitsdichtung. Ich zitiere Krzywon: „Im Medium der lokal eng begrenzten Sprache eines einzigen ländlichen Ortes, der Ortsmundart und beschränkt auf den Bauernstand, wenn auch in durchgehend bewusster Kontrastierung mit dem Städter, wird in Karschins Dialogwechsel „Schlesisches Bauerngespräch“ (Bauer/Vetter Hans ist bei Muhme Orte zu Besuch, H. S.) die äußere und innere Welt eines schlesischen Bauern um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Kontext des Siebenjährigen Krieges realistisch und alltagsnah geschildert, stets vor dem Hintergrund desironisierten Stadtlebens.“
Sie positioniert sich politisch auf Seiten des preußischen Königs Friedrich II. Das ist verständlich aus der Sicht einer schlesischen Protestantin, deren Religionsfreiheit in österreichisch-kaiserlicher Zeit gewaltsam unterdrückt wurde.
In ihrem vorberlinischem Leben überschneiden sich zwei Kulturrichtungen, die höfische und die nichthöfisch-bürgerliche, in ihrem Fall bäuerliche Welt. Als Übergangssängerin formuliert die Karschin sowohl Adelskritik am Hof als auch das Elend der Bauern, die dem Fortschrittsglauben auf bessere Zeiten misstrauen. Sie singt Loblieder auf fürstliche Häupter und Könige und gibt den bäuerlichen Unterschichten eine Stimme.
In regionalliterarischer Sicht schließt sie damit auch nach Krzywon eine Lücke zwischen dem Scherzspiel „Die geliebte Dornrose“ von Andreas Gryphius und Karl von Holteis „Schlesischen Gedichten“. Die schlesisch-polnische Lebens- und Wirkungszeit der Karschin ist noch unzureichend erforscht.
Auch in Berlin bleibt sie ihrer erprobten Strategie treu. Sie sucht fast immer selbst die Nähe und Bekanntschaft wichtiger Personen, weil sie „Gramdulderin“ und „Sorgenträgerin“ bis ans Grab blieb. Ihr Ruhm als „Naturtalent“ und „Wunderfrau“ machte sie zu einem unterhaltsamen Faszinosum, einem Berliner Original. Sie konnte und wollte der von Gleim ihr zugedachten Rolle als „deutsche Sappho“ nicht entsprechen. Im Bild der Sappho hatten die männlichen Aufklärer ihre eigene antikisierende Dichtungstradition auf sie übertragen. Sie verglichen sich mit Vergil, Horaz oder Anakreon – als einzige weibliche Ausnahme blieb Sappho.
Die Dichtung der Karschin ist einerseits im Kontext der Volkspoesiedebatte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln und auch durch sie im Auf und Ab der Kritiken zu verstehen, besonders der Paradigmenwechsel in Herders Kritiken. Andererseits ist sie weder der Anakreontik, Empfindsamkeit, Spätaufklärung oder dem Sturm und Drang zuzuordnen. Hannelore Schlaffer bringt es auf den Punkt: „Sie war eine Figur zwischen den Zeiten und zog daraus ihren Ruhm. Die Verblüffung, die sie hervorrief, entstand aus der Verwirrung der Maßstäbe, die Dichter und Gesellschaft hatten.“
Mit Blick auf die Karschin als Frau und Dichterin wären diese Maßstäbe zu differenzier

Ausflug zur Weidaer Osterburg

Unser Ausflug am 3. März 2018 führte uns nach Weida auf die Osterburg. Dieses imposante Gemäuer war einst Stammsitz der Vögte, dessen Herrschaftsbereich bis ins Regnitzland reichte. Zunächst besuchten wir das Museum, bewunderten die Atomuhr, machten uns mit bedeutenden gebürtigen Weidaer Wissenschaftlern und deren Erfindungen bekannt, erlebten den 360-Grad Raum. Hier werden Ansichten des Umlandes direkt auf die Ziegelmauer projiziert, und wir erlebten auf diese beeindruckende Weise die Geschichte der Reußen und die Schönheit ihres Landes. Wer wollte, konnte natürlich auch den Bergfried weiter besteigen – eine ziemlich schweißtreibende Angelegenheit.
Anschließend begaben wir uns ins Burgrestaurant, ins stilvolle, anheimelnde Tonnengewölbe. Dort genossen wir Kaffee und Kuchen. Einige Kulmbacher und Goethefreunde lasen aus ihren Manuskripten.
Höhepunkt war natürlich das deftige Ritteressen, zu dem uns ein uriger Spielmann aufspielte. Seine Scherze und munteren Wortspiele brachten uns zum Lachen.
So verlebten wir einen schönen Tag, der Bus brachte die Geraer und Erfurter unter Gesang nach Hause. Unsere Kulmbacher Literaturfreunde kamen in ihren PKW ebenfalls wohlbehalten in ihrer Heimatstadt an.

