Vortrag von Dr. Arnold Pistiak, Potsdam, am 3. März 2015
Beethoven und Goethe: die unangefochtenen wichtigsten Vertreter ihrer Künste in Deutschland. Vieles stand zwischen ihnen: Ihre Altersdifferenz und die daraus resultierende Zugehörigkeit zu zwei Generationen etwa, ihre Herkunft: Patrizier der eine – Plebejer der andere. Und mit Sicherheit war es dem Weimaraner nicht entgangen, dass Beethoven den schmerzhaften Prozess von Selbstbeschränkung und Anpassung an das Hofleben weder hinter sich hatte noch beabsichtigte, dergleichen Selbst-Kastrationen vorzunehmen.
Zudem mochte ihn Beethovens republikanische, demonstrativ respektlose Haltung gegenüber dem Adel auch an Lenz erinnern, an „diese Schmid, diese Richter, diese Hölderlins“ – an diese Schuberts, diese Kleists, diese Hoffmanns, diese Heines, möchte man hinzufügen: an jene jungen Künstler, deren Lebens- und Kunstauffassung von der seinen beträchtlich abwich. Auch sollten wir die Möglichkeit ganz anders gearteter Anpassungsreaktionen nicht aus dem Auge verlieren, die aus den hier nicht zu diskutierenden, sondern nur als wirkend anzunehmenden genetisch bedingten Charakterunterschieden resultieren mochten.
Und wie sah es mit dem Literatur- und Musikverständnis beider Künstler aus? Einfach scheint die Antwort mit Blick auf Beethoven auszufallen: Er war Musiker, er beschäftigte sich spätestens seit seiner Jugend intensiv mit der Literatur, er bewunderte Goethe. Die überlieferten Aufzeichnungen sprechen eine eindeutige Sprache. „Absicht, trotz dem verfluchter Krieg Ausgaben von Schiller, Göthe” zu kaufen.
Weitaus schwieriger aber ist es, eine angemessene Antwort für den Dichter zu finden. Dass Goethe musikalisch gebildet war, hat Romain Rolland 1930 in seinem wichtigen Buch „Gœthe et Beethoven” überzeugend nachgewiesen: Goethe konnte singen, konnte Noten lesen, hatte Klavier-, in Straßburg auch Cellounterricht, komponierte versuchsweise, besuchte Konzerte und Opernaufführungen; er hatte eine besondere Affinität zu Bach, Händel, Mozart; sorgte als Weimarer Theaterleiter dafür, dass ständig italienische, französische und deutsche Opern gespielt wurden; er beschäftigte sich mit akustischen und musikästhetischen Fragen (Tonlehre, Verhältnis der Dur- und Molltonarten). Vor allem ist, metaphorisch gesagt, sein poetisches Werk voll von Musik. Beethovens Musik aber blieb ihm gleichwohl fern. Warum? Wir können es nicht wissen, sind auf Vermutungen angewiesen. Mir scheinen jedoch die Antworten, die Rolland gab, sehr bedenkenswert. „Alors, Gœthe reconnaît, admirait (si l’on veut) ce grandeur. – Mais il ne l’aime pas.“ Und warum nicht? Dreierlei, meint Rolland, liebte Goethe nicht: „C’est le démesuré. Et c’est la mélancolie romantique“ und: „son oreille ne tolère point le Top de bruit!.“ Vieles stand zwischen ihnen. „Der eigentliche Differenzpunkt aber blieb das Weltverhältnis beider Künstler“, fasst Jochen Golz (Präsident der Weimarer Goethe-Gesellschaft) seine Überlegungen zusammen. Vielleicht wird man auch festhalten dürfen: Der Jüngere trat erst dann ins Blickfeld des Älteren, als der, ein über Fünfzigjähriger, fest entschlossen war, jene „Mauer“ nicht einreißen zu lassen, noch selbst einzureißen, die er mühsam und schmerzhaft genug errichtet hatte, als für ihn notwendige Bedingung der eigenen Produktivität, wenn nicht: seines Lebens überhaupt. Aber die Frage nach den inneren Berührungspunkten beider Künstler zueinander ist damit nicht abgegolten. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein Schritt in diese Richtung. Sie seien als Versuch verstanden, mit Blick auf beide Künstler ungezwungen über einige Aspekte jener Problematik nachzudenken, die in den Stichworten „gebändigt“ – „ungebändigt“ mitschwingt. So – das ist meine Hoffnung – ist es vielleicht möglich, bereits Bekanntes gelegentlich in anderer, womöglich neuer Beleuchtung zu sehen, zu verstehen und zu genießen. Werfen wir zunächst ganz traditionell einen Blick auf jene legendären Begegnungen beider Künstler im Sommer 1812 in Karlsbad und Teplitz, in Badeorten der deutschen Hocharistokratie. Dazu gibt es eine reichhaltige Literatur, so dass ich mich hier auf einige Andeutungen beschränken kann. Zwei charakteristische und bekannte Zitate vorweg: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als es einem Dichter ziemt, Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehn seyn sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.” (9. August 1812) „Beethoven habe ich in Töplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt destabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verläßt, das vielleicht dem musikalischen Teil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er, der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.” (2. September 1812) Dieses Treffen war offensichtlich nicht langfristig vorbereitet, jedoch von beiden Partnern gewünscht. Beethoven hatte seinem mehrjährigen Freund Franz Oliva einen Brief an Goethe übergeben, den Oliva am 3. Mai 1811 in Weimar übergab. Beethoven schrieb unter anderem: „Bettine Brentano hat mich versichert, daß Sie mich gütig, ja sogar freundschaftlich aufnehmen würden, Wie könnte ich aber an eine solche Aufnahme denken, indem ich nur im Stande bin, Ihnen mit der größten Ehrerbietung, mit einem unaussprechlichen tiefen Gefühl für Ihre herrlichen Schöpfungen zu nahen.