Archiv der Kategorie: Rückblick

Sommerfest in Stedten

Unser Sommerfest 2015

Zu unserem Sommerfest schrieb Hans-Peter Brachmanski, Organisator der Besichtigung Stedten, folgendes:

Am 22. August 2015 planten zwei Goethe-Gesellschaften, darunter Mitglieder aus Franken, Zeulenroda, Gera und Erfurt, eine Reise in das zentral gelegene Stedten, um hier den Geburtstag des Dichters zu begehen. Dazu fertigte Helmut König eine Medaille. Terminliche Veränderungen brachten es zwar mit sich, dass der Besuch eine Woche vorverlegt werden musste, was dem Ganzen aber keinen Abbruch tat.
Im Mittelpunkt des Interesses stand natürlich der historische Ort mit seinen wenigen noch erhaltenen historischen Schlossrelikten. Darunter ganz besonders sehenswert das barocke Schlossportal mit dem angrenzenden kleinen Park. Durch dieses fuhren vermutlich Goethe und Wieland hinauf zum Schlosseingang, wo sie von der Gastgeberfamilie erwartet wurden. Das war im kalten Winter von 1775 zu 1776. In dem 1737 erbauten schlichten Landsitz verbrachte der gerade 26-jährige J. W. Goethe im Kreis der Familie v. Keller seinen ersten Jahreswechsel in Thüringen. Kein Geringerer als Christoph Martin Wieland, den eine enge Freundschaft mit Julie von Keller verband, hatte das Stedtener Treffen in die Wege geleitet. Dem jugendlichen Dichter des Bestsellers „Die Leiden des jungen Werther“ eilte ein ganz besonderer Ruf voraus. Goethes Liebesroman wurde buchstäblich in allen Landen verschlungen. Die Jugend kleidete sich wie Werther, man spielte das Stück und diskutierte es, dagegen sah sich manche Zensur gezwungen, das Buch sogar auf den Index zu stellen. Diesen über Nacht deutschlandweit berühmt gewordenen Dichter in dem doch abseits gelegenen Dorf Stedten ampfangen zu dürfen, stellte eine besondere Ehre für die Schlosseigentümer dar. Man erhoffte sich viel vom temperamentvollen Jungstar, dem eine ganz besondere Gabe der Erzählkunst zu eigen war. Der Gast entsprach den Erwartungen seiner Gastgeber. Gekonnt rezitierte der „Zauberer mit den schwarzen Augen“ aus seinen Werken und unterhielt damit die Gesellschaft über mehrere Tage hinweg. Es war dies jenes Theaterspiel, das ihm von Kindheit an vertraut war und das er so liebte. Dass Thüringen für über 50 Jahre zur zweiten Heimat Goethes werden würde, ahnte damals sicherlich niemand. Wieland berichtete später sehr ausführlich darüber.
Leider ist von dem Schloss nichts mehr vorhanden. Vor 70 Jahren wurde es im Zuge der Bodenreform gesprngt. Darauf nimmt die andere Medaillenseite Bezug. Die Medaille hat 35 mm Durchmesser und ist in Silber sowie Zinn im Münzfachgeschäft Krämerbrücke, Erfurt, erhältlich.

Ausflug nach Leipzig

Mein Leipzig lob‘ ich mir

„Mein Leipzig lob‘ ich mir! Es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute!“ Das meinte der Student Goethe. Aber weder der spätere Herr Geheimrat noch ich reichlich 200 Jahre später während meines Leipziger Studiums ahnten, dass die Messe-, Bach- und Goethe-Stadt sich heute durchaus auch mit Venedig messen kann. Bei unserem Ausflug am 13. Juni 2015 mit Erfurter und Geraer Goethefeunden nach Leipzig konnten wir jedoch sowohl optisch als auch körperlich wahrnehmen, dass Wasserstraßen für Leizig an Bedeutung gewinnen. Bei einer Bootstour über die Pleiße und verschiedene Kanäle lernten wir Leipzig vom Wasser aus kennen. Wobei sich selbst Goethes wenig bekannter Zusatz in dem bekannten Spruch als wahr erwies: Leipzig bildet seine Leute und Gäste. Denn unser „Kapitän“ fütterte uns nicht nur mit Kaffee und anderen Getränken, sondern auch mit viel Wissenswertem über die Leipziger Wasserwelt. Sie erstreckt sich mit dem Stadthafen bis ins Zemtrum der Metropole und soll noch so ausgebaut werden, dass sich bequem per Motor- oder Paddelboot das Neu-Seenland erreichen lässt.

Wasser von oben bekamen wir zum Glück nur wenig ab, dann ging’s schon wieder per Bus in die Innenstadt bis zum Gewandhaus und von da per pedes zum berühmten Auerbachs Keller. Frisch gestärkt beim Mittagsmahl konnten wir uns hernach ohne Magenknurren der Kultur hingeben. Eine nette und sachkundige Mitarbeiterin erzählte uns Wissenswertes über die Entstehung des historischen Lokals und führte uns durch jene Räume, in denen nur zu besonderen Anlässen oder für hochrangige Gäste aufgetafelt wird. So lernten wir das Alt-Leipzig-Zimmer mit seinen Gemälden kennen, aber natürlich interessierten wir uns als Goethe-Freunde am meisten für den gotisch gewölbten „Goethe-Keller“ und den in Goethes „Faust“ erwähnten „Fass-Keller“. Letzteren ziert ein
aus einem einzigen Baumstamm geschnitzter beeindruckender Hexenritt und ein historisches Weinfass, auf dem der Sage nach der Magier Johann Faust aus dem Keller geritten sein soll.

Wir ritten nicht auf einem Fass heimwärts, sondern nutzten unseren Bus, zumal alsbald nicht Wein in unsre Münder, sondern Wasser aus himmlischen Gefilden auf unsere Häupter herab plätscherte. Dennoch gelang uns der geplante Abstecher zur Gustav-Adolf-Gedenkstätte Lützen südwestlich von Leipzig. Der Schwedenkönig war hier in einer Schlacht im November 1632 getötet worden. Über 200 Jahre erinnerte nur ein großer Findling an seinen Todesort. Dann überkrönte man den Stein mit einem von Schinkel entworfenen Baldachin, 1906/1907 wurde die Gustav-Adolf-Gedächtniskapelle gebaut, später die Gedenkstätte mit zwei Holzhäusern komplettiert. In einem befindet sich ein kleines Museum, das wir ebenfalls besichtitgen. Warum? Weil wir als Goethe-Freunde immer auch ein wenig über den Tellerrand schauen wollen und uns wie der Minister und Dichter für viele Dinge, Menschen und Ereignisse interessieren.

Angelika Kemter

Herder, Licht, Liebe, Leben

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar, am 1. Juni

Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) gehört zu den großen Vier der Weimarer Klassik. Er stammt aus Mohrungen östlich der Weichsel. Sein erstes Gedicht war gewissermaßen „Schmuggelpoesie”. Er fand nämlich eine Anstellung als Gehilfe des Mohrunger Diakons Sebastian Friedrich Trescho. Herder benutzte dessen umfangreiche Bibliothek, um sich an den Werken der großen antiken und zeitgenössischen Schriftsteller zu bilden. Dort entdeckte er das Hochzeitslied „Anke van Tharow” des samländischen Dichters Simon Dach. Herder übertrug das Lied ins Hochdeutsche und nahm es in seine Volksliedersammlung auf. Als „Ännchen von Tharau” wurde es berühmt und auch mehrfach vertont.
Trescho sandte Manuskripte an den Königsberger Verleger Johann Jacob Kanter. Der 17-jährige Herder übernahm das Abschreiben, Versiegeln und Wegschicken und schmuggelte ein selbstverfasstes Gedicht in die Sendung. Ein paar Posttage später schrieb der Verleger an Trescho, er habe in dem Paket ein Gedicht gefunden, mit dem Titel „Gesang an den Cyrus”, aber ohne Angabe des Verfassers. Da dieses Gedicht voll „Geist und Salbung” sei, habe er es sogleich drucken lassen. Es fand große Zustimmung. Gern hätte er jedoch den Namen des Verfasser gewusst. Daraufhin stellte Trescho seinen Gehilfen zur Rede …
1762 kam Herder nach Königsberg, unternahm von Riga, wo er als Prediger arbeitete, aus eine weite Seereise. Er kam auf seinen Reisen nach Dänemark, Frankreich, Brüssel, Paris, aber auch in den Elsaß und nach Böhmen. In Darmstadt lernte er Caroline Flachsmann kennen, seine spätere Frau. Gemeinsam lasen sie Gedichte, so die Oden Klopstocks, pflegten „muntere Schäkerei und die Freuden der Gesellschaft”. Da es sich um eine Bildungsreise handelte – Herder begleitete den 17-jährigen Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm von Holstein-Gottorp -, musste sich Herder von Caroline verabschieden. Der zweite Teil dieser Bildungsreise führte Herder nach Straßburg. Er wohnte zunächst im Gasthaus „Zum Geist”, unverhofft war auch Goethe dort einquartiert. Anfang Oktober 1770 kam es zur ersten Begegnung. Goethe fühlte sich von der Persönlichkeit Herders angezogen, bewunderte seine umfangreichen Kenntnisse und tiefen Einsichten. Dabei war ihre Beziehung zuweilen durchaus gespannt; Herder konnte den um einige Jahre Jüngeren schelten, tadeln und auch höhnen.
Herder vollendete in Straßburg den „Ursprung der Sprache”. Die Sprache sei nicht göttlichen Ursprungs, sondern vom Menschen selbst erschaffen. Es handelt sich um die erste historische Sprachtheorie. Herder sammelte für Goethe Lieder, insgesamt 172. Er pries die wunderbare Kraft des Volksliedes, „die Entzückung, die Triebfeder, den ewigen Erb- und Lustgesang des Volks” und forderte zum weiteren Sammeln auf. Im Gegensatz zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos „Des Knaben Wunderhorn”, das ausschließlich deutsche Volkslieder enthielt, sammelte Herder aus aller Welt. So befanden sich in seinen „Stimmen der Völker in Liedern” sogar keltische Lieder und ein Opferlied an eine peruanische Regengöttin.
Goethe nahm auch an der Hochzeitsfeier von Herder und Caroline teil. Herder war mit 600 Talern Schulden in die Ehe getreten. Dennoch begann jetzt eine glückliche Zeit. Seine Lina sei „blauäugig wie das Himmelszelt, ein schwebender Engel auf dieser Welt.”
Er wurde Oberprediger in Bückeburg: „Begraben unter Büchern und gelehrtem Staub”.
Herder hatte acht Kinder, sieben Jungen und ein Mädchen.
In Bückeburg entfaltete Herder eine erstaunliche Produktivität, auch um seine Schulden zu begleichen. Er schrieb seine „Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit” und erklärte: „Es ist Feuer darin und glühende Kohlen auf die Schädel unseres Jahrhunderts.” Zugleich fasste er den Plan, seine Volksliedersammlung herauszugeben. Sie erschien 1778 und 1779 in zwei Teilen.
Am 1. Oktober 1776 traf Herder mit seiner Frau und zwei Söhnen in Weimar ein. Goethe hatte dies beim Herzog vermittelt, denn die Stelle des Superintendenten, mit der weitere kirchliche Ämter verbunden waren, war vakant. Wieland begrüßte Herder hocherfreut: „Herder predigt, wie noch nie jemand gepredigt hat, so wahr, so simpel, so fasslich, und doch alles so tief gedacht, so rein gefühlt, so schwer an Inhalt!” Es erschienen die „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit”. Doch die Plackerei seiner Ämter störte ihn bei seinen Plänen.
Für seine universelle, fast enzyklopädische Bildung besaß Herder eine umfangreiche Bibliothek. Sie umfasste etwa 8000 Bände (Goethe ca. 7000, Wieland ca. 6000, Schiller ca. 800).
Auch Schiller lobte Herders Predigten, wusste aber auch von manchem Ehestreit zu berichten. War dies der Fall, kam es vor, dass sie verschiedene Etagen bewohnten, ein Bote überbrachte dann Briefe. Immer lenkte Caroline ein: „Diesem Gott kann niemand zürnen.” Sie liest aus einem Buch, und Herder fällt ihr um den Hals.
Goethe und Herder halten allmählich Freundschaft, so übernahm Herder Korrekturen zu „Iphigenie auf Tauris”. Herder verhielt sich auch loyal gegenüber Christiane Vulpius. Ja, er taufte sogar taktvoll im Goethehaus den unehelichen Sohn August und hat ihn auch 1802 konfirmiert.
Herders Hauptwerke: „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit”, „Stimmen der Völker in Liedern”, „Briefe zur Beförderung der Humanität”.
Er verfasste aber auch erotische Texte, zum Beispiel „Lieder der Liebe”.
Er reiste auch nach Italien, diese Reise dauerte elf Monate. 1802 erhielt er aus persönlichen Gründen (Grunderwerbswunsch eines nicht-adligen Verwandten) den bayrischen Adelstitel, der jedoch vom Weimarer Herzog nicht anerkannt wurde.
Herder lehnte Schillers „Räuber” ab. Anlass war, dass bei den Aufführungen die Studenten stets das Räuberlied sangen, was Herder als anstößig empfand.
Herders Wahlspruch „Licht, Liebe, Leben” stammt aus dem Johannes-Evangelium.