Meine Lieder schossen auf wie die Nesseln. Denkwürdiges über Wilhelmine von Chezy

Vortrag von Dr. Maria-Verena Leistner, Leipzig, am 6. März 2018

In der Zeit zwischen 1815 und 1830 gehörte Wilhelmine von Chezy, auch Helmina oder Helmine genannt, zu den bekanntesten Schriftstellerinnen. Heute wird ihr Name lediglich als Librettistin von Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“ oder Verfasserin des Textes zu Franz Schuberts Schauspielmusik „Rosamunde“ genannt. Ihr Gedicht „Ach wie wär‘s möglich dann“ ist zum Volkslied geworden. Sie wurde als Wilhelmine Christiane von Klencke am 26. Januar 1783 in Berlin geboren. Da war die Ehe der Eltern bereits geschieden und das Mädchen wuchs unter der Obhut von Mutter, Caroline Luise von Klencke (1750-1802), und Großmutter, Anna Luise Karsch (1722-1791), auf. Beide Frauen waren Schriftstellerinnen, die Großmutter – genannt: die Karschin – in ihrer Zeit eine Berühmtheit, der auch Goethe im Mai 1778 seine Aufwartung machte. Wilhelmine besuchte keine Schule, die Mutter unterrichte sie zu Hause, Zeichnen lernte sie bei Daniel Chodowiecki und das Lesen wurde ihr früh zur Leidenschaft.
Im August 1799, da war sie sechzehneinhalb Jahre alt, wurde Helmina mit dem Offizier Karl Gustav von Hastfer verheiratet. Schon 15 Monate später erzwang sie – unter Preisgabe des gesamten Vermögens – die Scheidung. Die Frage nach der weiteren Lebensgestaltung half ein Zufall lösen. Helmina lernte die in Berlin lebende französische Emigrantin und Erfolgsautorin Felicité de Genlis kennen, die die junge Frau zu sich nach Paris einlud und dort für sie zu sorgen versprach. Die Warnungen, da die Genlis in der Gesellschaft einen etwas zweifelhaften Ruf genoss, schlug Helmina in den Wind und reiste im Mai 1801 nach Paris. Außer Unterricht im Französischen erhielt sie nicht die versprochene „mütterliche Liebe und Sorgfalt“. Helmina war nun ganz auf sich verwiesen. Eine Stelle als Erzieherin fand sie nicht – man nahm Anstoß daran, dass sie eine geschiedene Frau war. Mit großem Lerneifer holte sie an Bildung nach, was ihr bisher vorenthalten worden war. Sie besuchte die Pariser Nationalbibliothek und die Nationalgalerie und lernte ohne Anleitung Altfranzösisch, Italienisch, Spanisch und Englisch. Sie verschaffte sich Zugang zu verschiedenen Salons und suchte Kontakte zu Literaten und Verlegern.
Mit der von der Großmutter Karsch geerbten Lust zum Schreiben hatte bereits in Berlin die vierzehnjährige Helmina einen Roman begonnen und war von Jean Paul zu weiterer literarischer Arbeit ermuntert worden. In ihm sah sie fortan ihren Mentor und hielt den Kontakt zu ihm über 22 Jahre hin aufrecht. In Paris nun musste sie ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdienen. Es waren vor allem Berichte zur Zeitgeschichte und zur aktuellen Kunst, die von deutschen Verlegern veröffentlicht wurden. Dazu erschienen ab 1807 Gedichte, die ihr leicht aus der Feder flossen. Darin kamen häufig Naturerlebnisse und Gemütsverfassungen zum Ausdruck. Ganz in der Tradition der Karschin schrieb sie auch Widmungsgedichte auf hochgestellte Personen, die ihr ab und zu mit wertvollen Geschenken dafür dankten. Unter dem Titel „Gedichte der Enkelin der Karschin“ erschienen 1812 die frühen Arbeiten in zwei Bänden und verschafften der Autorin Helmina einen Platz auf dem literarischen Markt.