“ Es war kein Zufall, dass Goethe nur wenige Tage später erneut auf Beethoven aufmerksam gemacht wurde – in einem Brief eben von der damals von ihm noch verehrten, wenn nicht: geliebten Bettina Brentano. Beethoven, meinte sie, „ist unbefangen, und reichen Seegen hat er durch Dich, mit allen Kräften einer freien Natur hat er Dich aufgefaßt, er ist ein lebendiger Zeuge Deiner Herrlichkeit.“ Für Goethe war Beethoven im Jahre 1811 kein Unbekannter mehr, aber viel wird er von dem Komponisten kaum gewusst haben, als er beide Briefe erhielt. Er, der gut zwanzig Jahre Ältere, hatte mit Götz und Werther Brandbomben geworfen, als der Andere noch nicht einmal sechs war; Beethoven war noch nicht zwanzig, als Goethe aus Italien zurückkehrte, an eine Werkausgabe ging, sich über Friedrich Schiller ärgerte; als er sich entschloss, allen Anfeindungen und Verleumdungen zum Trotz mit Christiane Vulpius zusammenzuleben. 1811 dann der Besuch aus Wien. Oliva überbrachte nicht nur den Brief, er spielte auch Beethoven. Goethe hat wohl geantwortet. Jedenfalls hat sich ein auf den 25. Juni 1811 datiertes Briefkonzept des Dichters erhalten, in dem es heißt: „[…] ich habe niemals etwas von Ihren Arbeiten durch geschickte Künstler und Liebhaber vortragen hören, ohne daß ich gewünscht hätte Sie selbst einmal am Klavier zu bewundern und mich an Ihrem außerordentlichen Talent zu ergetzen.“ Wir wissen nicht, welche Sonaten Oliva in Weimar gespielt hat – aber die drastischen Abweichungen von der Goethe vertrauten Musik der Mozartzeit sind dem Dichter nicht entgangen. „[…] was so auf der Kippe steht“, habe er bemerkt, „muß sterben oder verrückt werden, da ist keine Gnade…!“ Von Anfang an also muss Goethe Beethoven gegenüber eine ambivalente Haltung eingenommen haben. Ihre Pole: tiefes Verständnis für die artistische und sicherlich auch für die psychologische Seite der Musik Beethovens einerseits – Fremdheit und Distanz andererseits. – Dazu kommt ein anderes: In den Jahren der rasch wachsenden Berühmtheit Beethovens nicht nur als Pianist, sondern auch als Komponist war der enge Gedankenaustausch Goethes mit Carl Friedrich Zelter schon Realität. Mit einem Konservativen also. In diesen Konstellationen mag ein Schlüssel dafür liegen, dass Goethe nach Teplitz Beethoven gegenüber schweigt: Er bedankt sich nicht für die Notensendung von Meeresstille und Glückliche Fahrt – „dem Verfasser der Gedichte: dem unsterblichen Goethe hochachtungsvoll gewidmet“ –, antwortet nicht auf Beethovens Brief vom 8. Februar 1823, schweigt zu dessen Tod. Allerdings gab es auch Gegenläufiges. Egmont und Fidelio wurden in Weimar aufgeführt. In Hauskonzerten, die in Goethes Wohnung stattfanden, erklangen Beethovensonaten. Im Mai 1830 spielte Felix Mendelssohn-Bartholdy dem Achtzigjährigen den ersten Satz der 5. Sinfonie auf dem Klavier vor. „An Beethoven wollte er gar nicht heran“, berichtete Mendelssohn seiner Familie und fuhr fort: Das Stück „bewegte ihn ganz seltsam; er sagte erst ´das bewegt aber gar nichts; das macht nur staunen; das ist grandios [´], u. dann brummte er so weiter u. fing nach langer Zeit wieder an: das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun Alle die Menschen zusammenspielen! Und bei Tische mitten in einem anderen Gespräch fing er wieder damit an.“ Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Beethoven: Die Bonner Familie Breuning, in der Beethoven verkehrte, war literaturinteressiert, und Beethoven hatte ab 1788 Kontakte zu der Bonner Lesegesellschaft; es gab Theateraufführungen nicht nur am Hoftheater (an denen er als Bratscher mitwirkte), sondern auch von wandernden Theatergruppen; wenige Jahre später schreibt er Lieder zu Goethetexten, und die erste Nachricht, derzufolge er an einer Komposition von Schillers An die Freude arbeitete, datiert vom 26. Januar 1793. Auf den Werther bezieht sich Beethoven in jenem verzweifelten, vermutlich 1812 geschriebenen Liebesbrief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ in die Beethoven-Literatur eingegangen ist. Bis zu dem Treffen von 1812 schuf Beethoven mehrere Lieder zu Goethetexten und die Schauspielmusik zu dem „herrlichen Egmont“, und auch die nach dem Sommer 1812 entstandenen Kompositionen Beethovens auf Goethetexte sind auf den gleichen Ton gestimmt: die Chorstücke Meeresstille und Glückliche Fahrt; die Umarbeitung des Jahrzehnte zuvor komponierten Bundeslieds, das Beethoven nun mit einem eindrucksvollen, lebendigen Holzbläsersatz ausstattete; die dreimalige Vertonung der Eröffnungsverse von Goethes Das Göttliche: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmiger Kanon. Kurz: Die in Beethovens Brief vom 12. April 1811 ausgedrückte Goethe-Verehrung wird man nicht in Zweifel ziehen müssen. Selbst Jahre später, 1823, als der Komponist sicherlich wusste, dass es keinen Grund gab, an der künstlerischen Ebenbürtigkeit von Goethe und ihm selbst zu zweifeln, schrieb er an den Dichter: „Einige Worte von Ihnen an mich würden Glückseeligkeit über mich verbreiten. – Euer Exzellenz mit der innigsten unbegrenztesten Hochachtung verharrender Beethoven.“