Auf den Spuren Goethes ins Fichtelgebirge

Tagesausflug am 9. Mai 2015

Nach unserer Ankunft im Fichtelgebirge stand zunächst der Ochsenkopf auf dem Programm. Mit der Seilbahn fuhren wir hoch zum Gipfel. Goethe hatte in Begleitung diesen Gipfel besucht, dort meteorologische Beobachtungen durchgeführt. Von besonderem Interesse ist jedoch seine Entdeckung einer merkwürdigen Bergwiese, die er dann in Begleitung seines Freundes Knebel und eines Botanikers besichtigte. Die kleine Gruppe stieg dazu durch mehrere kurios durcheinander liegende Granitmassen hinab. Dort entdeckten sie nicht nur die Moosbeere, sondern auch den fleischfressenden Sonnentau. Einige tote Insekten befanden sich zwischen den Fanghärchen. Goethes Entdeckung war zweifelsfrei richtig, doch wurde sie seinerzeit von Fachbotanikern vehement bestritten. Kein Geringerer als Charles Darwin bestätigte wenige Jahrzehnte Goethes Entdeckung.
Wir stärkten uns in der Baude und fuhren anschließend mit der Seilbahn wieder ins Tal. Nun stand das berühmte Felsenlabyrinth der Luisenburg bei Wunsiedel auf dem Programm. Da nicht alle gut zu Fuß waren, teilten wir uns konditionsgemäß in zwei Gruppen. Unsere Führerin zeigte uns die imposanten mächtigen Felsgebilde, darunter auch die so genannten „Wollsäcke“, „Napoleons Hut“ und „Helgoland“. Letztere Bezeichnungen gehen auf Napoleons Kontinentalsperre zurück; über die Insel Helgoland gelangte Schmuggelware, insbesondere Rohrzucker, auch nach Wunsiedel, wo sich Zuckerraffinerien befanden.
Entgegen der Auffassungen der Plutonisten, die die Entstehung der Gesteine vor allem auf heftige Ereignisse, wie Erdbeben und Vulkanausbrüche zurückführten, gelangte Goethe zu einer, auch in der heutigen Geologie noch gültigen Erklärung. Die merkwürdigen Gebilde sind über Jahrtausende hinweg durch Erosion, Frostaufbrüche, Fließerden u. ä. entstanden.
Das Seehaus zu finden, gestaltete sich ein wenig schwierig, dennoch war der Zeitverlust von einer halben Stunde noch zu akzeptieren. Hier oben folgte Goethe dem Paschenbach, schlussfolgerte den richtigen Standort des Weißen Mains. Am Seehaus beobachtete er voller Respekt die Arbeit der Bergleute, die winzige Zinnkügelchen aus dem lehmichten Wasser gewannen. Viel Erfahrung und ein scharfes Auge waren hierfür vonnöten.
Wir stärkten uns im Seehaus und fuhren mit vielfältigen Eindrücken wieder nach Hause.
Auf dem Ochsenkopf kam die Frage auf, woher dieser merkwürdige Name denn stamme.
Auf Nachfrage teilte Adrian Roßner vom Fichtelgebirgsverein folgendes mit:

Sehr geehrter Herr Kemter,

Von unserer Geschäftsstelle kam heute eine Weiterleitung Ihrer Anfrage in mein
Postfach, sodass ich versuchen will, den Namen dieser zweithöchsten Erhebung
unseres Fichtelgebirges – wenigstens in Ansätzen – zu erklären. Fakt nämlich
ist, dass sich die Geister über die Herkunft dieser recht seltsam anmutenden
Bezeichnung scheiden und sie ohnehin erst im Zuge des späten 17. Jahrhunderts
fassbar wird. Frühere Beschreibungen bspw. aus der Feder Caspar Bruschius
schweigen sich komplett über den Namen aus und auch beim „Teutschen Paradeiß“
des Magisters Will heißt es lediglich: „Die höchste Spitze des Berges heißet von
Alters her der Ochsen-Kopf, ohne dass man weiß, warumb (sic).“ Wie es stets zu
beobachten ist, wenn Menschen verzweifelt auf der Suche nach dem Sinn und Unsinn
diverser althergebrachter Begebenheiten sind, ranken sich denn schließlich um
den Ochsenkopf unzählige Mythen und Legenden. Angefangen von einem heidnischen
Tierkult, der einst in Anbetung des Sonnengottes dort oben vollzogen worden sein
soll, über folgende Erzählung ist dabei alles vertreten:

Einst wandelte der Herr Jesus Christus auf der Erde, was eine große Freude für
sie war. So geschah es denn auch, dass sie sich, als er wieder gen Himmel fahren
wollte, an seine Füße hing und ihn nicht gehen lassen wollte. Da beschwor der
Herr Wolken herauf, die seine Beine befreiten und aufgrund deren weißer Farbe
die entstandene Erhebung bis heute „Schneeberg“ heißt. Der Teufel war dadurch
derart in Rage geraten, dass er sich als Erlöser ausgab und ebenfalls auf die
Erde stieg. Diese wiederum klammerte sich erneut an die Beine des gen Himmel
Auffahrenden, erkannte jedoch schnell, dass es sich dabei nicht um den Sohn
Gottes handelte, sondern um den gefallenen Engel. Da erschrak sie, ließ los und
rief: „Was bin ich doch für ein Ochsenkopf“.

Um die ganze Geschichte ein wenig abzukürzen, stimmt keine der eben angebotenen
Erklärungen mit den Tatsachen überein – vielmehr handelt es sich beim Namen um
eine Ableitung von einer einem stilisierten Ochsenkopf gleichenden
Form/Ritzzeichnung am Gipfel des Berges. Auch über deren Bedeutung stritten sich
die Gelehrten, ehe man darauf kam, dass es sich dabei am ehesten um ein Zeichen
der Venediger handeln könnte. Über diese „Schatzsucher des Fichtelgebirges“ habe
ich vor einiger Zeit einen Beitrag in unserem Siebenstern veröffentlicht, den
ich Ihnen hier hinterlege:
https://app.box.com/s/al1qw016t5efuob4nvuj

Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit ein wenig weiterhelfen und verbleibe

Mit lieben Grüßen,

Adrian Roßner

Liszt und Goethe

Vortrag von Barbara Kiem, Freiburg/Breisgau, am 5. Mai 2015

Liszt war ein glühender Verehrer Goethes, wobei er ihn ausschließlich als Dichter wahrgenommen hat. Die vielen Aufsätze und umfangreichen natwurwissenschftlichen Studien Goethes hat Liszt nicht zur Kenntnis genommen.
Liszt bearbeitete eine große Zahl von Schubert-Liedern und damit auch Goethe-Gedichte, die Schubert vertont hatte, so „Gretchen am Spinnrad”. Die Schubert-Lieder und somit auch Goethes Gedichte hat Liszt durch seine Konzertreisen überhaupt erst überregional bekannt gemacht. Diese mitreißenden Paraphrasen zeugen von einem immensen Können der Übertragungstechnik und der Lust, fantasievoll und virtuos mit unkonventionellen harmonischen Wendungen zu experimentieren. Es zeigt sich schon die Tendenz, klassisch-dialektische Prinzipien zu eliminieren und die Musik diurch die Verbindung mit der Poesie zu erneuern. So bekannte sich Liszt zu einer wichtigen Intention der Romantiker: die Musikalisierung der Wortsprache, zur „gesungenen Vernunft”. Ethisches Streben, katholisch religiöse Inbrunst wurden zur eigentlichen Schubkraft seiner kompositorischen Aktivitäten.
Nach den ausgiebigen Wanderjahren, seinen „Anees de pelerinage”, so auch der Titel von drei Bänden mit lyrischen Klavierstücken, begann Lisz 1848 seine Tätigkeit als Hofkapellmeister in Weimar. Nach Goethes Tod wollte der Weimarer Hof eine Künstlerpersönlichkeit mit internationalem Ruf gewinnen. Der Weltbürger Liszt fühlte sich dem Anspruch gewachsen, das Erbe Goethes und Schillers anzutreten und so Elemente der französischen Romantik mit der Tradition der Weimarer wie auch der Wiener Klassik zusammenzuführen und in seinem Sinne produktiv weiterzuentwickeln. Die groß angelegten Feiern zu Goethes 100. Geburtstag 1849 boten Liszt Gelegenheit, seine hochgesteckten Ambitionen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Programmgestaltung zielte eben auf seine Idee: die Synthese der Künste. Liszt komponierte zu diesem Anlass eigens einen großen Festmarsch, und zusammen mit Goethes „Torquato Tasso” kam zu Goethes Geburtstag am 28. August Liszts symphonische Dichtung „Tasso” zur Uraufführung. Außerdem standen auf dem Programm: Mendelssohns Ouvertüre „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt” nach Goethe, Liszts „Chor der Engel” aus Fausts II, Schumanns „Faust Verklärung”, die 9. Sinfonie von Beethoven mit dem Schlusschor aus Schillers Ode „An die Freude” und mitten in der gewaltigen Programmfolge Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrad”, das Liszt in seinen Konzerten in ganz Europa durch seine Bearbeitungen populär gemacht hatte und das allgemein als kongeniale Vertonung eines Goethe-Gedichtes angesehen wurde.
Im Gegensatz zu Wagners Musikdrama lässt Liszt keinen äußeren Handlungsverlauf zu; ein Bühnengeschehen gehört nicht zu seiner Konzeption der „inneren Handlung”. Die poetische Chiffre garantiert die tiefere Sinnhaftigkeit des Ganzen. Die heikle Aufgabe des Komponisten ist es, sich an ein solches Programm zu binden; adäquate musikalische Gestalten zu erfinden, in die die literarischen Ideen umgeschmolzen sind, um so die Beziehungsdichte von musikalischer und poetischer Intention zu erreichen. Die Darstellungsmittel müssen äußerst präzise sein und rein im Musikalischen verbleiben.
Die Gestalt dieser charakteristischen Klanggesten ist bestimmt durch die Art, wie der Komponist sein Material behandelt. Im Prozess der musikalischen Verarbeitung wird die poetische Idee, das jeweilige ästhetische Sujet umgeprägt zum Moment der Komposition selber. Das ist nicht zu erreichen durch eine mechanistische Formeltechnik, sondern nur im subtilen Abspüren der dichterischen Absicht. Ein poetisch-philosophischer Faden soll die motivische Substanz des musikalischen Gewebes erzeugen. Die Strukturen dieses Beziehungsgeflechts – die integrierende Bewegung – bilden die Orchesterlinien, sie werden zu Bändern des Zusammenhangs.
So wollte er auch Goethes Dramen behandeln. In Bezug auf den Tasso bewunderte Liszt, wie Goethe es vermochte, die moralischen Positionen so präzise auszubalancieren; die feudalen Strukturen und die Mentalität des Künstlers, der sich nicht beugen, sich nicht unterordnen kann, der auch in seiner Liebesleidenschaft alle Konventionen durchbricht und daher von der Gesellschaft krass zurückgewiesen wird.
„Klage und Triumph” – bereits im Titel seines Werkes hat Liszt durch Hinzufügung dieser Worte ausgesprochen, was er im „Tasso” zu musikalischer Darstellung bringen wollte. Die zweite seiner symphonischen Dichtung soll – um seine eigenen Worte zu gebrauchen -, „die große Antithesese des im Leben Verkannten, im Tode aber von strahlender Glorie umgebende Genius schildern …“ – „Lamento e Trionfo“, so heißen die beiden großen Kontraste im Geschick des Poeten, von denen mit Recht gesagt wurde, dass, ob auch oft mit Fluch ihr Leben belastet werde, „nimmer der Segen ausbleibe auf ihrem Grabe”, so Liszt.
Erst nach dem Abbruch der Virtuosenzeit und der Üebrsiedlung nach Weimar begann Liszt – inzwischen 36-jährig – mit seiner sinfonischen Arbeit. Erst jetzt entwickelten sich die konkreten Vorstellungen, die zur Ausbildung seiner Idee der Sinfonischen Dichtung führten.
Der Gattungsbegriff der Sinfonie hatte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine Eindeutigkeit verloren. zunehmend erhalten Bezeichnungen wie Tondichtung, Fantasie, Seelen- oder Tongemälde Bedeutung. Die Geschichte der Sinfonischen Dichtung wird allgemein mit der Entwicklung der Ouvertüre und deren Emanzipation von der Oper in Zusammenhang gebracht. Die Werke, die Liszt als Sinfonische Dichtungen bezeichnete, speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und Anlässen. „Tasso” und „Hamlet” wurden zuerst als Ouvertüren zu den gleichlautenden Dramen Goethes und Shakespeares komponiert. Alle Sujets der Sinfonischen Dichtungen rühren an die großen Themen der Religion, Philosophie oder der Literatur, was eben von Liszts Neigung zeugt, das Erleben über den Augenblick hinaus ins Allgemeine zu transzendieren. Nach Liszt sollen die Werke der Literatur in der neuen poetischen Musik aufgehen; Musik ist die eigentliche Sprache, die höchste Poesie. Liszt will die Grenzen der musikalischen Kunst erweitern und sieht es als seinen Auftrag an, einem anspruchsvollen Publikum die Weltliteratur zu spiegeln.
Dabei werden Liszts Goethe-Lieder häufig abweisend beurteilt, so die pathetische Ausdeutung der Mignon-Gestalt. Beliebt dagegen ist „Wanderers Nachtlied – Über allen Gipfeln ist Ruh”. Oder auch „Es war ein König in Thule”.
Die Ballade klingt wie ein schlichtes Lied, das aus dem imaginären Norden Thules tönt. Liszt macht aus dem volksliedhaften Gesang eine kontrastreiche aufgewühlte Szene.
„Freudvoll und leidvoll” aus Goethes „Egmont” lag schon in einer Vertonung Beethovens vor.
Freudvoll
und leidvoll
Gedankenvoll sein
Hangen und bangen
in schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
zum Tode betrübt –
Glücklich allein
ist die Seele, die liebt.
Liszt zeichnet ein mit Dur und Moll spielendes Porträt. Bei den Worten „freudvoll” und „leidvoll” lässt er die Dur- und Moll-Variante des gleichen Klanges unvermittelt nacheinander folgen. Im Alter drängt es Liszt noch mächtiger in die Sphäre des Sakralen und zu den zeitübergreifenden mythischen Symbolen der Kunst.
Wie ein verinnerlichtes Gebet in religiös-meditativer Stimmung wirkt auch die Goethe-Vertonung „Der du von dem Himmel bist”:
Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Ausflug nach Böhmen