Im Hause von Friedrich und Dorothea Schlegel lernte sie den zehn Jahre älteren Orientalisten Antoine Léonard de Chézy kennen. 1805 wurde geheiratet und Helmina nahm anfangs aktiv an den wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes teil. 1806 und 1808 wurden die Söhne Wilhelm (später Schriftsteller, gest. 1865) und Max (später Maler, gest. 1846) geboren. Aber innerfamiliäre Spannungen und das Missbehagen in dem sich zur modernen Großstadt entwickelnden Paris bewirkten, dass Helmina 1810 mit den Kindern nach Deutschland zurückkehrte. Ein reger Briefverkehr blieb zwischen den Eheleuten bis zu Chézys Tod 1832 bestehen, und er überwies jährlich 2400 Francs nach Deutschland.
Helminas Leben war fortan von häufig wechselnden Aufenthaltsorten, materieller Not, Krankheit und etlichen Skandalgeschichten gekennzeichnet. Ihr Drang, sozial Bedürftigen Hilfe zukommen zu lassen, brachte sie in Konflikte mit dem Staatsapparat. 1813 organisierte sie in Darmstadt Hilfsaktionen für verwundete Franzosen. 1815 erwirkte sie vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis zu Besuchen in Lazaretten in Belgien und am Niederrhein. Weil sie dort Nachlässigkeiten bei der Versorgung Verwundeter aufdeckte, erregte Frau von Chezy das Missfallen der Lazarettverwaltungen, die sich nicht von einer Frau und Schriftstellerin Vorschriften machen lassen wollten. Sie indes ging in ihrem Eifer so weit, in einem Schreiben an den General der Infanterie, Grafen von Gneisenau, die Beschwerden von 33 Invaliden weiterzugeben und von der „Elendigkeit“ zu berichten, die einigen von ihnen widerfahren sei. Diese nach Köln zwecks Überprüfung zurückgesandte Eingabe brachte der Schreiberin eine Verleumdungsklage „wegen Amtsehrbeleidigung königlicher Behörden“ und Vorladung vor das Zuchtpolizeigericht ein. Daraufhin reiste Helmina am 24. Februar 1816 mit ihren Kindern Hals über Kopf aus Köln ab und kam nach vier Wochen in Berlin an, wo sie vor dem preußischen Kammergericht gegen den Vorwurf der Verleumdung kämpfte. Der damals dort tätige Dichter E. T. A. Hoffmann leitete die Untersuchung und bewirkte den Freispruch der Angeklagten.
Daraufhin verließ Helmina Berlin, wo für sie das Leben zu teuer wurde, und lebte von Oktober 1817 bis April 1823 in Dresden. Es waren Jahre eines umfangreichen geselligen Verkehrs und literarischer Produktivität. Mit den Kindern unternahm sie Wanderungen in der Sächsischen Schweiz und schrieb Gedichte auch auf die besuchten Örtlichkeiten. Schon in früheren Jahren hatte Helmina von Chezy sich mit fremdsprachiger Literatur beschäftigt und in Paris zu Friedrich Schlegels Sammlung übersetzter altfranzösischer Literatur beigetragen. Ein erstes Zeugnis für die Beschäftigung mit dem Spanischen war die Übersetzung des Calderón-Dramas „El galan Fantasma“, die sie im November 1816 Goethe zukommen ließ. Nun wurde diese Tätigkeit intensiviert. Gemeinsam mit dem kurhessischen Gesandten in Dresden, Ernst Otto von der Malsburg, übersetzte sie weitere Dramen Calderóns, die in sechs Bänden von 1819 bis 1825 bei Brockhaus in Leipzig erschienen. Es entstanden ebenfalls verschiedene Prosatexte. Eine bis heute bekannt gebliebene Arbeit der Dresdner Zeit war das Libretto zu Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“. Die Zusammenarbeit zwischen 1821 und 1823 gestaltete sich schwierig, weil die Intentionen beider Künstler voneinander abwichen. Es kam zu vielen Umarbeitungen, bevor am 23. Oktober 1823 am Wiener Kärntnertortheater unter Webers Leitung die Uraufführung stattfand. Heute heute wird die Oper nur noch selten gespielt.
