Vortrag von Andreas Rumler, Köln, am 22. März 2016
Unser Thema lautet „Genietreiben und politische Verantwortung“ – bezogen auf „Goethe und Weimar“ – womit wir auch inhaltlich mitten in Thüringen angelangt wären. Lassen Sie mich gleich zu Beginn die These wagen, dass man eigentlich Goethes gesamtes Leben in dieser Dichotomie erfassen kann, ja, vielleicht noch mehr: Dass man Goethe wohl am ehesten gerecht wird, wenn man sieht, wie er diesen Spannungsbogen ein Leben lang zu meistern wusste.
Da war einerseits das kraftvolle junge Talent des „Sturm und Drang“ und andererseits der Staatsminister, der in seinem kleinen Amtsbereich Verantwortung zu tragen hatte. Und diese Dualität zu bewältigen, machte die Lebenskunst Goethes aus: Faszinierend bleibt bis heute, wie er diese beiden Ansprüche erfüllte. Seinem „Faust“ legt er das bekannte Wort in den Mund: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – er lebte es: als Dichter, der mit seinen sprachlichen Kunstwerken Grenzen erkundete und überschritt – und als Staatsmann, der Gesetze einzuhalten und zu vertreten hatte. Man kann diesen doppelten Charakter als einen zentralen Wesenszug, als ein Lebens- oder auch Leitmotiv Goethes begreifen.
Traditionell bezeichnet „genial“ eine herausragende Intellektuelle Leistung und denjenigen, der sie hervorbrachte. Diesen traditionellen „Genie“-Begriff habe ich heute im Sinn, wenn wir uns Gedanken über Goethes „Genietreiben“ neben und während seiner Amtspflichten machen wollen. Goethe als dichtendes Genie wurde nicht nur von seinen Zeitgenossen bewundert, weil er wie andere junge Autoren des „Sturm und Drang“ sich auflehnte gegen jede Form von Bevormundung und Gängelung durch literarische, familiäre, politische und religiöse Autoritäten. Gottgleich fühlten die „Stürmer und Dränger“ sich als schöpferische Künstler. In seiner Ode „Prometheus“ hat Goethe diesen aufbegehrenden Charakter verherrlicht, der den Menschen Kultur, Licht und Feuer bringt und als Rebell die versteinerten, autoritär-feudalen Verhältnisse hinterfragt, sie „zum Tanzen bringt“ (um es mit Marx zu sagen) und damit zu ihrer Überwindung beiträgt.
Während seines langen Lebens entwickelte übrigens auch Goethe seinen eigenen „Genie-Begriff“ weiter. Verstand er noch 1772 darunter die „Fähigkeit, neue, große Ideen aus der Tiefe zu heben“, so begriff er darunter in späteren Jahren ein ähnliches Phänomen wie die Natur, das es wie sie vermag, nach naturgegebenen inneren Formen Neues zu schaffen und zu organisieren.
Fast authentische Lebenszeugnisse gibt es bis heute auch in Frankfurt. Hier im Haus am Großen Hirschgraben gewann Goethe durch die unterschiedlichen Charaktere seiner Eltern, salopp formuliert: durch deren mentales Erbe seine Doppelbegabung. Er lernte vom Vater „Des Lebens ernstes Führen“ neben der mütterlichen „Lust zu fabulieren“ und verspürte – hier ist wieder der Zwiespalt Fausts: seiner „Zwei Seelen“: wenn man so will –, etwas abgewandelt das Thema unseres Abends: Genietreiben und politische Verantwortung. Hier in Frankfurt wird ihm diese doppelte Haltung, diese Duplizität der Ambitionen quasi „in die Wiege“ gelegt.