Böhmenausflug vom 9. bis 12. April 2015

Unser Ausflug auf den Spuren Böhmens führte uns zunächst nach Cheb (Eger). Dort besichtigten wir den historischen Marktplatz. Im Wendlhaus war Goethe seinerzeit zu Gast bei Polizeirat Joseph Grüner. Er war nicht nur ein tüchtiger Polizist, der Räuberbanden im Kaiserwald das Handwerk legte, sondern auch ein eifriger Sammler von Naturalien. So fand er in Goethe einen sachkundigen und lobenden Kenner. Beide führten intensive Gespräche. Goethe besuchte auch den letzteren Egerer Scharfrichter Huß, besichtigte insbesondere dessen Münzsammlung. Andere „Utensilien“ von Huß konnten wir später besichtigen, sie jagten uns einen Schauer über den Rücken: Folterwerkzeuge wie Daumenschrauben und das Richtschwert.
Nun folgte gleich der Höhepunkt unserer Reise: Marianske Lazne (Marienbad). Anlaufpunkt war das Goethe-Museum, wo wir zu einer Führung erwartet wurden. Hier besichtigten wir die drei Räume, die Goethe 1823 zur Verfügung standen: Arbeits- und Schlafraum sowie das seinem Sekretär John vorbehaltene Zimmer. Goethe beschäftigte sich intensiv mit den um Marienbad vorkommenden Mineralien; zahlreiche Badegäste begleiteten ihn auf seinen Touren. Im Hause wurden die Gesteinsproben verpackt, nach Jena, zu Abt Reitenberger ins Prämonstratenserkloster Tepl oder zu Goethes Altersfreund Sternberg nach Prag geschickt, der dort gerade das Nationalmuseum einrichtete. In Aufsätzen befasste sich Goethe mit der Mineralogie des Marienbader Landes. Auch einfache Leute, so ein Bergmann aus Dreihacken, lieferte interessante Stücke. Dieser biedere Mann, der schöne Augiten brachte, erfreute sich höchsten Lobes des Weimarer Dichterfürsten.
Am Abend saßen wir im Bohemia-Hotel (Zuckerbäckerstil) noch in geselliger Runde zusammen.
Der nächste Tag begann mit einer wunderschönen Wanderung im Hochmoor von Kladska. Ein Plankensteg führte uns rund um einen See, an romantischen Baumgruppen vorbei, und wir konnten schon ahnen, dass hier alsbald seltene Orchideen, vielerlei Wollgrasarten, Rauschbeeren, Heidel- und Moosbeeren und noch zahlreiche andere Pflanzen verschiedener Arten blühen würden. Diese kleine, etwa zwei Kilometer lange, bequeme Wanderung hat allen gut gefallen.
Das Goethe-Restaurant in Frantiskovy Lazne (Franzensbad) war gar nicht so leicht zu finden. So hatten wir unser Mittagessen nach einiger Suche redlich verdient.
Die weitere Fahrt führte zu Schloss Kynzvart. Es gibt zwar keine direkte Verbindung zu Goethe, aber historisch interessant ist dieser Bau dennoch. Schließlich diente es als Sommerschloss keinem Geringerem als Metternich. Wir erhielten einen Eindruck von diesem großen Politiker und Diplomaten des 19. Jahrhunderts und seiner weit verzweigten Familie. Dabei zeigte sich, dass dieser Mann durchaus nicht nur der Stockreaktionär war, als den man ihn kennt, sondern ein ebenso gebildeter, geistreicher Gestalter seiner Zeit. Die Kunstsammlungen sind imposant. Wertvolle Altartafelbilder, eine französische Tapisserie aus der Renaissancezeit, frühbarocke Portraits und auch etliche Kuriosa sind dort zu besichtigen.

Einige von uns hatten ein hübsches Lokal mit böhmischer Küche ausgemacht, so wurde es wieder ein vergnüglicher Abend.

Am Sonnabend fuhren wir nach Teplice (Teplitz). Da lernten wir durch das Busfenster die schöne nordwestböhmische Landschaft kennen, freilich auch einige Kohlekraftwerke, die sicherlich nicht zu einer positiven Ökobilanz beitragen.
Die Führung im Schloss Teplice – ein sehr schöner Ort übrigens – war recht interessant. Wir besichtigten das sehenswerte Interieur, so den Renaissancesaal mit der bemalten Kassettendecke, den Rokokosaal mit seiner üppigen Stuckdekoration sowie viele andere Einrichtungsgegenstände. Lange Zeit befand sich das Schloss im Besitz der Famiie Clary-Aldringen. Sie wurde 1945 enteignet und vertrieben. Seitdem befindet es sich in Staatsbesitz, was dem Bau durch umfangreiche Instandhaltungs- und Restaurierungsarbeiten im Übrigen nicht schlecht bekommt.
Bedeutende Üersönlichkeiten weilten in seinen Mauern, so Prinz Charles Joseph de Ligne, Giacomo Casanova, Frederic Chopin und Franz Liszt. Im Jahres 1812 begegneten sich Goethe und Beethoven im Schlossgarten. Leider erfuhren wir trotz Nachfrage von unserem Museumsführer nicht viel Neues. Dies bedarf also eines informativen „Nachschlags“.
Im „U zlote koule“ (Bei der Goldenen Kugel) ging es am Abend recht ausgelassen zu. Mag sein, dass der auf sein vornehmes Renommee bedachte Chef unser fröhliches Treiben ein wenig kritisch beäugte, so ließen wir uns davon nicht stören. Das Essen war übrigens super, das Restaurant für Marienbad-Besucher sehr zu empfehlen.

Am Sonntagmorgen bestiegen wir den Komorni horka (Kammerbühl), der Goethe zu tiefgreifenden Betrachtungen veranlasste. Wie kam dieser Basaltberg in diese Gegend? Er vermutete zu Rehct, dass er vulkanischen Ursprungs sei, besprach diese Hypothese mit Sternberg und dem schwedischen Naturforscher und Chemiker Berzelius. Würde man einen Stollen in den Berg treiben, so müsste man auf die einst hoch geschossene Basaltsäule stoßen. Den Eingang dieses Stollens konnten wir besichtigen. Ein Dreiecksgiebel mit dem Namen Sternbergs, aber auch ein Goethe-Porträt hoch oben in der Felswand erinnern noch heute an diesen Disput.
Auf der Rückfahrt entdeckten wir, dank hartnäckiger GPS-Nachforschung unseres Busfahrers Uwe, endlich auch den Goethefelsen bei Hazlov (Haslau). Er befindet sich hinter einer Leitplanke und ist so klein, dass wir ihn auf der Herfahrt glatt übersehen hatten, obwohl wir uns regelrecht die Augen ausschauten. So war auch dieser Punkt unserer Fahrt erfüllt.
Als Fazit können wir jedoch auch ziehen: Diese Reise verlief nicht nur recht lehrreich, sie hat auch die beiden Goethe-Ortsvereinigungen in Erfurt und Gera ein ganzes Stück näher gebracht. Die „Chemie“ stimmt!

Bei unserer Besichtigung in Teplitz erfuhren wir leider zu wenig von der Begegnung Goethes und Beethovens. Hanns Stahmer stellte uns während der Tagung der Ortsvereinigungen in Hannover auf unsere Anfrage hin dankenswerterweise einen Auszug aus seinem noch unveröffentlichten Mansukript „Goethe und die Musik“ zur Verfügung.
Goethe und Beethoven lernen sich auch noch persönlich kennen: Es kommt zur denkwürdigen Begegnung der Beiden im Kurort Teplitz am Südrand des Erzgebirges. Die Wege der Beiden kreuzen sich dort fast zufällig. Kurz nach seiner Ankunft im Juli 1812 besucht Goethe den dort bereits weilenden kränklichen Beethoven und erkennt sogleich dessen starke Persönlichkeit. Sie unternehmen einen gemeinsamen Spaziergang und es kommt dann auch noch zu einem Treffen, bei dem Goethe Beethoven als Pianisten erleben kann. Beide äußern sich anschließend distanziert. Beethoven erlebt jetzt den von ihm seit seiner Kindheit so verehrten Dichter als höflich-korrekten „Geheimrat“, und nachdem Goethe die
wahrscheinlich eruptiven Klavierimprovisationen Beethovens miterlebt hat, vermerkt er immerhin nur kurz und trocken in sein Tagebuch: „köstlich gespielt“.
Der französische Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland resümiert: „Ohne Zweifel hat Goethe, der ein Urteil über die Musik scheute, den Komponisten zu seiner Fingerfertigkeit, seinem perlenden Spiel beglückwünscht und sich von der Musik gerührt und ergriffen gezeigt. Aber ein ästhetisches Urteil darüber, wie Beethoven es von einem Goethe erwartet hatte, kam nicht über seine Lippen, weil Goethe im Grunde – nichts davon verstand – Beethoven brach in Zorn aus…“
Beethoven schreibt an Bettina von Arnim:
„Dem Goethe habe ich meine Meinung gesagt, wie der Beifall auf unsereinen wirkt, und dass man seinesgleichen mit dem Verstand gehört sein will, Rührung passt nur für Frauenzimmer (verzeih mir’s), dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist schlagen.“
Und dann folgt zuletzt – und wohl auch als deutlichster Hinweis auf die große Verschiedenheit der beiden großen Meister – der berühmte, aber nicht zweifelsfrei belegbare Spaziergang in Teplitz, bei dem Beethoven Goethe demonstriert, wie man dem Hohen Adel ohne Unterwürfigkeit und ohne tiefe Verbeugung begegnet: Während Goethe zur Seite tritt und, sich tief verbeugend, artig den Hut zieht, geht Beethoven mit untergeschlagenen Armen mitten durch die ganze fürstliche Gesellschaft, als diese sich zufällig auf der Landstraße begegnen. Dann wartet Beethoven auf den nachkommenden Goethe und belehrt ihn, er habe denen zu viel Ehre angetan. Dem Freund Zelter beschreibt Goethe seinen neu gewonnenen Eindruck am 2. September 1812 so:
„Beethoven habe ich in Teplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel (verabscheuungswürdig) findet, aber sie dadurch freilich weder für sich noch für andere genussreicher macht.“
Selbst wenn dieser Vorgang nicht in Teplitz, sondern vielleicht am 8. September 1812 in Karlsbad stattgefunden haben sollte und gelegentlich auch einfach als Anekdote abgetan wird: die daraus erkenbar unterschiedliche Einstellung der Beiden wird sicher zutreffend veranschaulicht.

Goethes Romantik-Kritik

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 1. April 2015

„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“. Dieser Goethe’sche Ausspruch stammt aus einem Gespräch mit Eckermann, und zwar am 2. April 1829. Ähnliches findet sich in den „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 863, ca. 1822).
Goethe spricht nicht von d e r Klassik oder d e r Romantik, er hat also nicht die Epochenbezeichnungen im Sinn, die wir heute verwenden. Solche Bezeichnungen entstehen ja immer auch erst später.
Hinsichtlich der Romantik findet sich bei Novalis folgende berühmte Formulierung: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen den unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Davon später.
Zunächst sei daran erinnert, dass sich der Begriff des „Romantischen“ auch als Bezeichnung für das Mittelalter findet – als Gegenpol zur Antike. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hält August Wilhelm Schlegel in Berlin Vorlesungen. Auf die „Geschichte der klassischen Literatur“, die ausschließlich die Antike zum Thema hat, folgen 1802/03 die Vorlesungen zur „Geschichte der romantischen Literatur“. Hier geht es um das Mittelalter, wozu nicht nur die „Rittermythologie“ (wie etwa das Nibelungenlied), die Romanzen und Volkslieder gehören, sondern auch die frühe italienische Literatur (Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Tasso). „Romantisch“ sind alle diese Texte wegen ihrer Universalität des Geistes, der Darstellung des Universums im Geiste des Mittelalters und wegen ihrer Richtung auf das Unendliche hin. Merkwürdigerweise nennt Schlegel jedoch nicht nur mittelalterliche Texte, sondern auch Zeitgenossen, ja sogar Goethe (!), der sich mit zahlreichen Versuchen dem Mittelalter angenähert habe, so etwa mit dem „Faust“ oder dem „Götz von Berlichingen“.
Wie verhält es sich aber nun mit Goethes Diktum „gesund“ versus „krank“?
Dazu eine ausführliche Äußerung Goethes, und zwar vom 28. August 1808 (also an seinem 59. Geburtstag). Riemer notiert, am Abend habe man sich „über das antike Tragische und das Romantische“ unterhalten. (Nirgends verwendet Goethe hier den Begriff des „Klassischen“, aber wir können den Begriff des „Antiken“ als Synonym ansehen.) Goethe setzt also das „Romantische“ mit dem „Modernen“ gleich. Damit meint er jedoch nicht nur seine Zeitgenossen.
„Das Antike“ sei „noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich.“
Weiter: „Das antike Magische und Zauberische hat Stil, das Moderne nicht. Das antike Magische ist Natur, menschlich betrachtet, das Moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches.“
„Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales, ein mit Großheit (Stil) und Geschmack behandeltes Ideales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird.“
„Das Antike ist plastisch, wahr und reell; das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne […] Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält durch die romantische Behandlung einen seltsamen wunderbaren Anstrich, wo der Anstrich eben alles ist und die Unterlage nichts.“
Und noch schärfer und unwilliger, geradezu grimmig schreibt er:
„Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen [erlernt], eine Maskerade, grelle Lichterbeleuchtung, ist humoristisch (das heißt ironisch, vergleiche Ariost, Cervantes; daher ans Komische grenzend und selbst komisch) oder wird es augenblicklich, sobald der Verstand sich daran macht, sonst ist es absurd und phantastisch.“
Jetzt wird es klar: Ganz in dem Sinne, wie es auch die Vorlesungen August Wilhelm Schlegels getan haben, setzt Goethe den Begriff des „Romantischen“ mit dem Neuen gleich, und neu ist alles, was auf die Antike folgt.
Immerhin nennt er auch Texte und Autoren, die er nicht in Bausch und Bogen verurteilt, obwohl auch sie „romantisch“ sind. Ariost ist der Verfasser des „Orlando furioso“, deutsch „Der rasende Roland“. Nicht zu vergessen: Wielands im ironisch gebrochenen Stil gehaltenes Zaubermärchen „Oberon“ wurde unter Goethes Regie am Weimarer Hoftheater als Oper aufgeführt.
Trotz einiger Missbilligung („Geschmack“ wird vermisst), hat Goethe das Nibelungenlied zumindest zeitweise geschätzt und sich intensiv mit ihm beschäftigt. Es fehlt ihm dort zugleich eine humane Projektion. Diese mittelalterliche Dichtung enthalte zwar starke Charaktere, jedoch keine kultivierte, ausgebildete Menschlichkeit; kurz nichts Musterhaftes, Vorbildliches. Da müsse man immer zu den alten Griechen zurückgehen.
Und was die zeitgenössische Literatur angeht: Hier erweist sich Goethe als übermächtige Autorität gegenüber den „Jungen“, die er ablehnt oder mehr oder weniger milde kritisiert – und die gegen ihn aufmucken.
Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat dabei immer eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension.
Dabei pflegte Goethe Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einen durchaus guten Umgang mit der jungen Generation; es fand ein lebhafter Austausch mit den Schlegels, Schelling, Tieck, Novalis und anderen statt. Und auch umgekehrt. Dennoch kam es zur Entfremdung.
Warum? Die Neuorientierung und die Bekämpfung des „Alten“ verbanden sich mit einer Tendenz, die sich immer mehr auswuchs, nämlich die Tendenz, den Wert der eigenen Vergangenheit immer stärker hervorzuheben und ihre Qualität zu behaupten. Diese Tendenz mündete anfangs des 19. Jahrhunderts in den deutschen Kleinstaaten immer mehr in national-patriotische Bestrebungen ein, die mit einer völlig unhistorischen und somit falschen Mittelalterverehrung einher gingen. Diese Tendenz musste Goethes Widerstand, geradezu Abscheu hervorrufen.
Er wendet sich gegen das Postulat einer glanzvollen deutschen Vergangenheit, die sich nicht hinter den Griechen oder Römern verstecken muss.
Angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung wächst die deutsche Einheitssehnsucht an; man glaubt, mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation schon einmal ein einheitliches Deutschland gehabt zu haben.
Insofern ist die Wiederbelebung und zugleich Glorifizierung der mittelalterlichen Literatur nicht verwunderlich. Die Auflehnung gegen Napoleon, die in den Befreiungskriegen endete, sah Goethe skeptisch, weil er zum einen einer nationalen Bewegung misstraute, zum anderen kriegerische Auseinandersetzungen als barbarisch ansah.
„Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.“ (Venezianische Epigramme)
Im Zusammenhang mit der Betonung des Deutschen als etwas Eigenem steht die romantische Bevorzugung des Volkshaften und Volkstümlichen, die sich in Sammlungen von Märchen (Brüder Grimm) und Volksliedern (Des Knaben Wunderhorn) niederschlug. Hatten Goethe, Herder und andere noch selbst in ihrer Jugend Volkslieder gesammelt und ihnen einen ursprünglichen Zauber entdeckt, so distanzieren sie sich jetzt von den romantischen Produktionen, die ihnen übertrieben und affektiert vorkommen und sich mehr und mehr in den Dienst nationalistischer Ideen stellten.
Eine weitere Ursache für die Entfremdung zwischen Goethe und den Romantikern ist auch in deren mystisch-katholisierenden Bestrebungen zu sehen. Diese standen durchaus in Zusammenhang mit der genannten politischen Idee.