Gesundheitliche Beschwerden bei Helmina von Chezy und die Behandlung des an Skrofulose erkrankten Sohnes Wilhelm mit Schwefelbädern erforderten einen Weggang aus Dresden. Zudem hatte sie sich neuerdings ins Gerede gebracht, weil sie einem an Wahnsinn erkrankten Maler ihre Pflege zuteil werden ließ. Wien, das Salzkammergut, München, noch einmal Paris, Baden-Baden, Heidelberg, das Elsaß und schließlich Genf waren die Orte, wo sich Helmina von Chezy – ab 1829 ohne ihre Söhne – in den Jahren bis zu ihrem Tod aufgehalten hat. 28 ihrer Prosatexte gab sie 1824-27 unter dem Titel „Stundenblumen“ in vier Bänden heraus. Im vierten Band ist die Erzählung „In Deo Consilium“ enthalten, in der Erlebnisse sowohl der Dresdner Zeit als auch der ersten in Österreich verbrachten Jahre verarbeitet sind. Gedichte wurden zu dem Band „Herzenstöne auf Pilgerwegen“ (1833) zusammengestellt. In den folgenden Jahren verfasste die Schriftstellerin hauptsächlich publizistische Texte.
In Österreich flammte Frau von Chezys Hilfsbereitschaft für notleidende Menschen noch einmal auf, als sie im Salzkammergut das Elend arbeitslos gewordener Salzbergleute erlebte. Nicht am Versiegen der Salzgewinnung glaubte sie die Ursache dafür zu sehen, sondern an Fehlern in der Verwaltung. Mit Hilfe der Kaiserin Caroline Auguste organisierte sie, dass den Arbeiterfrauen der Region um Hallstatt durch Flachsspinnen eine Verdienstquelle erschlossen wurde. Auch sammelte sie Beschwerden von Bergleuten ein und schickte diese an Kaiser Franz I. Ihn veranlasste die Angst vor sozialem Aufruhr, die Chezy im Dezember 1828 zu einer Audienz zu laden. Er dankte ihr zwar für ihren Einsatz, verwarnte sie zugleich wegen des Eingreifens in staatliche Angelegenheiten. In ihren Erinnerungen resümierte sie: „Zum zweiten Mal in meinem Leben blieb ich unverstanden, und hatte meine Widersacher durch weibliche Einmischung aufgebracht.“
1832 starb Léonard de Chézy an Cholera. Er hatte die Ergebnisse seiner Sanskrit-Studien nicht veröffentlichen können und Helmina kämpfte in Paris um die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Mit einer schäbigen Summe (1.500 Francs) wurde sie abgefunden, die kostbare Bibliothek musste versteigert werden. Weil ihre Einnahmen allmählich versiegten, bat Helmina von Chezy bei Verlegern um Neuauflagen ihrer Texte, bei Theaterintendanten um Aufführung ihrer Bühnenwerke, hatte aber kaum Erfolg. Geringe materielle Zuwendungen vom preußischen König sowie von der 1842 in Dresden gegründeten Tiedge-Stiftung wurden der notleidenden und zuletzt erblindeten Frau zuerkannt. 1842/43 nahm sie lebhaft Anteil an den demokratischen Debatten und engagierte sich für die Rechte von Frauen. Als die Chezy vom Projekt eines „Armenbuches“ der Bettina von Arnim erfuhr, begann sie mit der Arbeit an einem – Fragment gebliebenen – Buch über soziale Fragen mit dem Titel „Dies Buch gehört Bettinen“. 1853 siedelte sie an den Genfer See über. Dort starb sie am 28. Januar 1856. Zuletzt war aus Schlesien eine Großnichte zu ihr gekommen, der sie ihre Lebenserinnerungen diktierte, die 1858 unter dem Titel „Unvergessenes“ erschienen.