Als er nach Weimar kommt, ist man auf ihn und ist natürlich auch er auf die Stadt vorbereitet: Immerhin kannte er die Messestädte Leipzig und Frankfurt, als Goethe früh am Morgen des 7. November 1775 über holprige Wege nach Weimar hinein rollte. Die Vaterstadt war ihm als Nest erschienen – allein: Was erwartete ihn hier? Provinz auf Schritt und Tritt, Mist stank auf den Gassen. Als „Mitteldinge zwischen Hofstadt und Dorf“ hat Herder Weimar bespöttelt. Zudem war das Schloss 1774 abgebrannt. Carl August gebot bei seinem Regierungsantritt über rund 36 Quadratmeilen. Nur 6000 Bürger zählte die Hauptstadt. Das Mini-Herzogtum mit seinen rund 100.000 Einwohnern setzte sich aus nicht zusammenhängenden Landesteilen zusammen und war verarmt. Kriege und vor allem feudale Prunksucht hatten das Land ruiniert. Auch kleine Höfe orientierten sich an Versailles, unterhielten repräsentative Heere und veranstalteten aufwendige Jagden. Als Goethe 1775 eintraf, führte Carl August erst seit einigen Wochen die Regierung. Keine drei Jahre hatte die Regentschaft seines Vaters gedauert, schon 1758 ließ er seine gut achtzehnjährige Witwe mit zwei unmündigen Söhnen zurück. Dass Anna Amalia (1739-1807) trotz der Machtgelüste benachbarter Duodezfürsten die Selbstständigkeit ihres kleinen Herzogtums bewahren und es trotz des Siebenjährigen Krieges ihrem Ältesten Carl August zu dessen Volljährigkeit in alter Größe übergeben konnte, beweist die außerordentlichen Qualitäten dieser Frau. Doch neben politischem und diplomatischem Geschick beeindruckt ihr Sinn für Kunst und Kultur, sie musizierte und komponierte, so die Musik zu Goethes Singspiel „Erwin und Elmire“. Anna Amalia beschäftigte herausragende Persönlichkeiten in ihrem Herzogtum wie Johann Karl August Musäus (1735-1787) oder Christoph Martin Wieland (1733-1813), den sie 1772 zum Prinzenerzieher bestellte. Weimars Ansehen als „Musenhof“ und Hort deutscher Klassik ist nicht zuletzt Anna Amalias Verdienst.
Das „Grüne Schloss“ ließ sie 1766 zur Bibliothek ausbauen, 1991 wurde der berühmte Bau mit dem zentralen Rokoko-Saal nach ihr benannt. In ihrem Schlösschen Tiefurt und dem Wittumspalais kam die legendäre Tafelrunde zusammen, man musizierte, las, rezitierte und debattierte ganz ohne Rücksicht auf Standeschranken, arrangierte Aufführungen des Liebhabertheaters. Ihre Hofdame Louise von Göchhausen (1752-1807) kopierte wohl Goethes „Urfaust“ und überlieferte so den Text. Als „Bürgerlicher“ war Goethe in diesem Kreis willkommen, obwohl er nicht zu den „Hoffähigen“ zählte. Erst als Goethe 1782 sein Adelsdiplom erhielt, gab es diese protokollarischen Probleme nicht mehr.
Ungewöhnlich waren Ausmaß und Bedeutung der Aufgaben, die Carl August seinem Freund übertrug. Zwar bewährte das junge Dichter-Genie sich als „Maitre de plaisir“, organisierte die Liebhaberbühne und verfasste Texte für festliche Anlässe – doch der regierende Fürst hat in Goethe den tatkräftigen Pragmatiker erkannt, der mit jugendlichem Elan alte, von Großvater und Vater ererbte Probleme lösen helfen sollte. Goethe begriff die Chancen seiner neuen Stellung sehr genau, verkannte aber auch die Zwänge nicht.