„friede ernert, unfriede verzert“

Ausflug nach Gotha am 14. März 2015

An diesem Sonnabend meinte es das Wetter nicht gut mit uns. Es nieselte, und es war kalt.
Dennoch sollte es ein ereignisreicher, interessanter Tag werden. Der Auftakt erfolgte im
Museum von Schloss Friedenstein. Wir erlebten eine sehr interessante und informative
Führung mit Frau Kretschmann. Die Geschichte des Schlosses Friedenstein ist von ihrem
Ursprung her mit Herzog Ernst, dem Frommen, verbunden. Er sorgte für den Bau der
imposanten barocken Schlossanlage, und er ließ 1650 im Westflügel eine eigene Münzstätte
einrichten. Der Name des Schlosses ist Programm. Es tobte ja noch der Dreißigjährige Krieg,
dem der fromme Souverän mit allen Mitteln auszuweichen suchte. Seine Hoffnung gründete
sich auf einen baldigen Frieden, der ja auch wenige Jahre später geschlossen wurde. Beeindruckend ist sein Wahlspruch „friede ernert, unfriede verzert“.
Wir besichtigten zahlreiche Wohn- und Repräsentationsräume, die vom Barock bis zum
Klassizismus gestaltet sind. Sehenswert ist natürlich der Festsaal, der durch seine üppigen
Stuckarbeiten auffiel. Vier allegorische Figuren verkörpern die vier Jahreszeiten. Auch lange
Türfluchten und das Audienzzimmer, das sich im oberen Etagenbereich befand und zu dem
die Bittsteller mühsam heraufsteigen mussten, belegten, dass der Herzog sehr wohl seinen
Machtanspruch auch auf diese Weise zu bekräftigen wusste. Viel Interessantes erfuhren wir
von den nachfolgenden Herrschern sowie von den territorialen Teilungen, die die einstigen
ernestinischen Lande noch weiter zersplitterten. Als die Linie Sachsen-Gotha-Altenburg im
Mannesstamm ausstarb, ging das Schloss an die Linie Sachsen-Coburg und Gotha über.
Nun war eine kleine Lesung im Ekhof-Theater angesagt. Sie wurde bestritten von den beiden
Kulmbachern Klaus Köstner und Jürgen Kohlberger und von Bernd Kemter aus Gera. Der
Kulmbacher Literaturverein und die Geraer Goethe-Gesellschaft pflegen schon mehrere Jahre
freundschaftliche Kontakte, und es besteht die Hoffnung, dass sich auch mit den Erfurtern ein
gedeihliches Miteinander entwickelt. Dass nur zwei Kulmbacher gekommen waren, lag an
dem hohen Krankheitsstand; Oberfranken wurde gerade von einer Grippewelle geschüttelt.
Es blieb noch etwas Zeit zur Abfahrt. Manche Teilnehmer besuchten das Herzogliche Schloss,
spazierten zur Orangerie oder wärmten sich in einem Cafe auf (nicht leicht zu finden).
Am frühen Nachmittag fuhren wir nach Friedrichroda, um die weltberühmte Marienglashöhle
zu bewundern. Sie gilt als eine der schönsten und größten Kristallhöhlen Europas. Auch hier
hatten wir eine Führung gebucht.
An sich handelt es sich ja bei den Felswände überziehenden Kristallen um Gips, doch zumeist
um sehr reinen Gips. Diese wunderschönen, durchscheinenden Kristalle, die bis zu einem
knappen Meter lang werden konnten, wurden für Altarbilder zur Marienverehrung gern
genutzt. Abgebaut wurde immer, wenn Bedarf bestand. Abgebaut wurde zwischen 1778, dem
Entdeckungsjahr der Höhle, und 1903. In der unteren Sohle besichtigten wir den Höhlensee
mit seinen reizvollen Wasserspiegelungen.
Anhand ausgestellter Technik konnten wir uns ein Bild von der schweren Arbeit der Bergleute
machen. Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die verfallene Höhle wieder
hergerichtet und den Besuchern zugänglich gemacht.
Durchgefroren trafen wir in der nahegelegenen Gaststätte St. Marien ein, stärkten uns bei sehr
zu empfehlendem Essen. Es entspannen sich angeregte Gespräche, so dass die
Freundschaftsbande zwischen beiden Goethe-Ortsvereinigungen fester geknüpft wurden.
Hans Borutta, Erfurt, schrieb: danke für den schönen Ausflug nach Gotha und in die Marienglashöhle. Trotz schlechten Wetters haben wir interessante Dinge über die Grafen und Fürsten in
Gotha erfahren. Das Schloss ist schon imposant, sehr beieindruckend wenn man
bedenkt unter welchen Bedingungen so etwas gebaut wurde. Den Park schauen wir
uns im Frühjahr noch mal an.
Bernd Kemter