Wolken als Sinnbilder bei Goethe

Vortrag von Martin Blum, Berlin, am 2. November 2017

„Mein Blick war auf den Himmel gerichtet“. Dieser Vers stammt von Goethe und steht leitmotivisch für diesen Vortrag, ist das Augenmerk auf eine ganz besondere Himmelserscheinung gerichtet: Es ist die Rede von den Wolken.

Goethe als Wolkenforscher

In der Sophien-Ausgabe sind allein 1309 Treffer zu verzeichnen, wenn man „Wolken“ eingibt. Da geht die Rede von Silber-,Gold- und Schneewolken, Federwolken, Wolkenbergen und -felsen, Kranich- und Zauberwolken und von einer Wolkensammlerin (gemeint ist eine serbische Schicksalsgöttin).
Warum forschte Goethe auf diesem Gebiet? Da gibt es den Auftrag der Aufklärer, die Welt komplex zu erfassen und zu erforschen. Freilich bleibt immer ein Rest des Unbestimmbaren; ein Rest, der sich der Zuordnung in höhere Zusammenhänge verweigert. Wolken sind der Inbegriff dieses Konflikts: scharfe Konturen und schwebende Auflösung, Verwandeln von Form in Formlosigkeit. Wolken wecken das Gefühl von Erhabenheit, wie es dem jungen Goethe schon passierte. Später trat vermehrt Beobachterinteresse an diese Stelle. Es sind die zweite Schweizer Reise 1779/80, die italienische Reise 1786/88 sowie schwerpunktmäßig die Zeit nach 1815, nachdem Goethe die Wolkenlehre des Engländers Luke Howard zur Kenntnis genommen hatte.
„Die Wolken, eine dem Menschen von Jugend auf so merkwürdige Lufterscheinung, ist man in dem platten Lande doch nur als etwas Fremdes, Überirdisches anzusehen gewohnt. Man betrachtet sie nur als Gäste, als Streichvögel, die unter einem anderen Himmel geboren, von dieser oder jener Gegend bei uns augenblicklich vorbeigezogen kommen; als prächtige Teppiche, womit die
Götter ihre Herrlichkeit vor unseren Augen verschließen.“
Auf seiner italienischen Reise erlebte Goethe riesige Wolkenballungen. Er beschrieb sie in seinem Tagebuch in naturwissenschaftlicher Hinsicht: Gebirge versammeln ungeheure Wolkenmassen, bis sie durch inneren Kampf – Gewitter – als Regen niedergehen. Der „Rest“ entzieht sich der Schwerkraft der Erde, steigt am Gebirge empor, um sich schließlich aufzulösen. Somit betrachtet Goethe den Himmel als Konfliktzone und vertritt die Auffassung, die Erde besitze im belebten Ein- und Ausatmen die Möglichkeit, eine Anziehungskraft zu erzeugen. Auf diese Weise entwirft Goethe die Skizze einer ersten Witterungs- und Wolkenlehre. Später treten weitere Beobachtungen, auch mit Hilfe eines Barometers, hinzu.
Nach 1815 erweitert Goethe seine Studien. Ein Grund ist, dass Herzog Carl August eine Wetterstation bei Weimar plant, weitere kommen hinzu. Zum anderen macht der Herzog Goethe auf Howards Wolkenlehre aufmerksam. Der Engländer führte eine Wolkenordnung ein: Cirrus- oder Federwolken, Kumulus- (Haufen-) und Stratuswolken, letztere als Schichtwolken. Hinzu treten Nimbus, heute Nimbostratus, die Regenwolke sowie Mischformen. Allen Wolkenerscheinungen wird ein eigenes Gedicht gewidmet.
Der „Versuch einer Witterungslehre“ erscheint posthum, es ist sein Hauptwerk auf dem Gebiet der Meteorologie. Er beschreibt auch Winderzeugung und -fahnen, Wasserbildung, Elektrizität, Gebrauch von Barometer, Thermometer, Hygrometer.
Einen Monat vor seinem Tod veranlasste Goethe die Schließung aller Wetterstationen, mit Ausnahme Jenas. Er war zu der Ansicht gelangt, dass aus tropischen Ländern bessere Messergebnisse zu erwarten seien.
Fast alle Thesen Goethes haben ihre Gültigkeit verloren, beispielsweise die Auffassung von der pulsierenden Schwerkraft der Erde. Diese tellurische Annahme hat sich als Irrtum erwiesen, das Wetter bleibt von anderen Gestirnen unbeeinflusst. Die Howard’sche Einteilung gilt allerdings noch, wurde jedoch erweitert. Galten zu Howards Zeiten schließlich sieben Wolkentypen und zehn Mischformen, sind es heutigentags einige mehr: zwanzig Wolkengattungen, 14 -arten und neun Sonderformen.

Goethe als Wolkenpoet

Der Dichter verwandelt die Welt in ein Bild, das er durch die poetische Sprache erzeugt, wie es vor dem geistigen Auge erscheint. Somit erscheinen die Wolken metaphorisch für das Göttliche, die Liebe, die Inspiration, die Poesie und – die Sorge. Es entstehen Wolken als Sinnbilder.
Götter in Wolken erscheinen zu lassen hat eine lange Tradition, sie liegt beispielsweise im Babylonischen, Altindischen, Jüdischen, Muslimischen und Christlichen gegründet. Götter erscheinen ihr Wesen verschleiernd oder auch verkündend. Goethe bedient sich der Götter zum Beispiel in seiner Elegie „Euphrosyne“, im „Faust“-Drama und natürlich im Gedicht „Prometheus“: Zeus im Wolkendunst. Im West-Östlichen Diwan heißt es:

Die Sonne, Helios der Griechen,
Fährt prächtig auf der Himmelsbahn;
Gewiß, das Weltall zu besiegen,
Blickt er umher, hinab, hinan.