Dem Darmstädter Freund Merck erstattet Goethe am 22. Januar 1776 brieflich Bericht: „Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt … Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde.“ Tätig sein – endlich! In Frankfurt hätte seine Jugend den Aufstieg in verantwortliche Positionen verhindert. Anders in Weimar – dank der Gunst des ebenfalls jugendlichen Herzogs. Formal bestand das Dienstverhältnis darin, dass Goethe mit dem Titel eines “Geheimen Legationsrats” (und einem jährlichen Salär von 1.200 Talern) in das “Geheime Consilium” berufen wurde, Carl Augusts Kabinett. Natürlich ging das nicht ohne Protest derjenigen Minister ab, die mühsam die Karriereleiter erklommen hatten. Da sollte doch tatsächlich so ein hergelaufenes Genie, verschrien als Autor eines Bestsellers – eines Romans noch dazu! –, in ihrer honorigen Runde Platz nehmen! Carl August baute auf die Einsicht seiner Minister, führte Goethes Rechtschaffenheit, Geist und eben: Genie ins Feld. Und so fährt Goethe im Schreiben an Merck fort: „Ich übereile mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung seyn, ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen.“ Carl August beruft Goethe also in sein Kabinett, natürlich protestieren Neider. Als unumschränkter Souverän hätte Carl August ihre Empörung ignorieren können. Allein, er vertraut der Überzeugungskraft von Argumenten. „Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen“, schrieb Carl August seinem Minister Jacob Friedrich von Fritsch, „wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen.“
Im Lauf der Jahre übernahm Goethe eine ganze Reihe spezieller Aufgaben. In Ilmenau soll er den Bergbau wieder ermöglichen, leider ohne Erfolg. Hinzu kamen der Vorsitz in der Kriegskommission und die Leitung der Wegebaudirektion, zuständig für Weimars Straßen und Promenaden, später die Direktion der Kammer der herzoglichen Vermögensverwaltung und der Ilmenauer Steuerkommission. Für die Universität Jena und die Bibliotheken des Landes zeichnete er auch verantwortlich. Gewaltig, dieses Arbeitspensum – Goethe absolviert es gewissenhaft, wie Sitzungsprotokolle belegen, offenbar mit Vergnügen oder doch mindestens Genugtuung. Am 13. Januar 1779 notiert er im Tagebuch: „Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit.“ Wichtig war vor allem der Abbau der Staatsschulden. Leider besaß das kleine Land kaum Einnahmequellen, und zudem fiel die Ernte selten so üppig aus, dass Überschüsse verkauft werden konnten. Es gab kaum Manufakturen, lediglich die Strumpfwirkerei in Apolda. Später erst kam die Glas- und Porzellanherstellung hinzu.
Als Politiker war Goethe verantwortlich für Dinge, die er als Dichter literarisch in Frage gestellt hätte. Er sei „nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt – voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen“ schreibt er an Lavater am 6. März 1776. Motive, die auch eine der letzten großen Hymnen Goethes im Ton des Sturm und Drang variiert: „Seefahrt“. Der Autor des „Faust“ warb mit der ergreifenden Gretchen-Tragödie noch um Verständnis für seine unglückliche Heldin – als Minister wird Goethe dagegen 1783 für die Hinrichtung einer jungen Frau plädieren: „daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten“. Carl August, in diesem Punkt liberaler und humaner, hatte die Kindsmörderin Anna Catharina Höhn zu lebenslanger Zuchthausstrafe begnadigen wollen. Goethe diktiert amtliche Dokumente in sprödem Kanzleistil und fügt privaten Briefen anmutige Verse bei wie 1778 „An den Mond“: „Füllest wieder’s liebe Thal/ Still mit Nebelglanz“. Was ihn nicht daran hindert, Kestner gegenüber damit zu kokettieren, dass er „im Styl mit unter Geheim Räthisch werde“.
Allein – gar so „geheimrätlich“ ging es nicht zu. Verglichen aber mit den Späßen der Weimarer Hofgesellschaft muss Goethe das frühere Genie-Treiben mit den „Stolbergen“ oder Lavater und Basedow harmlos vorgekommen sein. Ritt er mit seinem Herzog über Land, dann ließen sie „die Sau raus“, auch und gerade, wenn nicht zur Jagd geblasen wurde. Im Galopp sprengten sie durch frisch bestellte Felder und reife Ernten.
Manche Streiche des Herzogs und seines Ministers erinnern an heutige Abiturfeiern, etwa, wenn sie, eingehüllt in Bettlaken zu Pferde nächtens durch Weimar ritten um, so als Geister oder Gespenster kostümiert, die Bürger zu erschrecken. Einmal vermauerten sie der Hofdame Louise von Göchhausen am Abend die Tür, dass die ihre Wohnräume bei der Herzogin nicht finden und betreten konnte und verzweifelt in der frisch verputzten Wand den Eingang suchte.