Heidnisch-Pantheistisches. Ein zentraler Bezugspunkt zwischen dem Dichter und dem Musiker war beider Umgang mit dem Prometheusmythos. Goethes Prometheus-Gedicht von 1774 wie auch das gleichnamige Stückfragment, dem es zugeordnet werden sollte, standen im Kontext einer raschen und vertieften Neuerschließung des antiken Kulturguts. – Stichwortartig erinnert sei etwa an die sensationellen Funde von Pompeji und Herculaneum, an die wenig später beginnenden Ausgrabungen auch in Griechenland (Olympia, 1787), die explodierende Sammeltätigkeit und die Einrichtung von Antikenkabinetten, die kleinen Schriften wie auch die monumentale Geschichte der Kunst des Altertums Johann Joachim Winckelmanns, die ästhetischen Feldzüge Lessings und Herders, deren Kampf gegen die Gottschedsche Variante des französischen Klassizismus und die zunächst punktuelle, dann immer intensivere Aneignung der Werke Shakespeares. Es gehörte zu den kämpferischen Versuchen, neues, bürgerliches, aufklärerisches Selbstbewusstsein zu artikulieren, innerhalb derer Herder notierte, Prometheus habe „unter den Griechen den Feuerfunken des Genies vom Himmel gestohlen“. Nur zehn Jahre später ließ der junge Schiller, ohne Goethes Gedicht kennen zu können, Karl Moor verzweifelt ausrufen: „Der hohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt.“ Indem aber Goethe seinerseits mit einem gigantischen, kühnen Griff das Feld: Philosophie – Natur – Gott – Religion – Pantheismus – Materialismus – Schicksal exponierte, war sein Gedicht in Gedanke und Sprache radikaler als alle anderen vergleichbaren zeitgenössischen Äußerungen zu Prometheus. Von Lessings Abhandlungen unterschied sich sein Prometheus unter anderem durch seinen leidenschaftlichen Sprachgestus; gegenüber den Auffassungen der französischen Materialisten besaß Goethes nicht-materialistische Position den Vorteil, dass sie in Deutschland nicht von vornherein abgelehnt wurde. Allerdings hatte Goethe das Gedicht jahrelang geheim gehalten. Fürchtete er – inzwischen Weimarer Minister geworden – die Auseinandersetzung, den Eklat? Vermutlich. Aber er hatte es seinem Jugendfreund Friedrich Heinrich Jacobi gegeben (nebenbei bemerkt: zu welchem Zweck, weshalb eigentlich?), der es 1785 ohne Einverständnis des Autors in einer Schrift mit dem provokanten Titel „Über die Lehren des Spinoza“ auf einem eingelegten Blatt abdruckte. Dass Prometheus dann zum „Zündkraut einer Explosion“ wurde, wie Goethe Jahrzehnte später im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit vermerkte, dass dieses Gedicht ein Ärgernis war, als es 1785 erschien, und bis heute ein Ärgernis geblieben ist, dürfte unbestritten sein. Was die „Explosion“, was die andauernden Angriffe auf Goethe, die auf ihn zielenden Verleumdungen auslöste, war die demonstrative Einnahme eines religiösen Standpunktes, der weder biblisch-traditionell noch atheistisch akzentuiert war und der den Glauben an einen Schöpfergott ersetzte durch den Glauben an die Identität von Gott und Natur oder auch, mit Goethes Worten, an das „Göttliche“ im Menschen. Der dort auf der Erde saß und, ein Lehm verarbeitender schöpferischer Bildhauer, ein Künstler also, Menschen nach seinem Bilde formte, sah keinen Grund mehr, Zeus zu respektieren: Nicht der frühere Gefährte: er selbst, Prometheus, war ja jetzt produktiv! Mündig geworden, kein „Kind“ mehr, wendet er nun nicht mehr sein „verirrtes Aug’/ Zur Sonne, als wenn drüber wär’/ Ein Ohr“ [kursiv: A.P.]. Und vor allem: „Zeit und Schicksal“ sind nun beider Herren: Die universalen Gesetzmäßigkeiten können nicht mehr willkürlich von nur einer Seite in Anspruch genommen werden: Sie dominieren alles – uns alle. Diese Entwicklungen können Beethoven kaum fremd gewesen sein. Der 19-Jährige, der sich an der Universität Bonn einschrieb, kann weder an Prometheus, an Das Göttliche oder dem Faust-Fragment noch, ein Schiller-Fan, an den Göttern Griechenlands und jenen heftigen Auseinandersetzungen vorübergegangen sein, die im Anschluss an die Veröffentlichung des Prometheus geführt wurden. Es war auch dieser zeitgenössische Kontext, in den sich Beethoven stellte, als er sich um 1800/1801 entschloss, die Musik zu dem heroischen Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ zu komponieren. Überhaupt hat Beethoven nicht nur mit dem Rückgriff auf den Prometheusmythos, sondern auch mit der Ouvertüre zu Coriolan, mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen sowie insbesondere mit seinem Opferlied (Text: Friedrich von Matthisson) tendenziell „Heidnisches“ zum Klingen gebracht. „Dieses Gedicht begleitete Beethoven sein halbes Leben […]“, schreibt Hans-Josef Irmen, und er nennt es ein „pseudo-freimaurerisches Lied“, das „von metaphysischer Wärme durchglüht ist und dem Humanitätsstil der Zauberflöte huldigt.“ Und in der Tat: Poetisches Bildmaterial, das, wiewohl germanisch gefärbt, zugleich mit jenem verwandt ist, das Goethe in seinem West-östlichen Divan benutzt (im Buch des Parsen); der Appell an den „Höchsten“, das gespendete Opfer anzunehmen; die ausdrücklich an Zeus gerichtete Bitte, „mir“ das „Schöne zu dem Guten“ zu gewähren, und zwar „als Jüngling“ wie „als Greis“: das alles ist klar und deutlich – und dies um so mehr, da Beethoven dieses Lied insgesamt viermal bearbeitet hat. Der Anrufung des Heidengottes entspricht der mehrfache Bezug auf ein durchaus antik verstandenes „Schicksal“ in Briefen und mündlichen Äußerungen Beethovens: „Zeige deine Gewalt Schicksal! Wir sind nicht Herrn über uns selbst; was beschlossen ist, muß sein, und so sey es dann!