Er sieht die schönste Göttin weinen,
Die Wolkentochter, Himmelskind;
Ihr scheint er nur allein zu scheinen;
Für alle heitren Räume blind…

Euphrosyne

Segnend kränze das Haupt mir mit dem heiligen Mohn!
Aber was leuchtet mir dort vom Felsen glänzend herüber
Und erhellet den Duft schäumender Ströme so hold?
Strahlt die Sonne vielleicht durch heimliche Spalten und Klüfte.
Denn kein irdischer Glanz ist es, der wandelnde, dort.
Näher wälzt sich die Wolke, sie glüht. Ich staune dem Wunder!

In Howards Ehrengedächtnis heißt es:
Wenn Gottheit Camarupa, hoch und hehr,
Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer,
Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut,
Am Wechsel der Gestalten sich erfreut,
Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum,
Da staunen wir und traun dem Auge kaum;

Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft;
Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant,
Kameles Hals, zum Drachen umgewandt,
Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht,
Da es die Macht am steilen Felsen bricht;
Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt,
Eh er die Fern erreicht, wohin man liebt.

Ein poetisch schönes Bild gewährt uns auch

Mahomets Gesang
Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.

Jünglingsfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.

Beschrieben wird im Bild des Wassers der Lauf des Lebens. Es beginnt an der Quelle, jünglingsfrisch strebt es weiter, um schließlich nach dem Himmel, dem Göttlichen, zurückzukehren. Das Leben ist ein Tanz, alles ist in Bewegung, nur eines gibt es nicht: Stillstand.
Wolken gelten auch als Sinnbild der Liebe. Sie ist ein himmlisches Wunder, lässt uns auf den Wolken schweben. Im Mailied heißt es:
Oh Lieb, oh Liebe
So golden schön
Wie Morgenwolken
auf jenen Höhn!

Und im Gedicht An Lida:
Den einzigen, Lida, welchen du lieben kannst,
Forderst du ganz für dich und mit Recht.
Auch ist er einzig dein.
Denn, seit ich von dir bin,
Scheint mir des schnellsten Lebens
Lärmende Bewegung
Nur ein leichter Flor, durch den ich deine Gestalt
Immerfort wie in Wolken erblicke:
Sie leuchtet mir freundlich und treu,
Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern.

An Lili

Im holden Tal, auf schneebedeckten Höhen
War stets dein Bild mir nah:
Ich sahs um mich in lichten Wolken wehen,
Im Herzen war mir’s da.
Empfinde hier, wie mit allmächtgem Triebe
Ein Herz das andre zieht –
Und daß vergebens Liebe
Vor Liebe flieht.

Wolken dienen ebenso als Sinnnbild der Inspiration. Wolken verbinden in himmelgreifender Bewegung Künstler und Muse, sie inspirieren zum Gedankenaustausch. Ohne Wolke bliebe die Inspiration auf halbem Wege stehen und würde den Künstler nicht erreichen. Diese Begegnung findet auf der Wolke statt.

Die Wolke ist auch Sinnbild der Poesie, Dichten ist eine Himmelsgabe.
Bilde, Künstler, rede nicht
Nur ein Hauch sei dein Gedicht!
Die Wolke im Himmel wird zur Lust, sie ist eine Wolke zur Poesie.

Die Wolke symbolisiert aber auch die Sorge, Unruhe und Verstimmung. Sie lässt zugleich die Einsicht wachsen, dass die Sorge nicht gebannt werden kann, weil sie zum menschlichen Dasein gehört. Verschwindet eine, ist die nächste Sorge schon im Anmarsch. Aber im Bild der Wolke kann sie sich schon versöhnlicher zeigen.
Iphigenie auf Tauris
Verzeih! Wie leichte Wolken vor der Sonne,
So zieht mir vor der Seele leichte Sorge
Und Bangigkeit vorüber.

Somit stehen Wolken-Sinnbilder immer für Abstraktes, niemals für Gegenständliches ein. Alles wird ins poetische Bild gesetzt. Positiv agieren hierbei Liebe, Inspiration, Poesie, negativ sind die Werke der Sorge. Als Störenfried wird die Wolke freilich gelegentlich verjagt, dann rücken – im Spätwerk Goethes – Mond, Sonne und Sterne ins Zentrum, die weihevoll besungen werden.