Bis Hamburg drangen Gerüchte von Trinkgelagen oder wüsten Affären mit Frauen. Kein Geringerer als der renommierte und von ihm verehrte Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) fühlte sich bemüßigt, Goethe brieflich ins Gewissen zu reden – und handelte sich eine herbe Abfuhr ein: „Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie helfen nichts, und machen uns immer ein paar böse Stunden“ zumal „Dem Herzog thats einen Augen Blick weh, daß es von Klopstock wäre. Er liebt und ehrt Sie. Von mir wissen und fühlen Sie eben das.“ Wieland, Freund und Augenzeuge vor Ort, urteilte 1776 im Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) souveräner und tat den Klatsch ab als – heiße Luft: „Glauben sie von allem Bösen, was die Dame Fama von Weimar und dem Herzog und Goethen und der ganzen Wirtschaft aus ihrer schändlichen Hintertrompete in die Welt hineinbläst, kein Wort! Dies ist das einzige Mittel, nicht betrogen zu werden.“
Ziel etlicher Wanderungen, Ritte und Kutschfahrten wurde der Ettersberg für Goethe: Ein Ort, von dem aus er „die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte.“ Die „Natur“ beobachtete Goethe mit wachen Sinnen und richtete zugleich den Blick „nach innen“. Sprach er von „Anschauungen“, so war das doppelt zu verstehen: ganz konkret als sinnlich mit den Augen wahrnehmbare Anschaulichkeit und im übertragenen Sinn als Imagination vor dem geistigen Auge. Der Ettersberg war eines der liebsten Jagdreviere der Weimarer Herzöge. Carl August, fürstlicher Nimrod gleich den Vorfahren, frönte seinen Leidenschaften: stellte den Töchtern seiner Landeskinder, edlem Wild und groben Keilern nach.
Regierungsgeschäfte und wildes Genie-Treiben – beides brachte Goethe nach Ilmenau und penibel hat er darüber (Tage-) Buch geführt: „Den Morgen bis Nachm. 3 auf der Jagd. … nach Tische mit den Bauernmaidels getanzt, Glasern sündlich geschunden, ausgelassen toll bis gegen 1 nachts. Gut geschlafen” – verständlich, nach dem Programm! – notiert Goethe am 1. September 1777 und am 13. April 1778: „Zu Fuße nach Stützerbach. Hirschhörner und Glaser und leichtfertige Mädels. Nachts regnet es wir konnten nicht hinaus” – merkwürdig, trotz schlechter Witterung … sonst waren sie nicht so zimperlich. Lange hielt sich das Gerücht, Goethe und sein Herzog hätten „natürliche” (sprich: uneheliche) Kinder in Ilmenau von unbekannten „Miseln”, wie er sie im Tagebuch nennt. Und unter dem folgenden Datum: „Tagsüber Torheiten. Früh in der Glashütte dann Glasern geschunden.” Wer war Glaser? Ein wohlhabender Kaufmann, in dessen Haus in Stützerbach die Hofgesellschaft öfters einkehrte und ihr Mütchen kühlte: Mal beschrifteten sie im Lager seine Waren neu, dann trugen sie ihm Fässer vors Haus und ließen sie den Berg hinabkollern. Besonders stolz war Johann Elias Glaser auf das Portrait eines Künstlers von sich. Goethe, so berichtet der Berghauptmann von Trebra, schnitt das „breite, blonde, fade Gesicht” des Gastgebers aus dem Ölgemälde und ergötzte die Runde, indem er sein eigenes hinter das Loch hielt.