“ Und doch: Wenn auch um 1800 jedem Bezug auf die griechisch-römische Antike zumindest ein Moment des „Heidnischen“ anhaftet, so drängt sich gleichwohl die Frage auf, ob das Pantheistische bei Beethoven einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie bei Goethe? Die Frage wird man verneinen müssen. Dafür spricht schon jene bekannte Briefpassage, in der Beethoven mit Blick auf seine Taubheit an seinen Freund Franz Wegeler nach Bonn schreibt: „ich habe schon oft den schöpfer und mein daseyn verflucht, Plutarch hat mich zu der Resignation geführt, ich will wenn’s anders möglich ist, meinem schicksaal trozen, obschon es Augenblicke meines Lebens geben wird, wo ich das unglücklichste Geschöpf gottes seyn werde.“ Gleichwohl dürften damit die tief sitzenden aufklärerischen Zweifel des Komponisten kaum behoben worden sein. Wie anders ließe es sich erklären, dass Beethoven in der „Neunten“ auf jenen, ihn Jahrzehnte lang begleitenden Text zurückgreift, in dem die „Freude“ dem heidnischen „Elysium“ entstammt und in dem den beschwörenden Worten „muß er wohnen“ der Zweifel eingeschrieben ist? Zu dieser Vermischung von Christlichem und Heidnischem gesellt sich zudem Rein-Biblisch-Religiöses: „Doch gerecht ist Gottes Wille“, singt Florestan im Kerker, und zwar zu identifikatorischer Musik, und „Ja, ja, es ist eine Vorsehung!“ ergänzt Leonore; Beethoven nimmt damit eine Haltung ein, die man bei Goethe vergeblich suchen dürfte. Jedenfalls scheint dem Katholiken Beethoven jener konsequente Pantheismus fremd gewesen zu sein, der Goethe veranlasste, zielgerichtet nach dem Zwischenkieferknochen zu suchen, dem noch ausstehenden „Schlussstein“ zu einer entwicklungsgeschichtlichen Einordnung der Gattung Mensch in die Ordnung der Säugetiere. Goethe, nachdem er den gesuchten Knochen gefunden hatte, schrieb freudig an Herder: „Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht; wie schön es da wird. – “. Mit dieser Notiz Goethes wird zugleich eine Problematik angedeutet, die, so weit ich sehe, in den vergleichenden Betrachtungen zu Beethoven und Goethe bislang kaum erwähnt wurde. Ich meine den Umgang beider Künstler mit dem Satirischen. Dabei sei vorausgesetzt, dass „Satirisches“ nicht mit der Ebene des freundlich oder bärbeißig daherkommenden Humors identifiziert werden sollte, die in vielen Kompositionen Beethovens zu finden ist – mit diesen häufigen ruppigen Szforzati, diesen Synkopen und Taktverschiebungen, dem verspäteten Einsatz der Oboe in der Pastorale, oder der „polternden“ Ausgelassenheit der Wut über den verlorenen Groschen. Dies vorausgesetzt, kommt der neugierige Blick zu einem verblüffenden Ergebnis: Satirisches im eigentlichen Sinn – als scharfe, verlachende, distanzierte Gesellschaftssatire – finden wir bei Beethoven offensichtlich nur ein einziges Mal, in dem Flohlied aus der Szene „Auerbachs Keller“ (op. 75). Hingegen fehlt freundlich-harmlos-heitere Komik in der Art Beethovens bei dem reifen (nach-italienischen) Goethe weitgehend. Stattdessen blieb eine scharfe, satirisch formulierte Feudal- und Kirchen- (nicht aber: Religions-) Kritik für Goethe lebenslang ein wichtiges literarisches Thema; die Texte des „Großen Heiden Nummer I“ quellen davon geradezu über. Durchaus grotesk ist beispielsweise das Auftreten der „Pfaffenchristen“ in der wenig bekannten dialogischen Ballade „Die erste Walpurgisnacht“. In Briefen an Zelter (3. Dezember 1812) und Mendelssohn Bartholdy (9. September 1831) versuchte Goethe später, deren drastische Zielrichtung herunterzuspielen. „Der Einfall gefiel mir“, schrieb er mit Blick auf eine nicht genannte Quelle an Zelter; aber nicht der „Einfall“, sondern die Struktur des Textes ist ausschlaggebend: Die ihr Land und ihre Kultur verteidigenden („heidnischen“) Germanen, denen Goethe pantheistische, in seinem späteren Parsengedicht wieder aufgenommene Motive zugeordnet hat (Allvater, Rauch, Licht), sind durchgehend positiv, die sie attackierenden „Pfaffenchristen“ ebenso durchgehend satirisch-grotesk dargestellt. Der in dem Wechselgesang der Germanen formulierten kämpferischen Losung „Diese dumpfen Pfaffenchristen, Laßt uns keck sie überlisten!“ haben jene nur Drohungen der Gewalt und schließlich eine alberne Flucht entgegenzusetzen. Wer Opfer scheut, sagt das Gedicht, verdient seine Knechtschaft zu Recht. Und unausgesprochen schwingt die Frage mit: Was wird historisch aus diesem staatlich etablierten Christentum, aus diesem vorgeblich Neuen, das auf Brutalität, Aberglauben, Nichtwissen gegründet ist, werden? Der junge Mendelssohn übrigens, der sich mit der Komposition der Ballade ab 1830 beschäftigte, mag die „heidnische“ Tendenz des Goetheschen Textes nur am Rande wahrgenommen haben. Aber der Komponist des Lobgesangs oder des Elias, der die Kantate 1841 bis 1843 umarbeitete, kann das Nicht-Christliche, „Heidnische“ der Vorlage wohl nicht übersehen haben, hat es aber letztlich unbeachtet gelassen. Warum? Das ist ein anderes Thema. Jedenfalls verlieh er ganz im Sinne des Textes dem Schlusschor „der Druiden und des Heidenvolks“ hymnische Züge: Mendelssohn. Mit einem hymnischen Lobgesang endet auch Beethovens Schlusschor zu Kotzebues Stück „König Stephan“, das im Umkreis der „Befreiungskriege“ entstand und sich auf die Christianisierung Ungarns bezieht. Aber Kotzebue und Beethoven nehmen in diesem Festspiel eine genaue Gegenposition zu Goethe ein: Der hymnische, geradezu ekstatische Preis gilt nicht den „Heiden“, sondern – um mit Goethe zu sprechen – deren „Überwindern“, jenen, die die Christianisierung vorantrieben und durchsetzten.