„Gebändigt? Ungebändigt“ – Goethe und Beethoven

Vortrag von Dr. Arnold Pistiak, Potsdam, am 3. März 2015

Beethoven und Goethe: die unangefochtenen wichtigsten Vertreter ihrer Künste in Deutschland. Vieles stand zwischen ihnen: Ihre Altersdifferenz und die daraus resultierende Zugehörigkeit zu zwei Generationen etwa, ihre Herkunft: Patrizier der eine – Plebejer der andere. Und mit Sicherheit war es dem Weimaraner nicht entgangen, dass Beethoven den schmerzhaften Prozess von Selbstbeschränkung und Anpassung an das Hofleben weder hinter sich hatte noch beabsichtigte, dergleichen Selbst-Kastrationen vorzunehmen.
Zudem mochte ihn Beethovens republikanische, demonstrativ respektlose Haltung gegenüber dem Adel auch an Lenz erinnern, an „diese Schmid, diese Richter, diese Hölderlins“ – an diese Schuberts, diese Kleists, diese Hoffmanns, diese Heines, möchte man hinzufügen: an jene jungen Künstler, deren Lebens- und Kunstauffassung von der seinen beträchtlich abwich. Auch sollten wir die Möglichkeit ganz anders gearteter Anpassungsreaktionen nicht aus dem Auge verlieren, die aus den hier nicht zu diskutierenden, sondern nur als wirkend anzunehmenden genetisch bedingten Charakterunterschieden resultieren mochten.
Und wie sah es mit dem Literatur- und Musikverständnis beider Künstler aus? Einfach scheint die Antwort mit Blick auf Beethoven auszufallen: Er war Musiker, er beschäftigte sich spätestens seit seiner Jugend intensiv mit der Literatur, er bewunderte Goethe. Die überlieferten Aufzeichnungen sprechen eine eindeutige Sprache. „Absicht, trotz dem verfluchter Krieg Ausgaben von Schiller, Göthe” zu kaufen.
Weitaus schwieriger aber ist es, eine angemessene Antwort für den Dichter zu finden. Dass Goethe musikalisch gebildet war, hat Romain Rolland 1930 in seinem wichtigen Buch „Gœthe et Beethoven” überzeugend nachgewiesen: Goethe konnte singen, konnte Noten lesen, hatte Klavier-, in Straßburg auch Cellounterricht, komponierte versuchsweise, besuchte Konzerte und Opernaufführungen; er hatte eine besondere Affinität zu Bach, Händel, Mozart; sorgte als Weimarer Theaterleiter dafür, dass ständig italienische, französische und deutsche Opern gespielt wurden; er beschäftigte sich mit akustischen und musikästhetischen Fragen (Tonlehre, Verhältnis der Dur- und Molltonarten). Vor allem ist, metaphorisch gesagt, sein poetisches Werk voll von Musik. Beethovens Musik aber blieb ihm gleichwohl fern. Warum? Wir können es nicht wissen, sind auf Vermutungen angewiesen. Mir scheinen jedoch die Antworten, die Rolland gab, sehr bedenkenswert. „Alors, Gœthe reconnaît, admirait (si l’on veut) ce grandeur. – Mais il ne l’aime pas.“ Und warum nicht? Dreierlei, meint Rolland, liebte Goethe nicht: „C’est le démesuré. Et c’est la mélancolie romantique“ und: „son oreille ne tolère point le Top de bruit!.“ Vieles stand zwischen ihnen. „Der eigentliche Differenzpunkt aber blieb das Weltverhältnis beider Künstler“, fasst Jochen Golz (Präsident der Weimarer Goethe-Gesellschaft) seine Überlegungen zusammen. Vielleicht wird man auch festhalten dürfen: Der Jüngere trat erst dann ins Blickfeld des Älteren, als der, ein über Fünfzigjähriger, fest entschlossen war, jene „Mauer“ nicht einreißen zu lassen, noch selbst einzureißen, die er mühsam und schmerzhaft genug errichtet hatte, als für ihn notwendige Bedingung der eigenen Produktivität, wenn nicht: seines Lebens überhaupt. Aber die Frage nach den inneren Berührungspunkten beider Künstler zueinander ist damit nicht abgegolten. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein Schritt in diese Richtung. Sie seien als Versuch verstanden, mit Blick auf beide Künstler ungezwungen über einige Aspekte jener Problematik nachzudenken, die in den Stichworten „gebändigt“ – „ungebändigt“ mitschwingt. So – das ist meine Hoffnung – ist es vielleicht möglich, bereits Bekanntes gelegentlich in anderer, womöglich neuer Beleuchtung zu sehen, zu verstehen und zu genießen. Werfen wir zunächst ganz traditionell einen Blick auf jene legendären Begegnungen beider Künstler im Sommer 1812 in Karlsbad und Teplitz, in Badeorten der deutschen Hocharistokratie. Dazu gibt es eine reichhaltige Literatur, so dass ich mich hier auf einige Andeutungen beschränken kann. Zwei charakteristische und bekannte Zitate vorweg: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als es einem Dichter ziemt, Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehn seyn sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.” (9. August 1812) „Beethoven habe ich in Töplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt destabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verläßt, das vielleicht dem musikalischen Teil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er, der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.” (2. September 1812) Dieses Treffen war offensichtlich nicht langfristig vorbereitet, jedoch von beiden Partnern gewünscht. Beethoven hatte seinem mehrjährigen Freund Franz Oliva einen Brief an Goethe übergeben, den Oliva am 3. Mai 1811 in Weimar übergab. Beethoven schrieb unter anderem: „Bettine Brentano hat mich versichert, daß Sie mich gütig, ja sogar freundschaftlich aufnehmen würden, Wie könnte ich aber an eine solche Aufnahme denken, indem ich nur im Stande bin, Ihnen mit der größten Ehrerbietung, mit einem unaussprechlichen tiefen Gefühl für Ihre herrlichen Schöpfungen zu nahen.“ Es war kein Zufall, dass Goethe nur wenige Tage später erneut auf Beethoven aufmerksam gemacht wurde – in einem Brief eben von der damals von ihm noch verehrten, wenn nicht: geliebten Bettina Brentano. Beethoven, meinte sie, „ist unbefangen, und reichen Seegen hat er durch Dich, mit allen Kräften einer freien Natur hat er Dich aufgefaßt, er ist ein lebendiger Zeuge Deiner Herrlichkeit.“ Für Goethe war Beethoven im Jahre 1811 kein Unbekannter mehr, aber viel wird er von dem Komponisten kaum gewusst haben, als er beide Briefe erhielt. Er, der gut zwanzig Jahre Ältere, hatte mit Götz und Werther Brandbomben geworfen, als der Andere noch nicht einmal sechs war; Beethoven war noch nicht zwanzig, als Goethe aus Italien zurückkehrte, an eine Werkausgabe ging, sich über Friedrich Schiller ärgerte; als er sich entschloss, allen Anfeindungen und Verleumdungen zum Trotz mit Christiane Vulpius zusammenzuleben. 1811 dann der Besuch aus Wien. Oliva überbrachte nicht nur den Brief, er spielte auch Beethoven. Goethe hat wohl geantwortet. Jedenfalls hat sich ein auf den 25. Juni 1811 datiertes Briefkonzept des Dichters erhalten, in dem es heißt: „[…] ich habe niemals etwas von Ihren Arbeiten durch geschickte Künstler und Liebhaber vortragen hören, ohne daß ich gewünscht hätte Sie selbst einmal am Klavier zu bewundern und mich an Ihrem außerordentlichen Talent zu ergetzen.“ Wir wissen nicht, welche Sonaten Oliva in Weimar gespielt hat – aber die drastischen Abweichungen von der Goethe vertrauten Musik der Mozartzeit sind dem Dichter nicht entgangen. „[…] was so auf der Kippe steht“, habe er bemerkt, „muß sterben oder verrückt werden, da ist keine Gnade…!“ Von Anfang an also muss Goethe Beethoven gegenüber eine ambivalente Haltung eingenommen haben. Ihre Pole: tiefes Verständnis für die artistische und sicherlich auch für die psychologische Seite der Musik Beethovens einerseits – Fremdheit und Distanz andererseits. – Dazu kommt ein anderes: In den Jahren der rasch wachsenden Berühmtheit Beethovens nicht nur als Pianist, sondern auch als Komponist war der enge Gedankenaustausch Goethes mit Carl Friedrich Zelter schon Realität. Mit einem Konservativen also. In diesen Konstellationen mag ein Schlüssel dafür liegen, dass Goethe nach Teplitz Beethoven gegenüber schweigt: Er bedankt sich nicht für die Notensendung von Meeresstille und Glückliche Fahrt – „dem Verfasser der Gedichte: dem unsterblichen Goethe hochachtungsvoll gewidmet“ –, antwortet nicht auf Beethovens Brief vom 8. Februar 1823, schweigt zu dessen Tod. Allerdings gab es auch Gegenläufiges. Egmont und Fidelio wurden in Weimar aufgeführt. In Hauskonzerten, die in Goethes Wohnung stattfanden, erklangen Beethovensonaten. Im Mai 1830 spielte Felix Mendelssohn-Bartholdy dem Achtzigjährigen den ersten Satz der 5. Sinfonie auf dem Klavier vor. „An Beethoven wollte er gar nicht heran“, berichtete Mendelssohn seiner Familie und fuhr fort: Das Stück „bewegte ihn ganz seltsam; er sagte erst ´das bewegt aber gar nichts; das macht nur staunen; das ist grandios [´], u. dann brummte er so weiter u. fing nach langer Zeit wieder an: das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun Alle die Menschen zusammenspielen! Und bei Tische mitten in einem anderen Gespräch fing er wieder damit an.“ Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Beethoven: Die Bonner Familie Breuning, in der Beethoven verkehrte, war literaturinteressiert, und Beethoven hatte ab 1788 Kontakte zu der Bonner Lesegesellschaft; es gab Theateraufführungen nicht nur am Hoftheater (an denen er als Bratscher mitwirkte), sondern auch von wandernden Theatergruppen; wenige Jahre später schreibt er Lieder zu Goethetexten, und die erste Nachricht, derzufolge er an einer Komposition von Schillers An die Freude arbeitete, datiert vom 26. Januar 1793. Auf den Werther bezieht sich Beethoven in jenem verzweifelten, vermutlich 1812 geschriebenen Liebesbrief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ in die Beethoven-Literatur eingegangen ist. Bis zu dem Treffen von 1812 schuf Beethoven mehrere Lieder zu Goethetexten und die Schauspielmusik zu dem „herrlichen Egmont“, und auch die nach dem Sommer 1812 entstandenen Kompositionen Beethovens auf Goethetexte sind auf den gleichen Ton gestimmt: die Chorstücke Meeresstille und Glückliche Fahrt; die Umarbeitung des Jahrzehnte zuvor komponierten Bundeslieds, das Beethoven nun mit einem eindrucksvollen, lebendigen Holzbläsersatz ausstattete; die dreimalige Vertonung der Eröffnungsverse von Goethes Das Göttliche: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmiger Kanon. Kurz: Die in Beethovens Brief vom 12. April 1811 ausgedrückte Goethe-Verehrung wird man nicht in Zweifel ziehen müssen. Selbst Jahre später, 1823, als der Komponist sicherlich wusste, dass es keinen Grund gab, an der künstlerischen Ebenbürtigkeit von Goethe und ihm selbst zu zweifeln, schrieb er an den Dichter: „Einige Worte von Ihnen an mich würden Glückseeligkeit über mich verbreiten. – Euer Exzellenz mit der innigsten unbegrenztesten Hochachtung verharrender Beethoven.“
Heidnisch-Pantheistisches. Ein zentraler Bezugspunkt zwischen dem Dichter und dem Musiker war beider Umgang mit dem Prometheusmythos. Goethes Prometheus-Gedicht von 1774 wie auch das gleichnamige Stückfragment, dem es zugeordnet werden sollte, standen im Kontext einer raschen und vertieften Neuerschließung des antiken Kulturguts. – Stichwortartig erinnert sei etwa an die sensationellen Funde von Pompeji und Herculaneum, an die wenig später beginnenden Ausgrabungen auch in Griechenland (Olympia, 1787), die explodierende Sammeltätigkeit und die Einrichtung von Antikenkabinetten, die kleinen Schriften wie auch die monumentale Geschichte der Kunst des Altertums Johann Joachim Winckelmanns, die ästhetischen Feldzüge Lessings und Herders, deren Kampf gegen die Gottschedsche Variante des französischen Klassizismus und die zunächst punktuelle, dann immer intensivere Aneignung der Werke Shakespeares. Es gehörte zu den kämpferischen Versuchen, neues, bürgerliches, aufklärerisches Selbstbewusstsein zu artikulieren, innerhalb derer Herder notierte, Prometheus habe „unter den Griechen den Feuerfunken des Genies vom Himmel gestohlen“. Nur zehn Jahre später ließ der junge Schiller, ohne Goethes Gedicht kennen zu können, Karl Moor verzweifelt ausrufen: „Der hohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt.“ Indem aber Goethe seinerseits mit einem gigantischen, kühnen Griff das Feld: Philosophie – Natur – Gott – Religion – Pantheismus – Materialismus – Schicksal exponierte, war sein Gedicht in Gedanke und Sprache radikaler als alle anderen vergleichbaren zeitgenössischen Äußerungen zu Prometheus. Von Lessings Abhandlungen unterschied sich sein Prometheus unter anderem durch seinen leidenschaftlichen Sprachgestus; gegenüber den Auffassungen der französischen Materialisten besaß Goethes nicht-materialistische Position den Vorteil, dass sie in Deutschland nicht von vornherein abgelehnt wurde. Allerdings hatte Goethe das Gedicht jahrelang geheim gehalten. Fürchtete er – inzwischen Weimarer Minister geworden – die Auseinandersetzung, den Eklat? Vermutlich. Aber er hatte es seinem Jugendfreund Friedrich Heinrich Jacobi gegeben (nebenbei bemerkt: zu welchem Zweck, weshalb eigentlich?), der es 1785 ohne Einverständnis des Autors in einer Schrift mit dem provokanten Titel „Über die Lehren des Spinoza“ auf einem eingelegten Blatt abdruckte. Dass Prometheus dann zum „Zündkraut einer Explosion“ wurde, wie Goethe Jahrzehnte später im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit vermerkte, dass dieses Gedicht ein Ärgernis war, als es 1785 erschien, und bis heute ein Ärgernis geblieben ist, dürfte unbestritten sein. Was die „Explosion“, was die andauernden Angriffe auf Goethe, die auf ihn zielenden Verleumdungen auslöste, war die demonstrative Einnahme eines religiösen Standpunktes, der weder biblisch-traditionell noch atheistisch akzentuiert war und der den Glauben an einen Schöpfergott ersetzte durch den Glauben an die Identität von Gott und Natur oder auch, mit Goethes Worten, an das „Göttliche“ im Menschen. Der dort auf der Erde saß und, ein Lehm verarbeitender schöpferischer Bildhauer, ein Künstler also, Menschen nach seinem Bilde formte, sah keinen Grund mehr, Zeus zu respektieren: Nicht der frühere Gefährte: er selbst, Prometheus, war ja jetzt produktiv! Mündig geworden, kein „Kind“ mehr, wendet er nun nicht mehr sein „verirrtes Aug’/ Zur Sonne, als wenn drüber wär’/ Ein Ohr“ [kursiv: A.P.]. Und vor allem: „Zeit und Schicksal“ sind nun beider Herren: Die universalen Gesetzmäßigkeiten können nicht mehr willkürlich von nur einer Seite in Anspruch genommen werden: Sie dominieren alles – uns alle. Diese Entwicklungen können Beethoven kaum fremd gewesen sein. Der 19-Jährige, der sich an der Universität Bonn einschrieb, kann weder an Prometheus, an Das Göttliche oder dem Faust-Fragment noch, ein Schiller-Fan, an den Göttern Griechenlands und jenen heftigen Auseinandersetzungen vorübergegangen sein, die im Anschluss an die Veröffentlichung des Prometheus geführt wurden. Es war auch dieser zeitgenössische Kontext, in den sich Beethoven stellte, als er sich um 1800/1801 entschloss, die Musik zu dem heroischen Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ zu komponieren. Überhaupt hat Beethoven nicht nur mit dem Rückgriff auf den Prometheusmythos, sondern auch mit der Ouvertüre zu Coriolan, mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen sowie insbesondere mit seinem Opferlied (Text: Friedrich von Matthisson) tendenziell „Heidnisches“ zum Klingen gebracht. „Dieses Gedicht begleitete Beethoven sein halbes Leben […]“, schreibt Hans-Josef Irmen, und er nennt es ein „pseudo-freimaurerisches Lied“, das „von metaphysischer Wärme durchglüht ist und dem Humanitätsstil der Zauberflöte huldigt.“ Und in der Tat: Poetisches Bildmaterial, das, wiewohl germanisch gefärbt, zugleich mit jenem verwandt ist, das Goethe in seinem West-östlichen Divan benutzt (im Buch des Parsen); der Appell an den „Höchsten“, das gespendete Opfer anzunehmen; die ausdrücklich an Zeus gerichtete Bitte, „mir“ das „Schöne zu dem Guten“ zu gewähren, und zwar „als Jüngling“ wie „als Greis“: das alles ist klar und deutlich – und dies um so mehr, da Beethoven dieses Lied insgesamt viermal bearbeitet hat. Der Anrufung des Heidengottes entspricht der mehrfache Bezug auf ein durchaus antik verstandenes „Schicksal“ in Briefen und mündlichen Äußerungen Beethovens: „Zeige deine Gewalt Schicksal! Wir sind nicht Herrn über uns selbst; was beschlossen ist, muß sein, und so sey es dann!“ Und doch: Wenn auch um 1800 jedem Bezug auf die griechisch-römische Antike zumindest ein Moment des „Heidnischen“ anhaftet, so drängt sich gleichwohl die Frage auf, ob das Pantheistische bei Beethoven einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie bei Goethe? Die Frage wird man verneinen müssen. Dafür spricht schon jene bekannte Briefpassage, in der Beethoven mit Blick auf seine Taubheit an seinen Freund Franz Wegeler nach Bonn schreibt: „ich habe schon oft den schöpfer und mein daseyn verflucht, Plutarch hat mich zu der Resignation geführt, ich will wenn’s anders möglich ist, meinem schicksaal trozen, obschon es Augenblicke meines Lebens geben wird, wo ich das unglücklichste Geschöpf gottes seyn werde.