Rekrutenaushebungen im nahen Apolda gehörten wohl zu den heikelsten Aufgaben des Staatsministers Goethe. In einer Zeichnung hat er die Szene festgehalten. „An den Herzog Carl August” schreibt er von „Buttstädt d. 8. März 79 auf dem Rathaus – Indess die Pursche gemessen und besichtigt werden … ein Paar Worte … Übrigens lass ich mir von allerley erzählen, und alsdenn steig ich in meine alte Burg der Poesie und koche an meinem Töchtergen.” Gemeint war „Iphigenie”, deren Prosafassung Goethe damals schrieb. „Tätiges Leben” – ganz nach Goethes Willen, während er an literarischen Texten arbeitete und die Szene der Rekrutenvermessung bei der Musterung recht drastisch zeichnete. Wie sehr die verschiedenen Aufgaben ihn gleichzeitig in Anspruch nahmen, zeigt auch der Brief an Charlotte von Stein vom 6. März 1779: „Kein sonderlich Vergnügen ist bey der Ausnehmung, da die Krüpels gerne dienten und die schönen Leute meist Ehehafften (= von “êhaftiu nôt, nach altem deutschen Recht Befreiung vom Kriegsdienst) haben wollen. … Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolda hungerte.”
Als Goethe am 3. September 1786, wenige Tage nach seinem Geburtstag, den er noch mit Freunden gefeiert hatte, aus Karlsbad nach Italien aufbrach, heimlich und unter dem Pseudonym Philipp Möller, war dies eine Flucht in mehrfacher Hinsicht. Überlastet von amtlichen Aufgaben fühlte er sich, hatte wohl auch Zweifel, ob die Erfolge sein Engagement rechtfertigten, und als Autor stand er ebenfalls unter Druck: Die mit Georg Joachim Göschen vereinbarte Gesamtausgabe war nicht fertig, lange schon hatte er nichts mehr veröffentlicht, was für Aufsehen gesorgt hätte. Der Spagat zwischen dichterischen Ambitionen und dienstlichen Pflichten war schwer zu ertragen, spielt er mit dem Gedanken, auf- und auszubrechen? So mag man diese Andeutung Charlotte von Stein gegenüber 1780 von einer Inspektionsreise verstehen: „Und wenn ich dencke ich sizze auf meinem Klepper und reite meine pflichtmäßige Station ab, auf einmal kriegt die Mähre unter mir eine herrliche Gestalt, unbezwingliche Luft und Flügel und geht mit mir davon.“ Carl Ludwig von Knebel (1744-1834), der lebenslange „Urfreund“ und Vertraute war einer der wenigen Menschen, mit denen Goethe sich duzte, las 1785 das schöne Bild: „Ich flicke an dem Bettlermantel, der mir von den Schultern fallen will.“ Moderne Mediziner würden wohl Midlife-Crisis oder Burnout diagnostizieren. Lange schon träumt er vom Besuch in Mignons Reich, dem Land „wo die Zitronen blühn“. Erste Anläufe hatte er abgebrochen: auf dem Gotthard und in Heidelberg. Seine Flucht oder den Studienaufenthalt – je nach Blickwinkel – hat Goethe ausführlich beschrieben. Die „Italienische Reise“ ist sorgfältig gestaltete Prosa mit Blick auf den Nachruhm, literarische Montage, rund 30 Jahre später zusammengestellt, ein Bildungsroman in Tagebuchform, keine objektive Bestandsaufnahme. Im Brief vom 14. Oktober 1786 bot er Charlotte von Stein an, ihm bei der Ausarbeitung zu assistieren, wenn auch als – Sekretärin: „Nun will ich dir einen Vorschlag tun. Wenn du es nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und ließest was dich allein angeht, oder was du sonst denkst weg; so fänd ich wenn ich wiederkomme gleich ein Exemplar in das ich hinein korrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte.“ Natürlich war Charlotte von Stein dazu nicht bereit.
Den Höhepunkt, in jeder Beziehung, bilden die Besuche in Rom: „der Hauptstadt der alten Welt“. Daran erinnern die „Römischen Elegien“ als erster Gedichtzyklus Goethes, inspiriert von römischen Elegikern wie Catull und Ovid, der freilich erst in Weimar nach der Bekanntschaft mit Christiane Vulpius entstand. Eine Kostprobe, zunächst noch „Erotica Romana“ überschrieben: „Uns ergötzen die Freuden des echten nacketen Amors/ Und des geschaukelten Betts lieblicher knarrender Ton.“ Auf Wunsch Carl Augusts verzichtete Goethe vorerst auf eine Veröffentlichung. Wer jene Faustina war, der Goethe in „Roma aeterna“ begegnete, bleibt wohl ewig ein Rätsel. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829) gehörte zu seinem Kreis der Freunde in Rom und hat die Szene gezeichnet, wie Goethe versucht, auf dem Bett ein verräterisches Indiz, das „verfluchte zweite Kissen“ zu verstecken (Goethe überlieferte das Blatt in seinen Sammlungen) und ihn mit Blick aus dem Fenster sowie in der Campagna gemalt.