Die religionsphilosophische Position des Prometheus-Gedichts ist das Eine – die in ihm artikulierte produktiv-schöpferische Kraft das Andere. Jenes berühmte „Im Anfang war die Tat“ galt zugleich dem mythologischen antiken Helden. Auch dadurch unterschied sich Goethes Prometheusfigur von anderen poetischen Figuren der „Genieperiode“; wie auch die ihr verwandte Goethesche Faustfigur geht sie über jene hinaus: Denn Götz, Prometheus und Faust räsonieren nicht nur (wie etwa Ferdinand in „Kabale und Liebe“), sondern entwickeln die (utopische) Alternative der Entfaltung der menschlichen Schöpferkraft. Hier ist bereits in der Vor-Weimarer Zeit etwas angelegt, was dann, bestärkt durch das Italienerlebnis, zu einer zentralen Dominante der Goetheschen Weltkonzeption werden wird: Das der Prometheuskonzeption anhaftende Aggressive – das Subjektivistische, „Geniehafte“, Maßlose, Militante, Machtpolitische – wird zugunsten des Produktiven, Schöpferischen immer weiter reduziert werden. Schon Werther hatte ja die „Einschränkung“ beklagt, „in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind“ (22.5.71), und den Wunsch nach Entfaltung der Kräfte ausgesprochen, die in ihm ruhen, „die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach, das engt das ganze Herz so ein –“ (17.5.71). Den früh eingeschlagenen Weg, die Entfremdung der Arbeit kritisch zu reflektieren, verfolgte Goethe bis zu seinem Tod. Der Große Einzelne, das selbstherrlich handelnde Universalgenie, wird mit der Unterordnung Egmonts unter die „Sonnenpferde der Zeit“ oder mit der Akzeptanz der „ewigen, ehrnen/ Großen Gesetze“ (Das Göttliche) verabschiedet. Die Erfahrungen der Französischen Revolution verstärkten diese Tendenz ebenso wie die Zuwendung zur antiken Maß-Konzeption und die Suche nach „Gesetzen“ in der Gesellschaft und in der Kunst. Das, was an die Stelle der Heroisierung des einzig aus sich heraus handelnden Kraftgenies tritt, ist die Frage nach den Möglichkeiten schöpferischer Produktivität im Alltag, ist die Kooperation der produzierenden Individuen, ist die kleine, private oder auch die große weltumspannende praktische „Tat“ – die Umgestaltung eines Parks („Die Wahlverwandtschaften“); die Rettung von Menschen aus dem Hochwasser („Johanna Sebus“); die Ausbildung eines Menschen, der zunächst unbedingt Schauspieler werden wollte, zu einem Arzt („Wilhelm Meister“); die Entwässerung von Sümpfen („Faust“); „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung“ („Vermächtnis altpersischen Glaubens“). Oder anders gesagt: Es ist in hohem Maße der Reflex der anbrechenden Industrialisierung und der damit verbundenen evolutionären wie revolutionären Umgestaltung des gesamten Gefüges der Gesellschaft. „Und schreib getrost: Im Anfang war die Tat“. Die Prämisse Fausts war – wenn ich die Werke Beethovens richtig höre – auch die des Komponisten. Aber in seinem Umgang mit der Prometheus-Problematik wird auch eine der großen Divergenzen zwischen Goethe und Beethoven sichtbar: Denn die weltverändernde „Tat“ hatte bei Beethoven nur gelegentlich etwas mit der Dimension der Produktion zu tun. Zwar interessiert er sich für Flugversuche wie für die „schon gegenwärtige Dampf-Schifffahrt“ und fragt verallgemeinernd, „was für ferne Schwimmer wird’s da geben, die unß Luft u. Freyheit verschaffen?!-“ Aber weder eine an Therese Malfatti gerichtete Frage („Haben sie Göthes Wilhelm Meister gelesen“) noch – und darauf kommt alles an – seine Werke lassen erkennen, dass Beethoven der materiellen Produktion oder dem Prozess der Industrialisierung eine besondere Bedeutung beigemessen hätte. Beethovens „Botschaft“, die mit seiner Prometheus-Musik verbunden ist, lautet anders: Es ist die demonstrativ, die beispielhaft vorgetragene Überzeugung, dass es möglich sei, auch „in diesen wüsten Zeiten“ nicht nur auf dem Lyrisch-Verträumten oder dem Humorvollen zu bestehen, „Dissonanzen“ nicht aufzulösen, sondern auch und immer wieder eine entschieden kämpferische Haltung einzunehmen. Nichts davon klingt allerdings an, wenn das berühmte Doppelthema, das als konzentrierter Ausdruck von Beethovens Prometheus-Musik verstanden werden darf, um 1801/ 1802 erstmalig auftritt. Leicht kommt es daher, locker, ein wenig spielerisch oder auch zärtlich, und zwar sowohl im Ballett-Finale „Die Geschöpfe des Prometheus“ (op. 43) wie auch in den 12 Contretänze(n) für Orchester (WoO 14, siebter Tanz). Noch weist nichts darauf hin, welche unbeschreiblichen Energien Beethoven ihm abgewinnen wird. Anders dann die Behandlung des Doppelthemas in den anspruchsvollen Klaviervariationen Es-Dur op. 35 sowie im 4. Satz der Eroica. Der musikalisch eher harmlose Preis des Prometheus in dem Finale des Balletts genügte Beethoven also nicht: Offensichtlich ging es ihm in den Klaviervariationen wie in der „Eroica“ darum, dem Thema samt seinen Variationen nun völlig neuartige, weitreichende Dimensionen abzugewinnen: über das Spielerische, Tänzerische, Zärtliche, Freudige hinaus auch die Haltung des Heroisch-Pathetischen, Majestätisch-Kämpferischen. Beide Werke, insbesondere die im Verhältnis zu ihren Vorläuferinnen gigantisch erweiterte, die Normen sprengende „Eroica“, atmen nun den gleichen Geist wie die Prometheus-Dichtung Goethes: Kein Gott – Prometheus ist der Schöpfer seiner „Geschöpfe“. Während aber Goethe seit der Mitte der siebziger Jahre von dem rebellischen Potenzial des eigenen Gedichts abrückte, knüpfte Beethoven gerade daran an und radikalisierte es, indem er die menschenbildende Kraft des Prometheus erneut bestätigte und pries: Nicht nur der vierte, „prometheische“ Satz der Sinfonie, sondern auch deren erster und zweiter Satz werden von sich allmählich aufbauenden großen Klangballungen bestimmt, von den mehrfach auftretenden drastischen Dissonanzen sowie von dem Anknüpfen an den Typus der Marschmusik aus der Zeit der Französischen Revolution und dessen Integration in den ersten und vierten Satz der Sinfonie. Zudem intoniert der im zweiten Satz erklingende Trauermarsch das heroische Pathos eines großen Verlustes. Die Interpretationsspielräume sind gewiss offen. „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“ schreibt Beethoven über den zweiten Satz seiner 1800/1801 entstandenen Grande Sonate As-Dur (op. 26) und deutet damit einen Dimension an, die wir nicht übersehen sollten. Drei Jahrzehnte später scheint genau diese Problematik in Heinrich Heines Prosagedicht „Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme“ anzuklingen: „Rund um mich her liegen die Leichen meiner Freunde, aber wir haben gesiegt. Wir haben gesiegt, aber rund umher liegen die Leichen meiner Freunde.“ Ganz unabhängig von mündlichen und schriftlichen Äußerungen Beethovens gestattet die heroisch-pathetische Konzeption der ganzen Sinfonie die Feststellung: Nicht die Zurückweisung oder gar die Aufgabe des „Revolutionären“ zugunsten des „Evolutionären“ und „Pragmatischen“ ist in der Sinfonia „Eroica“ zu hören, sondern die Beibehaltung des Prometheischen und dessen Verknüpfung mit dem Konkret-Revolutionären und Visionären. Und zwar geschieht das wegen und trotz der „neuangehenden christlichen Zeiten“, „da sich alles wieder in´s alte Gleiß zu schieben sucht, buonaparte mit dem Pabste das Concordat geschlossen“, da die „Zeit des Revolucionfieber´s“ vorüber ist! Anders gesagt: Was sich hier vollzieht, ist eine spezifische Verknüpfung von antiken Mythen, aufklärerischen Hoffnungen und nachrevolutionärem Tatbewusstsein, von Französischer Revolution und Menschheitsgeschichte; es ist die klingende Realisierung dessen, was Romain Rolland ein „republikanisches Glaubensbekenntnis“ genannt hat.