“ Gleichwohl dürften damit die tief sitzenden aufklärerischen Zweifel des Komponisten kaum behoben worden sein. Wie anders ließe es sich erklären, dass Beethoven in der „Neunten“ auf jenen, ihn Jahrzehnte lang begleitenden Text zurückgreift, in dem die „Freude“ dem heidnischen „Elysium“ entstammt und in dem den beschwörenden Worten „muß er wohnen“ der Zweifel eingeschrieben ist? Zu dieser Vermischung von Christlichem und Heidnischem gesellt sich zudem Rein-Biblisch-Religiöses: „Doch gerecht ist Gottes Wille“, singt Florestan im Kerker, und zwar zu identifikatorischer Musik, und „Ja, ja, es ist eine Vorsehung!“ ergänzt Leonore; Beethoven nimmt damit eine Haltung ein, die man bei Goethe vergeblich suchen dürfte. Jedenfalls scheint dem Katholiken Beethoven jener konsequente Pantheismus fremd gewesen zu sein, der Goethe veranlasste, zielgerichtet nach dem Zwischenkieferknochen zu suchen, dem noch ausstehenden „Schlussstein“ zu einer entwicklungsgeschichtlichen Einordnung der Gattung Mensch in die Ordnung der Säugetiere. Goethe, nachdem er den gesuchten Knochen gefunden hatte, schrieb freudig an Herder: „Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht; wie schön es da wird. – “. Mit dieser Notiz Goethes wird zugleich eine Problematik angedeutet, die, so weit ich sehe, in den vergleichenden Betrachtungen zu Beethoven und Goethe bislang kaum erwähnt wurde. Ich meine den Umgang beider Künstler mit dem Satirischen. Dabei sei vorausgesetzt, dass „Satirisches“ nicht mit der Ebene des freundlich oder bärbeißig daherkommenden Humors identifiziert werden sollte, die in vielen Kompositionen Beethovens zu finden ist – mit diesen häufigen ruppigen Szforzati, diesen Synkopen und Taktverschiebungen, dem verspäteten Einsatz der Oboe in der Pastorale, oder der „polternden“ Ausgelassenheit der Wut über den verlorenen Groschen. Dies vorausgesetzt, kommt der neugierige Blick zu einem verblüffenden Ergebnis: Satirisches im eigentlichen Sinn – als scharfe, verlachende, distanzierte Gesellschaftssatire – finden wir bei Beethoven offensichtlich nur ein einziges Mal, in dem Flohlied aus der Szene „Auerbachs Keller“ (op. 75). Hingegen fehlt freundlich-harmlos-heitere Komik in der Art Beethovens bei dem reifen (nach-italienischen) Goethe weitgehend. Stattdessen blieb eine scharfe, satirisch formulierte Feudal- und Kirchen- (nicht aber: Religions-) Kritik für Goethe lebenslang ein wichtiges literarisches Thema; die Texte des „Großen Heiden Nummer I“ quellen davon geradezu über. Durchaus grotesk ist beispielsweise das Auftreten der „Pfaffenchristen“ in der wenig bekannten dialogischen Ballade „Die erste Walpurgisnacht“. In Briefen an Zelter (3. Dezember 1812) und Mendelssohn Bartholdy (9. September 1831) versuchte Goethe später, deren drastische Zielrichtung herunterzuspielen. „Der Einfall gefiel mir“, schrieb er mit Blick auf eine nicht genannte Quelle an Zelter; aber nicht der „Einfall“, sondern die Struktur des Textes ist ausschlaggebend: Die ihr Land und ihre Kultur verteidigenden („heidnischen“) Germanen, denen Goethe pantheistische, in seinem späteren Parsengedicht wieder aufgenommene Motive zugeordnet hat (Allvater, Rauch, Licht), sind durchgehend positiv, die sie attackierenden „Pfaffenchristen“ ebenso durchgehend satirisch-grotesk dargestellt. Der in dem Wechselgesang der Germanen formulierten kämpferischen Losung „Diese dumpfen Pfaffenchristen, Laßt uns keck sie überlisten!“ haben jene nur Drohungen der Gewalt und schließlich eine alberne Flucht entgegenzusetzen. Wer Opfer scheut, sagt das Gedicht, verdient seine Knechtschaft zu Recht. Und unausgesprochen schwingt die Frage mit: Was wird historisch aus diesem staatlich etablierten Christentum, aus diesem vorgeblich Neuen, das auf Brutalität, Aberglauben, Nichtwissen gegründet ist, werden? Der junge Mendelssohn übrigens, der sich mit der Komposition der Ballade ab 1830 beschäftigte, mag die „heidnische“ Tendenz des Goetheschen Textes nur am Rande wahrgenommen haben. Aber der Komponist des Lobgesangs oder des Elias, der die Kantate 1841 bis 1843 umarbeitete, kann das Nicht-Christliche, „Heidnische“ der Vorlage wohl nicht übersehen haben, hat es aber letztlich unbeachtet gelassen. Warum? Das ist ein anderes Thema. Jedenfalls verlieh er ganz im Sinne des Textes dem Schlusschor „der Druiden und des Heidenvolks“ hymnische Züge: Mendelssohn. Mit einem hymnischen Lobgesang endet auch Beethovens Schlusschor zu Kotzebues Stück „König Stephan“, das im Umkreis der „Befreiungskriege“ entstand und sich auf die Christianisierung Ungarns bezieht. Aber Kotzebue und Beethoven nehmen in diesem Festspiel eine genaue Gegenposition zu Goethe ein: Der hymnische, geradezu ekstatische Preis gilt nicht den „Heiden“, sondern – um mit Goethe zu sprechen – deren „Überwindern“, jenen, die die Christianisierung vorantrieben und durchsetzten.
Die religionsphilosophische Position des Prometheus-Gedichts ist das Eine – die in ihm artikulierte produktiv-schöpferische Kraft das Andere. Jenes berühmte „Im Anfang war die Tat“ galt zugleich dem mythologischen antiken Helden. Auch dadurch unterschied sich Goethes Prometheusfigur von anderen poetischen Figuren der „Genieperiode“; wie auch die ihr verwandte Goethesche Faustfigur geht sie über jene hinaus: Denn Götz, Prometheus und Faust räsonieren nicht nur (wie etwa Ferdinand in „Kabale und Liebe“), sondern entwickeln die (utopische) Alternative der Entfaltung der menschlichen Schöpferkraft. Hier ist bereits in der Vor-Weimarer Zeit etwas angelegt, was dann, bestärkt durch das Italienerlebnis, zu einer zentralen Dominante der Goetheschen Weltkonzeption werden wird: Das der Prometheuskonzeption anhaftende Aggressive – das Subjektivistische, „Geniehafte“, Maßlose, Militante, Machtpolitische – wird zugunsten des Produktiven, Schöpferischen immer weiter reduziert werden. Schon Werther hatte ja die „Einschränkung“ beklagt, „in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind“ (22.5.71), und den Wunsch nach Entfaltung der Kräfte ausgesprochen, die in ihm ruhen, „die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach, das engt das ganze Herz so ein –“ (17.5.71). Den früh eingeschlagenen Weg, die Entfremdung der Arbeit kritisch zu reflektieren, verfolgte Goethe bis zu seinem Tod. Der Große Einzelne, das selbstherrlich handelnde Universalgenie, wird mit der Unterordnung Egmonts unter die „Sonnenpferde der Zeit“ oder mit der Akzeptanz der „ewigen, ehrnen/ Großen Gesetze“ (Das Göttliche) verabschiedet. Die Erfahrungen der Französischen Revolution verstärkten diese Tendenz ebenso wie die Zuwendung zur antiken Maß-Konzeption und die Suche nach „Gesetzen“ in der Gesellschaft und in der Kunst. Das, was an die Stelle der Heroisierung des einzig aus sich heraus handelnden Kraftgenies tritt, ist die Frage nach den Möglichkeiten schöpferischer Produktivität im Alltag, ist die Kooperation der produzierenden Individuen, ist die kleine, private oder auch die große weltumspannende praktische „Tat“ – die Umgestaltung eines Parks („Die Wahlverwandtschaften“); die Rettung von Menschen aus dem Hochwasser („Johanna Sebus“); die Ausbildung eines Menschen, der zunächst unbedingt Schauspieler werden wollte, zu einem Arzt („Wilhelm Meister“); die Entwässerung von Sümpfen („Faust“); „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung“ („Vermächtnis altpersischen Glaubens“). Oder anders gesagt: Es ist in hohem Maße der Reflex der anbrechenden Industrialisierung und der damit verbundenen evolutionären wie revolutionären Umgestaltung des gesamten Gefüges der Gesellschaft. „Und schreib getrost: Im Anfang war die Tat“. Die Prämisse Fausts war – wenn ich die Werke Beethovens richtig höre – auch die des Komponisten. Aber in seinem Umgang mit der Prometheus-Problematik wird auch eine der großen Divergenzen zwischen Goethe und Beethoven sichtbar: Denn die weltverändernde „Tat“ hatte bei Beethoven nur gelegentlich etwas mit der Dimension der Produktion zu tun. Zwar interessiert er sich für Flugversuche wie für die „schon gegenwärtige Dampf-Schifffahrt“ und fragt verallgemeinernd, „was für ferne Schwimmer wird’s da geben, die unß Luft u. Freyheit verschaffen?!-“ Aber weder eine an Therese Malfatti gerichtete Frage („Haben sie Göthes Wilhelm Meister gelesen“) noch – und darauf kommt alles an – seine Werke lassen erkennen, dass Beethoven der materiellen Produktion oder dem Prozess der Industrialisierung eine besondere Bedeutung beigemessen hätte. Beethovens „Botschaft“, die mit seiner Prometheus-Musik verbunden ist, lautet anders: Es ist die demonstrativ, die beispielhaft vorgetragene Überzeugung, dass es möglich sei, auch „in diesen wüsten Zeiten“ nicht nur auf dem Lyrisch-Verträumten oder dem Humorvollen zu bestehen, „Dissonanzen“ nicht aufzulösen, sondern auch und immer wieder eine entschieden kämpferische Haltung einzunehmen. Nichts davon klingt allerdings an, wenn das berühmte Doppelthema, das als konzentrierter Ausdruck von Beethovens Prometheus-Musik verstanden werden darf, um 1801/ 1802 erstmalig auftritt. Leicht kommt es daher, locker, ein wenig spielerisch oder auch zärtlich, und zwar sowohl im Ballett-Finale „Die Geschöpfe des Prometheus“ (op. 43) wie auch in den 12 Contretänze(n) für Orchester (WoO 14, siebter Tanz). Noch weist nichts darauf hin, welche unbeschreiblichen Energien Beethoven ihm abgewinnen wird. Anders dann die Behandlung des Doppelthemas in den anspruchsvollen Klaviervariationen Es-Dur op. 35 sowie im 4. Satz der Eroica. Der musikalisch eher harmlose Preis des Prometheus in dem Finale des Balletts genügte Beethoven also nicht: Offensichtlich ging es ihm in den Klaviervariationen wie in der „Eroica“ darum, dem Thema samt seinen Variationen nun völlig neuartige, weitreichende Dimensionen abzugewinnen: über das Spielerische, Tänzerische, Zärtliche, Freudige hinaus auch die Haltung des Heroisch-Pathetischen, Majestätisch-Kämpferischen. Beide Werke, insbesondere die im Verhältnis zu ihren Vorläuferinnen gigantisch erweiterte, die Normen sprengende „Eroica“, atmen nun den gleichen Geist wie die Prometheus-Dichtung Goethes: Kein Gott – Prometheus ist der Schöpfer seiner „Geschöpfe“. Während aber Goethe seit der Mitte der siebziger Jahre von dem rebellischen Potenzial des eigenen Gedichts abrückte, knüpfte Beethoven gerade daran an und radikalisierte es, indem er die menschenbildende Kraft des Prometheus erneut bestätigte und pries: Nicht nur der vierte, „prometheische“ Satz der Sinfonie, sondern auch deren erster und zweiter Satz werden von sich allmählich aufbauenden großen Klangballungen bestimmt, von den mehrfach auftretenden drastischen Dissonanzen sowie von dem Anknüpfen an den Typus der Marschmusik aus der Zeit der Französischen Revolution und dessen Integration in den ersten und vierten Satz der Sinfonie. Zudem intoniert der im zweiten Satz erklingende Trauermarsch das heroische Pathos eines großen Verlustes. Die Interpretationsspielräume sind gewiss offen. „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“ schreibt Beethoven über den zweiten Satz seiner 1800/1801 entstandenen Grande Sonate As-Dur (op. 26) und deutet damit einen Dimension an, die wir nicht übersehen sollten. Drei Jahrzehnte später scheint genau diese Problematik in Heinrich Heines Prosagedicht „Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme“ anzuklingen: „Rund um mich her liegen die Leichen meiner Freunde, aber wir haben gesiegt. Wir haben gesiegt, aber rund umher liegen die Leichen meiner Freunde.“ Ganz unabhängig von mündlichen und schriftlichen Äußerungen Beethovens gestattet die heroisch-pathetische Konzeption der ganzen Sinfonie die Feststellung: Nicht die Zurückweisung oder gar die Aufgabe des „Revolutionären“ zugunsten des „Evolutionären“ und „Pragmatischen“ ist in der Sinfonia „Eroica“ zu hören, sondern die Beibehaltung des Prometheischen und dessen Verknüpfung mit dem Konkret-Revolutionären und Visionären. Und zwar geschieht das wegen und trotz der „neuangehenden christlichen Zeiten“, „da sich alles wieder in´s alte Gleiß zu schieben sucht, buonaparte mit dem Pabste das Concordat geschlossen“, da die „Zeit des Revolucionfieber´s“ vorüber ist! Anders gesagt: Was sich hier vollzieht, ist eine spezifische Verknüpfung von antiken Mythen, aufklärerischen Hoffnungen und nachrevolutionärem Tatbewusstsein, von Französischer Revolution und Menschheitsgeschichte; es ist die klingende Realisierung dessen, was Romain Rolland ein „republikanisches Glaubensbekenntnis“ genannt hat.
Zu der Frage nach dem Umgang mit dem Prometheischen nach 1800 gehört auch die Frage nach dem Umgang mit der weltgeschichtlichen Persönlichkeit Napoleon. Dabei geht es mit Blick auf Beethoven sicherlich zunächst um die Es-Dur-Sinfonie: Hatte der Komponist während der Komposition (tatsächlich) zugleich an Napoleon gedacht? Noch am 26. August 1804, nur drei Monate vor der Kaiserkrönung (2. Dezember 1804), schreibt Beethoven an Breitkopf & Härtel: „die Simphonie ist eigentlich betitelt Ponaparte“. Aber hatte er von Anfang an beabsichtigt, diese Sinfonie und Napoleon explizit in Verbindung zu bringen? Verknüpfte er intentional seinen Republikanismus mit der welthistorischen Napoleon-Figur? Die nüchterne Antwort kann wohl nur lauten: Wir wissen es nicht. Belege fehlen. Klar ist jedoch: Wir können Beethovens Republikanismus ‘hören‘; was wir nicht hören können, ist ein in die Sinfonie integriertes Moment der Abgrenzung von Napoleon. Erst nach der Kaiserkrönung entwickelte sich jener schmerzhafte Zwiespalt, den Beethoven bewusst durchlebte und bewundernswert bewältigte: Bewahrung von Revolutionsbegeisterung und Republikanismus einerseits – Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik andererseits. Die Titelblatt-Legende mag als erhellendes Kuriosum gelten; unabhängig davon aber äußert sich in Beethovens Werken nach 1804 seine Haltung gegenüber Napoleon in Anderem: Der auch nach 1804 hörbare heroisch-euphorische Lobgesang, gerichtet auf eine universell verstandene, revolutionär-aktiv zu erreichende Befreiung, wird nun mit der Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik verbunden. Es scheint mir, dass beides in eins zusammenfällt. So ist klar, dass die Konzeption der Oper „Leonore/ Fidelio“ trotz der lächerlichen Geschichte von dem rechtzeitig eintreffenden Minister ohne den Atem der Großen Revolution schlechthin undenkbar ist. Die Freiheitssehnsucht Florestans und der übrigen Gefangenen wie auch die Tat Leonores und das an ihr festgemachte „Hohelied der Gattenliebe“ funktionieren nur in diesem Kontext. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass, was die Dynamik der Handlung angeht, buchstäblich alles – von den vier Ouvertüren bis zum Finale – in der Befreiung von einem Tyrannen kulminiert: Das ist das, was ich unter dem „Zusammenfall“ von Revolutionsbegeisterung und Abgrenzung von Napoleon verstehe. Ganz anders gelagert und gleichwohl ähnlich ist die Egmont-Musik (1810): Hier geht es, wenn auch keineswegs ausschließlich, sehr direkt um das Problem der nationalen Befreiung und Selbstbestimmung (wieder spielt übrigens eine Frau eine wichtige Rolle). Intonation und Haltung der „Siegessymphonie“ aber korrespondieren eng mit dem heroisch-kämpferischen Schlusssatz der Fünften Sinfonie. So verwandelt Beethovens Egmont-Musik – insonderheit natürlich die Ouvertüre, das erste Lied Klärchens und die abschließende Siegessymphonie – das frühklassische tragische Schauspiel um Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstbestimmung tendenziell in ein antinapoleonisches Stück, in dem das nicht aufgegebene Freiheitsethos Beethovens und sein Glaube an einen möglichen Sieg über die (nicht nur napoleonische) Tyrannei utopisch zusammenklingen. In Bezug auf die „Befreiungskriege“ und die mit ihnen verbundene nationale Problematik jener Jahre empfand sich Beethoven offensichtlich eine Zeit lang als eingreifender Künstler – Goethe hingegen nicht. Gerade diesem Feld gegenüber verschrieb er sich die Haltung des zurückhaltenden, skeptischen, distanziert blickenden, nüchtern analysierenden, philosophischen Beobachters. Weder die napoleonische Eroberungspolitik noch die Kaiserkrönung von 1804 dürften bei ihm tiefgehende Hoffnungen oder Enttäuschungen verursacht haben. Wie immer man seine Huldigungsgedichte auf Napoleon und dessen Gattin beurteilen mag – auch sie gehören zur Haltung Goethes, und sie verleugnen die Faszination nicht, die von dem Kaiser der Franzosen auf ihn ausging: „Was Tausende verwirrten, löst der Eine“, heißt es in „Im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad“. Ja, Goethe verwendet motivisches Material (Meer, Erde, Ufer), das er dann zwei Jahrzehnte später in den Zweiten Teil des Faust einarbeiten würde: „Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen, Er übersieht’s in hellstem Geisteslicht, Das Kleinliche ist alles weggeronnen, Nur Meer und Erde haben hier Gewicht; Ist jenem erst das Ufer abgewonnen, Daß sich daran die stolze Woge bricht, So tritt durch weisen Schluß, durch Machtgefechte Das feste Land in alle seine Rechte“. Vermutlich setzte er nach und nach auf eine sich mit Notwendigkeit vollziehende Niederlage Napoleons. Und sicherlich erkannte er, nach wie vor in „Hofluft“ agierend, im Unterschied zu den begeisterten, naiven, maßlosen Sängern des antinapoleonischen Kampfes, dass die „Befreiungskriege“ wesentlich ein Gemenge unterschiedlicher, ja divergierender Interessen darstellten; dass die machtpolitischen Interessen der Herrschenden das Eine waren, die reine „vaterländische“ Begeisterung der kleinen Leute aber das ganz Andere. Zudem musste der geschürte Nationalismus und Chauvinismus dem Weltmann Goethe unangenehm sein, dem weitblickenden Intellektuellen, der bereits über das nachdachte, was er später „Weltliteratur“ nennen würde. „Übermacht, ihr könnt es spüren, Ist nicht aus der Welt zu bannen; Mir gefällt zu konservieren Mit Gescheiten, mit Tyrannen“. An wen Goethe auch denken mochte, als er diese Verse schrieb – sein dreimaliger Gedankenaustausch mit dem wirklichen Mächtigen schwingt hier sicherlich mit. Nicht nur über den Werther und die tragische Kunst hätte der Kaiser der Franzosen mit Goethe gesprochen, sondern auch über Weltpolitik. „Was will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal“ – gleichgültig, ob Napoleon das späterhin geflügelte Wort wirklich so formuliert hat oder ob es ihm Goethe bei der Niederschrift seiner Erinnerungen an das Gespräch von 1806 in den Mund gelegt hat: „Politik ist das Schicksal“ – das ist eine präzise Zusammenfassung jenes (politischen) Chaos, über das Goethe immer wieder nachgedacht hat. „Wie lange wirst du noch Kaiser sein, wann wirst auch du untergehen?