Sizilien ist der südlichste Ort, den Goethe in seinem Leben erreichen wird. Vom 3. September 1786 bis zum 18. Juni 1788 ist er unterwegs, fast zwei Jahre. Dass Carl August ihm so lange bezahlten Urlaub gewährt, beweist, wie sehr er den Freund schätzt. In den „Venezianischen Epigrammen“ hat Goethe ihr Verhältnis auf diese schöne Formel gebracht: „Er war mir August und Mäcen.“ Auch der literarische Ertrag kann sich sehen lassen: die Versfassungen von „Erwin und Elmire“, „Claudine von Villa Bella“ und „Iphigenie“, der Abschluss des „Egmont“ sowie Teile von „Tasso“ und „Faust“ nebst Plänen für weitere Arbeiten: „Iphigenie in Delphi“, „Ulysses auf Phäa“ oder „Nausikaa“. Befreit von lästigen Amtspflichten kann er sich historischen und Kunst-Studien widmen, gewinnt wichtige Eindrücke für sein späteres Werk.
Seine Rückkehr nach Weimar bereitete er sorgfältig vor. Brieflich hielt er mit Carl August Kontakt, der ihm seine Bezüge auch während der Italienreise bezahlte. So schrieb er seinem Dienstherrn am 17. März 1788:
Goethe aus Rom an Carl August
am 17. März 1788:
„Ich darf wohl sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? Als Künstler! Was ich sonst noch bin, werden Sie beurteilen und nutzen. … Nehmen Sie mich als Gast auf, lassen Sie mich an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen und des Lebens genießen; so wird meine Kraft, wie eine nun geöffnete, gesammelte, gereinigte Quelle von einer Höhe, nach Ihrem Willen leicht dahin oder dorthin zu leiten sein. … Ich kann nur sagen: Herr hie bin ich, mache aus deinem Knecht, was du willst. Jeder Platz, jedes Plätzchen die Sie mir aufheben, sollen mir lieb sein, ich will gerne gehen und kommen, niedersitzen und aufstehn.“
Das kling scheinbar devot, betont aber seine Rolle als „Künstler“ und natürlich weiß er, dass Carl August seinen Wünschen Rechnung tragen wird und ihn weitgehend von den Amtsgeschäften entlastet. So muss er nicht mehr an den regulären Sitzungen des „Geheimen Consiliums“ teilnehmen und gibt einige Ämter in der Landesverwaltung auf. Weiterhin betreut er allerdings die Bergwerkskommission, die Ilmenauer Steuerkommission und die Aufsicht über den Wasser- und Uferbau an der Saale. Vor allem übernahm Goethe jetzt aber Aufsichts- und Leitungsfunktionen im Bereich von Wissenschaft und Kunst.
Schwer fiel Goethe die Rückkehr. Befremdet reagierten die Freunde, die Flucht aus ihrer Mitte hatte sie irritiert. Auch den amtlichen Aufgaben musste er sich wieder widmen. Noch 1817 erinnert Goethe sich: „Aus Italien dem formreichen war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen.“ Da wird ihm Anfang Juli 1788 eine eher zufällige Begegnung als Wink des Schicksals vorgekommen sein. Ein junger Mann, dem Goethe bereits einmal geholfen hatte, ließ ihm von seiner Schwester ein Bittgesuch überreichen. Sie arbeitete in der Manufaktur für Kunstblumen von Friedrich Johann Justin Bertuch (1747-1822). Der war als Autor und Übersetzer, Redakteur und Mitherausgeber von Wielands „Teutschem Merkur“ ein Multitalent, der einzige „Industrielle“ im Herzogtum und von Carl August zum „Schatullenverwalter“ berufen worden: zum Schatzmeister.