Zu der Frage nach dem Umgang mit dem Prometheischen nach 1800 gehört auch die Frage nach dem Umgang mit der weltgeschichtlichen Persönlichkeit Napoleon. Dabei geht es mit Blick auf Beethoven sicherlich zunächst um die Es-Dur-Sinfonie: Hatte der Komponist während der Komposition (tatsächlich) zugleich an Napoleon gedacht? Noch am 26. August 1804, nur drei Monate vor der Kaiserkrönung (2. Dezember 1804), schreibt Beethoven an Breitkopf & Härtel: „die Simphonie ist eigentlich betitelt Ponaparte“. Aber hatte er von Anfang an beabsichtigt, diese Sinfonie und Napoleon explizit in Verbindung zu bringen? Verknüpfte er intentional seinen Republikanismus mit der welthistorischen Napoleon-Figur? Die nüchterne Antwort kann wohl nur lauten: Wir wissen es nicht. Belege fehlen. Klar ist jedoch: Wir können Beethovens Republikanismus ‘hören‘; was wir nicht hören können, ist ein in die Sinfonie integriertes Moment der Abgrenzung von Napoleon. Erst nach der Kaiserkrönung entwickelte sich jener schmerzhafte Zwiespalt, den Beethoven bewusst durchlebte und bewundernswert bewältigte: Bewahrung von Revolutionsbegeisterung und Republikanismus einerseits – Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik andererseits. Die Titelblatt-Legende mag als erhellendes Kuriosum gelten; unabhängig davon aber äußert sich in Beethovens Werken nach 1804 seine Haltung gegenüber Napoleon in Anderem: Der auch nach 1804 hörbare heroisch-euphorische Lobgesang, gerichtet auf eine universell verstandene, revolutionär-aktiv zu erreichende Befreiung, wird nun mit der Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik verbunden. Es scheint mir, dass beides in eins zusammenfällt. So ist klar, dass die Konzeption der Oper „Leonore/ Fidelio“ trotz der lächerlichen Geschichte von dem rechtzeitig eintreffenden Minister ohne den Atem der Großen Revolution schlechthin undenkbar ist. Die Freiheitssehnsucht Florestans und der übrigen Gefangenen wie auch die Tat Leonores und das an ihr festgemachte „Hohelied der Gattenliebe“ funktionieren nur in diesem Kontext. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass, was die Dynamik der Handlung angeht, buchstäblich alles – von den vier Ouvertüren bis zum Finale – in der Befreiung von einem Tyrannen kulminiert: Das ist das, was ich unter dem „Zusammenfall“ von Revolutionsbegeisterung und Abgrenzung von Napoleon verstehe. Ganz anders gelagert und gleichwohl ähnlich ist die Egmont-Musik (1810): Hier geht es, wenn auch keineswegs ausschließlich, sehr direkt um das Problem der nationalen Befreiung und Selbstbestimmung (wieder spielt übrigens eine Frau eine wichtige Rolle). Intonation und Haltung der „Siegessymphonie“ aber korrespondieren eng mit dem heroisch-kämpferischen Schlusssatz der Fünften Sinfonie. So verwandelt Beethovens Egmont-Musik – insonderheit natürlich die Ouvertüre, das erste Lied Klärchens und die abschließende Siegessymphonie – das frühklassische tragische Schauspiel um Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstbestimmung tendenziell in ein antinapoleonisches Stück, in dem das nicht aufgegebene Freiheitsethos Beethovens und sein Glaube an einen möglichen Sieg über die (nicht nur napoleonische) Tyrannei utopisch zusammenklingen. In Bezug auf die „Befreiungskriege“ und die mit ihnen verbundene nationale Problematik jener Jahre empfand sich Beethoven offensichtlich eine Zeit lang als eingreifender Künstler – Goethe hingegen nicht. Gerade diesem Feld gegenüber verschrieb er sich die Haltung des zurückhaltenden, skeptischen, distanziert blickenden, nüchtern analysierenden, philosophischen Beobachters. Weder die napoleonische Eroberungspolitik noch die Kaiserkrönung von 1804 dürften bei ihm tiefgehende Hoffnungen oder Enttäuschungen verursacht haben. Wie immer man seine Huldigungsgedichte auf Napoleon und dessen Gattin beurteilen mag – auch sie gehören zur Haltung Goethes, und sie verleugnen die Faszination nicht, die von dem Kaiser der Franzosen auf ihn