“, mochte Goethe sich gefragt haben, als er Napoleon in Erfurt und Weimar aus nächster Nähe beobachten konnte – fünf Jahre, bevor dessen „Politik“ dann tatsächlich sein „Schicksal“ wurde, seine wirkliche Niederlage, seine wirkliche Vertreibung. Goethe reflektiert diesen weltgeschichtlichen Vorgang rückblickend im „West-östlichen Divan“ mit der gnadenlosen Verurteilung des „Tyrannen“ Timur durch den Winter: „Hör’ es Gott, was ich dir biete! Ja bei Gott! von Todeskälte Nicht, o Greis, verteid’gen soll dich Breite Kohlenglut vom Herde, Keine Flamme des Dezembers.“ Die mythologische, verfremdende Darstellung verdeutlicht, dass es Goethe um weit mehr ging als darum, in die Welle der Verurteilung Napoleons einzustimmen: Vielmehr ist „Der Winter“ und „Timur“ durchaus ein weiterer seiner nicht ablassenden Versuche, sich an den großen Einzelnen der Weltgeschichte abzuarbeiten – vorgenommen etwa in „Götz von Berlichingen“, in weiten Partien des Zweiten Teils der Faust-Tragödie, in dem Umgang mit dem Prometheus-Mythos, in „Egmont“. Immer ging es – auch – darum, das ‘Wesen’ des Einzelnen zu erfassen, die seine Persönlichkeit bedingenden Konstellationen, das Widerspruchsgefüge, innerhalb dessen er sich bewegt, seine Handlungsmöglichkeiten, seine Stellung in der Weltgeschichte. Noch 1829 habe er zu Eckermann gesagt, die Dämonen stellten, „um die Menschheit zu necken“, gewaltige Figuren hin: Raffael, Mozart, Shakespeare, Napoleon (6. Dezember). Den Zyklus „Urworte. Orphisch“ können wir wahrscheinlich als ein zentrales Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung mit dieser Problematik betrachten – den gesamten Zyklus, meine ich, nicht aber die isoliert herausgegriffene Kategorie des „Dämonischen“.
Gestatten wir uns nun einen Blick auf ein Feld, das mit Stichworten wie Partnerbeziehung, Liebe, Erotik nur höchst notdürftig angedeutet werden kann. Ich möchte allerdings lediglich einen einzelnen Aspekt herausgreifen: den Umgang beider Künstler mit dem Erotisch-Sinnlichen – einen Umgang, der widersprüchlicher kaum gedacht werden kann. Was Goethe betrifft, so wissen wir heute, dass er vielerlei und sehr verschiedenartige Beziehungen zu sehr verschiedenen Frauen hatte – Beziehungen, die zumindest annähernd mit seinen jeweiligen poetischen Texten korrespondierten. Auch wenn es keine Belege gäbe – die verschiedenen Ausprägungen des Goetheschen „Amour“-Sprechens sind unüberhörbar: die frühen Leipziger anakreontischen Gedichte und Theaterstücke, die hochgestimmte Sprache der Straßburger Lyrik und der „Leiden des jungen Werthers“, die Milde und Verinnerlichung der Sprache im ersten Weimarer Jahrzehnt, die in der nachitalienischen Zeit gewonnene souveräne Verknüpfung dieser Haltung mit freizügig-erotischem Sprechen einerseits, mit Weltbezügen andererseits; das leise ironische Sprechen in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“. Die Vielfalt und Intensität des Goetheschen Amour-Diskurses, wird man sagen dürfen, kann uns eine Ahnung von der Vielfalt und Intensität der wirklichen, „konkreten“ Partnerbeziehungen des Dichters vermitteln. Dabei wird das Erotisch-Sexuelle immer als wesentliches, geradezu zentrales Element des Menschlichen begriffen; niemals wird es, soweit ich sehe, im Zusammenhang mit der Werkidee eines beliebigen Textes irgendwie denunziert. Das beginnt in Goethes früher Lyrik (etwa mit der Verletzung des „Knaben“ im Heidenröslein) und ist in den folgenden Jahrzehnten allenthalben zu finden. An die „Römischen Elegien“ wäre hier zu denken, an die auf erotische Aktivität zielende Verwandlung Fausts („Mit diesem Trank im Leibe“), aber auch an das die Normen überschreitende „unmoralische“ Verhalten Gretchens Faust gegenüber. Hier noch ein Hinweis auf zwei weniger bekannte „sittenwidrige“ Szenen aus Goethes Romanen: zunächst auf den geheimnisvollen nächtlichen Besuch bei Wilhelm – auf einen Vorgang, der in der Wirkungsgeschichte der „Lehrjahre“ wohl nicht zufällig eine eher untergeordnete Rolle spielt und der mit Philines erstaunlichem Satz „und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?’“ korrespondiert. Dann aber auf eine Szene aus dem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, in der der souveräne Erzähler ins Innere der Romanfiguren blickt – auf eine Szene übrigens, die vielleicht nicht genetisch, auf jeden Fall aber konzeptionell mit Mozarts Skandaloper „Così fan tutte“ verknüpft ist: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. „Ich brauche einen Text, der mich anregt; es muß etwas Sittliches, Erhebendes sein. Texte, wie Mozart komponieren konnte, wäre ich nie imstande gewesen, in Musik zu setzen. Ich könnte mich für liederliche Texte niemals in Stimmung versetzen.“ Beethoven, 1825. Damit hat er, unbeabsichtigt sicherlich, zugleich etwas Wesentliches über sein Verhältnis zu Goethe preisgegeben. Denn wenn Erotik und Sexualität aus Goethes Werken nicht wegzudenken sind, wenn wechselnde Partnerbeziehungen bis zum Partnertausch in seinen Texten immer wieder wie selbstverständlich auftreten, wenn Partner-Stabilität und „Treue“ im Selbstverständnis des Weimaraners keine große Rolle gespielt zu haben scheinen – dann befand er sich damit nicht nur in scharfem Gegensatz etwa zu Hölderlin oder Schiller, sondern auch zu Beethoven. „Sinnlicher Genuß ohne Vereinigung der Seelen ist und bleibt viehisch, nach selben hat man keine Spur einer edlen Empfindung, vielmehr Reue“, notierte der Komponist. Die drastische Ausdrucksweise ist das eine – die textgebundenen Kompositionen das andere; und auch sie sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache: An Intensität steht die Beethovensche „Amour“-Musik den Texten Goethes gewiss in nichts nach, hingegen an Vielfalt. Weder „Liederliches“ vermag ich in Beethovens Liedern zu finden noch solche aufs Menschlich-Existenzielle zielenden Goethisch-Mozartische Haltungen wie erotische Leidenschaftlichkeit und Selbstbestimmung. Aber, wer weiß: Vielleicht werden speziellere, subtilere Analysen Modifikationen erbringen? Abgesehen von einigen heiteren Liebesliedern finden wir jedenfalls vor allem schmerzhafte Gesänge, in denen Liebessehnsucht ausgedrückt wird – den Zyklus „An die ferne Geliebte“, oder vier 1808 gleichzeitig vorgelegte Vertonungen des Duetts Mignon-Harfner „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Es gibt allerdings jenes gewaltige Werk, in dem Beethovens Sehnsüchte, gerichtet auf eine Partnerin, ganz andere Dimensionen erlangen als in den genannten Liedern und in dem Gemeinsamkeiten und Gegensätze zu Goethe geradezu grell hervortreten: seine einzige Oper „Fidelio”. Gewiss: Zwar ruft auch Goethes Klärchen die Männer auf, Egmont zu befreien; zwar verkündet sie, in eine Allegorie transformiert, in dem vorrevolutionären Stück jene symbolische Freiheit, für die später auch Leonore kämpft; zwar erhöhen beide Frauen den Mann: Dass aber fast zwei Jahrzehnte nach der Großen Revolution mit all ihren „dämonischen“ Folgen eine bewaffnete Frau auftritt; dass sie beschließt, einem ihr unbekannten Verfolgten zu helfen („Wer du auch seist, ich will dich retten“); dass sie den Tyrannen schließlich mit der Pistole bedroht und ihm in extremer Stimmlage und im Fortissimo zuruft „Tödt` erst sein Weib“ – dergleichen ist, scheint mir, bei Goethe unvorstellbar. Aber Leonore ist eine Ausnahme. Insgesamt gesehen dominiert in Beethovens Kompositionen wie in seinem Leben eine schwärmerische Haltung, eine Werther-Haltung, wenn man so will. Sie äußert sich auch in jenem in Beethovens Nachlass gefundenen erschütternden Brief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ bekannt geworden ist. Das weibliche Geschlecht war für Beethoven vermutlich immer aufregend und anziehend – aber dennoch war es ihm nicht oder kaum möglich, Partnerschaftsbeziehungen im eigentlichen Sinn herzustellen. War das seiner zunehmenden Taubheit geschuldet? Man möchte es annehmen, aber es ist nicht ausgemacht. Jedenfalls befand sich Beethoven den Frauen gegenüber im Grunde in einer furchtbaren Isolation. Verlobungen und Heiratspläne schlugen fehl; ein Leben in einer Familie blieb Wunschvorstellung. „O geliebte J., nicht der Hang zum andern Geschlechte zieht mich zu ihnen, nein nur sie ihr ganzes Ich mit allen ihren Eigenheiten – haben meine Achtung – alle meine gefühle – mein ganzes Empfindungs vermögen an sie gefesselt –“, heißt es 1805. Die erst 1957 veröffentlichten Briefe Beethovens an Josephine Deym, geb. Brunsvik, zeigen den höchst sensiblen, vergeblich hoffenden, leidenden Mann. Noch ein Jahrzehnt später, fast fünfzigjährig, notiert er: „Nur liebe – ja nur Sie Vermag dir ein glücklicheres leben zu geben – o Gott – laß mich sie – jene endlich finden – die mich in Tugend bestärkt – die mir erlaubt mein ist.“ „erlaubt mein“! Beethoven fand sie nicht.
Eine Bemerkung zum Schluss. Die „holde Kunst“, meinte das lyrische Ich in Schuberts Lied „An die Musik“, habe „mich in eine beßre Welt entrückt“, habe „den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen“: Der junge Franz Schubert und sein Freund Franz von Schober bekannten, dass sie in der Kunst Trost suchten. Einer solchen Positionsbestimmung der Kunst hätten sicherlich weder Beethoven noch Goethe ohne Weiteres zugestimmt – und auch der reife Schubert nicht. Und doch ist es überaus interessant, dem Auftreten und den Stellenwert des Bekenntnishaften im Werk beider Künstler zumindest punktuell nachzugehen – so ungreifbar dieses Gebiet auch immer ist und so wenig jeder, der sich wagt, hierzu ein Wort zu sagen, darauf rechnen kann, Verständnis oder gar Zustimmung zu erlangen. Ja, sich über das Bekenntnishafte in der Kunst zu verständigen, das scheint in unseren ‚postmodernen’, ja: ‚nach’-postmodernen Zeiten ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zu sein. Zunächst mag man allerdings prononciert fragen: Ist denn die Frage nach dem „Bekenntnismäßigen“ in der Kunst eine legitime, weil kunstgemäße Frage? Darauf mag es im Hinblick auf alte und neue, auf außereuropäische und europäische Künste und Kunstformen sehr unterschiedliche Antworten geben. Was mich angeht, so möchte ich jedenfalls die Auffassung voraussetzen, dass jeder künstlerischen Äußerung (jedem Wort, jeder Farbe, jedem Klang, jeder Bewegung in Tanz, Film oder in anderen neuen Medien) bekenntnishafte Momente eingeschrieben sind. Sie resultieren mit Notwendigkeit aus dem subjektiven Charakter der Künste: Indem er Kunst treibt, bekennt sich gerade dieser Mensch zu diesem oder jenem. Nur erscheint das Bekenntnishafte nicht immer rein, sondern auch spielerisch verhüllt oder verfremdet. Für Beethoven und Goethe aber scheint zu gelten, dass bei ihnen – in der Regel – das Explizit-Bekenntnishafte gerade den wesentlichen Inhalt darstellt. Blicken wir unter diesem Aspekt noch einmal auf die Probleme, zu denen ich mich soeben geäußert habe – Teplitz, Heidnisch-Pantheistisches, Satirisches, Tat und Kraft, Napoleon, Partnerbeziehung, Liebe, Erotik – so treten (überraschend) viele Unterschiede in das Gesichtsfeld. Demgegenüber will ich mir nun gestatten, hier abschließend auf eine gleichfalls erstaunliche Reihe von Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen. Das ist hier nicht auszuführen, sondern lediglich stichpunktartig zu benennen – und ich gebe hier ganz bewusst keine Beispiele, da diese Positionen eben durchgehend auftreten. Gemeinsam war ihnen, dass sich ihre Kunst, wie Goethe sagte, am „Leben selbst“ orientierte, also dem Menschlichen, Irdischen verpflichtet sind – oder, anders gesagt: dass ein durchaus human verstandener „Eros“ die zentrale Grundlage ihrer Texte, ihrer Musik bildet. Gemeinsam war Goethe wie Beethoven der die nationalen Grenzen überschreitende internationale Blick wie auch das sehr bewusste Anknüpfen an die vorliegenden Spitzenleistungen der jeweiligen Kunst; insbesondere, aber bei weitem nicht nur an die Antike und an Shakespeare. Hierzu gehört vor allem die an Shakespeare orientierte Mischung des Ernsthaften, ja Tragischen mit dem Komischen; für Beethoven war daneben das ausdrückliche Anknüpfen an Bach und Händel, an Haydn und Mozart wichtig: „daß sie Sebastian Bach’s Werke herausgeben wollen“, schrieb er an den Verleger Franz Hofmeister, „ ist etwas, was meinem Herzen, das gantz für die Hohe große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, recht wohl thut […]” Gemeinsam war beiden die beiderseitige Hochschätzung der Volkskunst – fassbar etwa in Beethovens Tänzen wie auch in der liedhaften Dimension der Lyrik Goethes. Gemeinsam war beiden das wenn auch verschieden ausgeprägte, sich auf unterschiedliche Bereiche beziehende moderne Weltverständnis, zu dessen Grundbeziehungen Widersprüche, Polarität und Entwicklung gehören: Einheit des Zarten, Elegischen, Trauernden, Elysischen und Kämpferischen. Gemeinsam war beiden eine demonstrativ in Anspruch genommene wie verteidigte ausgeprägte künstlerische Individualität. Sich spontan entwickelnd oder ausgeklügelt fixiert, dürfte sie allerdings kaum geeignet sein, Zuschreibungen wie „klassisch“, „klassizistisch“ oder „romantisch“ zu bedienen bzw. in ihnen aufzugehen. Wir werden demgegenüber der künstlerischen Subjektivität Goethes und Beethovens wohl am ehesten gerecht, wenn wir verstehen, dass jeder von ihnen der großen Bewegung des europäischen Romantizismus eine jeweils spezifische, originelle, unverwechselbare, höchst wichtige Note hinzufügte. Gemeinsam war ihnen schließlich ihre maßgebliche Beteiligung an der Veränderung und Weiterentwicklung ästhetischer Grundpositionen, an der drastischen Überwindung der herrschenden ästhetischen Normen wie an der komplexen Veränderung der vorgefundenen Gattungen und Genres wie des poetischen und musikalischen Materials. Ja, es ist sicherlich nur wenig übertrieben zu behaupten, dass Ausmaß und Intensität der beethovenschen wie goetheschen Neuerungen ebenso wenig überblickbar sind wie ihre enormen nationalen und übernationalen zeitgenössischen und nachhaltig-langfristigen Wirkungen. „D e r kann Alles“, meinte Franz Schubert – nun, wie immer man diesen Satz betrachtet, euphorisch ist er auf jeden Fall. Aber seien wir keine Beckmesser! Akzeptieren wir, dass sich Kultur wie auch die sie immer wieder bedrängende Barbarei nicht nur aus einer Quelle speisen. „Zu dem Guten, von dem wir überzeugt sind, die Menschen zu bewegen, dürfen wir uns nicht unserer Argumente bedienen, sondern wir müssen bedenken, was ohngefähr die ihrigen wären“, hatte Goethe in jenen Jahren an Zelter geschrieben, da Beethoven an der „Eroica“ arbeitete. Eine derartige Strategie mochte Beethoven ferngelegen haben – im Einsatz für das Metaphorisch-Gute traf er sich jedoch nicht nur mit Herders Preis des „Wahren, Guten und Würklich Schönen!“, sondern eben auch mit Goethe: „Edel sey der Mensch hülfreich und gut!“ – die Eingangsverse des hymnischen Goethegedichts „Das Göttliche“ hat Beethoven gleich mehrmals in Musik gesetzt: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmigen Kanon. – Goethe und Beethoven: Der Dichter bezeichnete den Musiker als „ungebändigt“, der aber vermutete bei jenem ein Zuviel an „Hofluft“. Aber war der Eine tatsächlich „ungebändigt“ – der Andere aber womöglich ‚gebändigt’? Gefiel die „Hofluft“ dem Einen „zu“ sehr, dem Anderen aber nur ‚sehr’? Nun, derartige Charakterisierungsversuche werden nicht ganz abzuweisen sein: Wesentliches über Persönlichkeit und Werk erfassen sie mit Sicherheit nicht. Vielleicht aber dürfen wir sagen: „gebändigt“ wie „ungebändigt“ waren sie beide: „gebändigt“ – durch Krankheit und Alter, durch politische und menschliche Enttäuschungen, durch existenziell menschliche, wirtschaftliche oder politische Zwänge, durch „Hofluft“. – „Ungebändigt“ aber waren sie – zumeist – in ihrer Kunst.