Auch in seiner Partnerwahl bleibt Goethe seinem Hang zum Genietreiben treu, heiratet nicht etwa standesgemäß oder wie Schiller in eine adelige Familie. Oder sucht eine Frau, die seiner gesellschaftlichen Stellung als Minister entsprechen würde. Offenbar gefiel Goethe die junge Frau, die ihm im Park entgegentrat. Ihr heiteres und natürliches Wesen dürfte einen liebenswürdigen Kontrast abgegeben haben zu den steifen und standesbewussten Höflingen, die Goethe gerade nach dem Italien-Erlebnis die Heimkehr verdüsterten. Hübsch war sie mit ihren braunen Augen und dunklen Locken, „emanzipiert“ in einem ganz modernen Sinn auch als berufstätige Frau, ihre tatkräftige und hilfsbereite Seite hatte sie durch den Botendienst für den Bruder bewiesen. Johanna Christiana Sophie Vulpius (1765-1816) entstammte einer gebildeten und angesehenen Familie, Pastoren und sogar Juristen zählten zu ihren Vorfahren. Doch all dies, die selbst eroberten Ehren ihres Bruders konnte die Klatschmäuler nicht beruhigen. Doppelt hatte Christiane gegen angeblich göttliche Moral verstoßen: Als ledige Partnerin Goethes diffamierte man sie als „Hure“ und verübelte ihr die Liebe über Standesschranken hinweg, Goethe, dass er Christiane als ebenbürtig behandelte. Vielleicht hat sie ihn ja auch an die „Frohnatur“ seiner lebenstüchtigen Mutter erinnert, die Christiane freundschaftlich begegnete. Goethe lebte zusammen mit Christiane im Gartenhaus, was nicht verborgen bleiben konnte. Eine kurzfristige Liaison oder wechselnde Liebschaften hätte die wohlanständige Weimarer Gesellschaft wohl toleriert, zum Skandal macht die Sache, dass Goethe Christiane fair, wie seine Ehefrau behandelt. Dass er eine Ehe ohne Trauschein führt: „Ich bin verheiratet, nur nicht mit Zeremonie“ gilt moralisch als anstößig. . Am 25. Dezember 1789 kommt der Sohn August Walther zur Welt. Und Herzog Carl August bewährt sich einmal mehr als Freund, wird nominell Taufpate. Nach geltendem Recht wären für die ledige Mutter Sanktionen fällig gewesen: öffentliche Abmahnung, Pranger und Kirchenbuße.
Ganz anders als die klatschsüchtigen Weimarer Bürger, erstaunlich tolerant für ihre Zeit, urteilt Goethes Mutter. Leider darf die stolze Großmutter die Geburt ihres (weil unehelichen) Enkels nicht in der Zeitung annoncieren, doch sie tröstet sich damit, „daß mein Hätschelhans vergnügt und glücklicher als in einer fatalen Ehe ist“. Offenbar war es keine „arrangierte“ oder „Vernunft-Ehe“, da waren zwei Menschen ihren Neigungen gefolgt – und scherten sich wenig um selbsternannte Moral-Apostel.
Zum 100. Geburtstag Carl Augusts wurde 1857 das Goethe- und Schiller-Denkmal von Ernst Rietschel enthüllt, ein Wahrzeichen Weimars und der deutschen Klassik. Wert legten die Stifter darauf, beide Dichter statt in antiken Gewändern realistisch in bürgerlicher Kleidung darzustellen. Allerdings stimmen die Proportionen nicht ganz: Schiller war größer als Goethe. Dichtung und Wahrheit auch hier also. Mit der Herausgabe des Briefwechsels 1828/ 29 hat Goethe ihrer 11 Jahre währenden freundschaftlichen Verbundenheit und kollegialen Arbeitsgemeinschaft selbst das wichtigste Denkmal gesetzt. Ganz so harmonisch war ihr Verhältnis nicht immer. In Herkunft und Bildungsgang, Charakter und Denkweise sowie in ihren politischen Ansichten gab es erhebliche Unterschiede. Gemeinsam reformieren sie Weimars Hoftheater und bringen dort Schillers Dramen wie die „Wallenstein“-Trilogie heraus.