ausging: „Was Tausende verwirrten, löst der Eine“, heißt es in „Im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad“. Ja, Goethe verwendet motivisches Material (Meer, Erde, Ufer), das er dann zwei Jahrzehnte später in den Zweiten Teil des Faust einarbeiten würde: „Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen, Er übersieht’s in hellstem Geisteslicht, Das Kleinliche ist alles weggeronnen, Nur Meer und Erde haben hier Gewicht; Ist jenem erst das Ufer abgewonnen, Daß sich daran die stolze Woge bricht, So tritt durch weisen Schluß, durch Machtgefechte Das feste Land in alle seine Rechte“. Vermutlich setzte er nach und nach auf eine sich mit Notwendigkeit vollziehende Niederlage Napoleons. Und sicherlich erkannte er, nach wie vor in „Hofluft“ agierend, im Unterschied zu den begeisterten, naiven, maßlosen Sängern des antinapoleonischen Kampfes, dass die „Befreiungskriege“ wesentlich ein Gemenge unterschiedlicher, ja divergierender Interessen darstellten; dass die machtpolitischen Interessen der Herrschenden das Eine waren, die reine „vaterländische“ Begeisterung der kleinen Leute aber das ganz Andere. Zudem musste der geschürte Nationalismus und Chauvinismus dem Weltmann Goethe unangenehm sein, dem weitblickenden Intellektuellen, der bereits über das nachdachte, was er später „Weltliteratur“ nennen würde. „Übermacht, ihr könnt es spüren, Ist nicht aus der Welt zu bannen; Mir gefällt zu konservieren Mit Gescheiten, mit Tyrannen“. An wen Goethe auch denken mochte, als er diese Verse schrieb – sein dreimaliger Gedankenaustausch mit dem wirklichen Mächtigen schwingt hier sicherlich mit. Nicht nur über den Werther und die tragische Kunst hätte der Kaiser der Franzosen mit Goethe gesprochen, sondern auch über Weltpolitik. „Was will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal“ – gleichgültig, ob Napoleon das späterhin geflügelte Wort wirklich so formuliert hat oder ob es ihm Goethe bei der Niederschrift seiner Erinnerungen an das Gespräch von 1806 in den Mund gelegt hat: „Politik ist das Schicksal“ – das ist eine präzise Zusammenfassung jenes (politischen) Chaos, über das Goethe immer wieder nachgedacht hat. „Wie lange wirst du noch Kaiser sein, wann wirst auch du untergehen?“, mochte Goethe sich gefragt haben, als er Napoleon in Erfurt und Weimar aus nächster Nähe beobachten konnte – fünf Jahre, bevor dessen „Politik“ dann tatsächlich sein „Schicksal“ wurde, seine wirkliche Niederlage, seine wirkliche Vertreibung. Goethe reflektiert diesen weltgeschichtlichen Vorgang rückblickend im „West-östlichen Divan“ mit der gnadenlosen Verurteilung des „Tyrannen“ Timur durch den Winter: „Hör’ es Gott, was ich dir biete! Ja bei Gott! von Todeskälte Nicht, o Greis, verteid’gen soll dich Breite Kohlenglut vom Herde, Keine Flamme des Dezembers.“ Die mythologische, verfremdende Darstellung verdeutlicht, dass es Goethe um weit mehr ging als darum, in die Welle der Verurteilung Napoleons einzustimmen: Vielmehr ist „Der Winter“ und „Timur“ durchaus ein weiterer seiner nicht ablassenden Versuche, sich an den großen Einzelnen der Weltgeschichte abzuarbeiten – vorgenommen etwa in „Götz von Berlichingen“, in weiten Partien des Zweiten Teils der Faust-Tragödie, in dem Umgang mit dem Prometheus-Mythos, in „Egmont“. Immer ging es – auch – darum, das ‘Wesen’ des Einzelnen zu erfassen, die seine Persönlichkeit bedingenden Konstellationen, das Widerspruchsgefüge, innerhalb dessen er sich bewegt, seine Handlungsmöglichkeiten, seine Stellung in der Weltgeschichte. Noch 1829 habe er zu Eckermann gesagt, die Dämonen stellten, „um die Menschheit zu necken“, gewaltige Figuren hin: Raffael, Mozart, Shakespeare, Napoleon (6. Dezember). Den Zyklus „Urworte. Orphisch“ können wir wahrscheinlich als ein zentrales Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung mit dieser Problematik betrachten – den gesamten Zyklus, meine ich, nicht aber die isoliert herausgegriffene Kategorie des „Dämonischen“.