Durch weiße Pracht zum Grünen Hügel

Erfurter und Geraer Goethefreunde fuhren am 14. Februar 2015 gemeinsam in die Wagner-, Liszt-, Jean-Paul- und Oskar-Stadt Bayreuth

Es war ein Experiment, dass sich Erfurter und Geraer Goethefreunde Mitte Februar erstmals gemeinsam auf eine Exkursion begaben. Würden die Landeshauptstädter, die sich erst vor wenigen Wochen zur neuen Erfurter Goethe-Gesellschaft zusammengefunden haben, und die Provinzler, die als Geraer Goethe-Gesellschaft nun schon seit neun Jahre bestehen, gut miteinander auskommen? Diese Sorge erwies sich als unbegründet, denn nicht nur das Interesse an dem großen Dichter verbindet die Mitglieder und Gäste der beiden Ortsvereinigungen, sondern auch das Bedürfnis nach angeregten Gesprächen und Aufgeschlossenheit gegenüber weiteren kulturellen Angeboten.

Eine Sorge ganz anderer Art war allerdings für die Organisatoren zunächst weitaus größer: Die Leitung des Festspielhauses Bayreuth, dessen Besichtigung der Höhepunkt unserer Fahrt sein sollte, sagte von einem Tag auf den anderen mit einer für uns fadenscheinigen Begründung den Termin für die Führung ab. Da war guter Rat teuer. Die ganze Fahrt absagen? Bus und Gasthaus abbestellen? Teilnehmerbeiträge zurück überweisen? – Nicht bei uns.
Bernd, der Vorsitzende beider Gesellschaften, rotierte, telefonierte, schrieb E-Mails, fragte hier und dort an. Landete vor weiteren Bayreuther geschlossenen Türen, stieß an Termin- und Finanzhürden, bekam Absagen, aber dann zum Glück auch Zusagen. So vom Kunstmuseum Bayreuth, das uns kurzfristig seinen Saal zur Verfügung stellte. So von den beiden Geraer Musikern Cornelius Herrmann (Cello) und Benjamin Stiehlau (Piano) sowie der früheren Schauspielerin Otti Planerer, die uns Geraer Goethefreunde schon mehrmals mit ihrem Können begeisterten. So taten sie’s auch am 14. Februar in Bayreuth.

Die vier Akteure brachten auf die Schnelle ein erstaunlich ansprechendes und kurzweiliges Programm auf die Beine.
Otti Planerer und Bernd Kemter warfen sich die textlichen Bälle zu und ließen dabei so manche lustige, ernsthafte, besinnliche oder gar skandalöse Begebenheit aus der Geschichte des großen Bayreuther Musikus Richard Wagner lebendig werden. Musik vom Feinsten entlockten Cornelius Herrmann und Benjamin Stiehlau ihren Instrumenten und begeisterten ebenfalls das Publikum.

Auf der Busfahrt zum Grünen Hügel hatten sich die Erfurter und Geraer Teilnehmer zunächst an der weißen Pracht erfreut, die im Fränkischen die vorbeiziehende Landschaft überpudert hatte. Bei einer Rast testete mancher gleich mal, ob die Konsistenz der weißen Masse sich für Schneebälle eignete. In den Genuss frischer fränkischer Luft kamen alle beim kurzen Stadtrundgang, der u. a. vorbei an der Villa „Wahnfried“ führte. Auch sie leider geschlossen, aber hier waren’s Bauarbeiten. Das efeuumwachsene Grab Wagners, also seinen letzten grünen Hügel, entdeckten wir allerdings doch noch.

Die berühmten Film-Oskars wurden erst zehn Tage später vergeben. Wir aber bekamen unseren „Oskar“ sofort, nämlich in Form von fränkischer Gastlichkeit und fränkischer Küche im gleichnamigen Traditionsgasthaus. Während wir Speise und Trank genossen, wurden viele anregende Gespräche geführt und nicht mit Anerkennung für den gelungenen schönen Ausflug gespart. -anke-

In E-Mails von Teilnehmern liest sich das so:

Vielen, vielen Dank für den schönen Tag. Wenn er auch aufregend begann, wofür ich mich nochmal entschuldigen möchte. Es war mir sehr peinlich, dass der ganz Bus auf uns warten musste, aber am Ende war alles gut und es war toll organisiert, der musikalisch-literarisch-satirische Nachmittag so aus dem Stegreif – einfach ein Genuss. Wir drei Freundinnen sind uns einig, dass wir solche Ausflüge, die einem auch geistig etwas geben, gerne wieder mit euch mitmachen wollen. Dreifache große Anerkennung! Es war eine sehr angenehme und inspirierende Goethe-Gesellschaft. – Elke L. aus Gera

Ein herzliches Dankeschön für die Organisation und fröhliche Untermalung unseres Ausflugs nach Bayreuth. Auch wenn uns das Festspielhaus nicht recht mochte, so haben Sie, Herr Kemter, es mit Geschick verstanden, doch eine interessante Fahrt daraus zu machen. Wir sind auch alle wieder gut in Erfurt gelandet… Ansonsten bleibt uns die Fahrt, durch den kalten Februar in guter Erinnerung. Annerose und Hans Borutta, Erfurt