Goethes fast zeitlose Modernität fasziniert bis heute. Ein Beispiel: Sein Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, damals in alle europäischen Sprachen übersetzt, war 1774 Deutschlands erster Beitrag zur Weltliteratur. Auch erzähltechnisch als Autor war Goethe seiner Zeit weit voraus: „Montage“ nennt man heute die Methode, wie er einen Brief Kestners über Jerusalems Freitod in den Roman aufnahm; Alfred Döblin wird in „Berlin Alexanderplatz“ dieses Verfahren perfektionieren – oder Thomas Mann im „Dr. Faustus“. Und nicht zufällig wählte Thomas Mann die späte Begegnung Lotte Kestners mit dem Geheimen Rat als Gegenstand seines Goethe-Romans im Exil: „Lotte in Weimar“ – hier ließ sich zeigen, dass nicht das Nazi-Reich Deutschland verkörperte, sondern dessen humane und klassische Traditionen.
Als Gelehrter war er – vielleicht das letzte – Universalgenie, das sich „immer strebend“ bemühte, möglichst in allen Wissensgebieten Kenntnisse zu erlangen und zu vermitteln. Sein umfangreichstes Werk, am wenigsten gelesen bis heute, das ihm besonders am Herzen lag, war die „Farbenlehre“. Zu seiner Enttäuschung wurde sie von der Fachwelt weitgehend abgelehnt und ist auch in wesentlichen Teilen widerlegt. Augenmensch, der er war, vertraute er statt auf technische Apparate lieber auf Sinneseindrücke – und auf dieser Basis, als Schule des Sehens hat seine „Farbenlehre“ die moderne Malerei und Wahrnehmung von Farben und ihrer Wirkung bis heute beeinflusst.
Pionier war er auch stets und auf der Höhe seiner Zeit, wenn es um die praktischen Nutzanwendungen von Erkenntnissen ging. Die Avantgarde wissenschaftlicher und sozialer Art interessierte ihn aus praktischen Erwägungen. Er ließ sich über die neuesten Forschungen und technischen Errungenschaften informieren, über die Dampfmaschine und die Eisenbahn. In seinem Denken überwand er als Genie die religiösen und feudalen Hemmnisse seiner Zeit, die er als Minister zu erweitern, zu modernisieren, humaner zu gestalten versuchte.
Und er dachte global, Jahrhunderte, bevor diese Formel aufkam. Nach Wieland prägte Goethe den Begriff der „Weltliteratur“ entscheidend, verstand ihn aber weniger als Kanon, sondern eher als dynamischen Prozess. Interessiert und weltoffen feierte er Shakespeare und studierte nicht nur römische Kunst, sondern suchte Kontakt zu Kollegen und las ihre Werke, begriff den Dialog über Grenzen hinweg und den Kulturen verbindenden geistigen Brückenschlag als Bereicherung eigener Arbeit. „Wer sich selbst und andre kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.“ Diese Verse fand man in den nachgelassenen Papieren zum „West-östlichen Divan“. Rafik Schami, der 1946 in Damaskus geboren wurde und seit 1971 in der Bundesrepublik lebt, hat diesen Zyklus als „eine der größten Liebeserklärungen“ bezeichnet, „die je ein Europäer dem Orient gemacht hat!“ Mit seinem Urteil steht Schami nicht allein da und erläutert auch, warum der persische Lyriker Mohammad Schamseddin Hafis (1326–1390) aus Schiras für Goethe ein „Verwandter im Geist“ sein konnte: Weil Hafis „ein Gegner jeglicher Orthodoxie war“. Oder, um Goethe noch einmal mit seinen „Maximen und Reflexionen“ zu Wort kommen zu lassen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Diese Satz pflegte der russische Germanist Lew Kopelew zu zitieren, sprach man ihn auf das Thema Völkerverständigung an.