Gestatten wir uns nun einen Blick auf ein Feld, das mit Stichworten wie Partnerbeziehung, Liebe, Erotik nur höchst notdürftig angedeutet werden kann. Ich möchte allerdings lediglich einen einzelnen Aspekt herausgreifen: den Umgang beider Künstler mit dem Erotisch-Sinnlichen – einen Umgang, der widersprüchlicher kaum gedacht werden kann. Was Goethe betrifft, so wissen wir heute, dass er vielerlei und sehr verschiedenartige Beziehungen zu sehr verschiedenen Frauen hatte – Beziehungen, die zumindest annähernd mit seinen jeweiligen poetischen Texten korrespondierten. Auch wenn es keine Belege gäbe – die verschiedenen Ausprägungen des Goetheschen „Amour“-Sprechens sind unüberhörbar: die frühen Leipziger anakreontischen Gedichte und Theaterstücke, die hochgestimmte Sprache der Straßburger Lyrik und der „Leiden des jungen Werthers“, die Milde und Verinnerlichung der Sprache im ersten Weimarer Jahrzehnt, die in der nachitalienischen Zeit gewonnene souveräne Verknüpfung dieser Haltung mit freizügig-erotischem Sprechen einerseits, mit Weltbezügen andererseits; das leise ironische Sprechen in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“. Die Vielfalt und Intensität des Goetheschen Amour-Diskurses, wird man sagen dürfen, kann uns eine Ahnung von der Vielfalt und Intensität der wirklichen, „konkreten“ Partnerbeziehungen des Dichters vermitteln. Dabei wird das Erotisch-Sexuelle immer als wesentliches, geradezu zentrales Element des Menschlichen begriffen; niemals wird es, soweit ich sehe, im Zusammenhang mit der Werkidee eines beliebigen Textes irgendwie denunziert. Das beginnt in Goethes früher Lyrik (etwa mit der Verletzung des „Knaben“ im Heidenröslein) und ist in den folgenden Jahrzehnten allenthalben zu finden. An die „Römischen Elegien“ wäre hier zu denken, an die auf erotische Aktivität zielende Verwandlung Fausts („Mit diesem Trank im Leibe“), aber auch an das die Normen überschreitende „unmoralische“ Verhalten Gretchens Faust gegenüber. Hier noch ein Hinweis auf zwei weniger bekannte „sittenwidrige“ Szenen aus Goethes Romanen: zunächst auf den geheimnisvollen nächtlichen Besuch bei Wilhelm – auf einen Vorgang, der in der Wirkungsgeschichte der „Lehrjahre“ wohl nicht zufällig eine eher untergeordnete Rolle spielt und der mit Philines erstaunlichem Satz „und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?’“ korrespondiert. Dann aber auf eine Szene aus dem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, in der der souveräne Erzähler ins Innere der Romanfiguren blickt – auf eine Szene übrigens, die vielleicht nicht genetisch, auf jeden Fall aber konzeptionell mit Mozarts Skandaloper „Così fan tutte“ verknüpft ist: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. „Ich brauche einen Text, der mich anregt; es muß etwas Sittliches, Erhebendes sein. Texte, wie Mozart komponieren konnte, wäre ich nie imstande gewesen, in Musik zu setzen. Ich könnte mich für liederliche Texte niemals in Stimmung versetzen.“ Beethoven, 1825. Damit hat er, unbeabsichtigt sicherlich, zugleich etwas Wesentliches über sein Verhältnis zu Goethe preisgegeben. Denn wenn Erotik und Sexualität aus Goethes Werken nicht wegzudenken sind, wenn wechselnde Partnerbeziehungen bis zum Partnertausch in seinen Texten immer wieder wie selbstverständlich auftreten, wenn Partner-Stabilität und „Treue“ im Selbstverständnis des Weimaraners keine große Rolle gespielt zu haben scheinen – dann befand er sich damit nicht nur in scharfem Gegensatz etwa zu Hölderlin oder Schiller, sondern auch zu Beethoven. „Sinnlicher Genuß ohne Vereinigung der Seelen ist und bleibt viehisch, nach selben hat man keine Spur einer edlen Empfindung, vielmehr Reue“, notierte der Komponist. Die drastische Ausdrucksweise ist das eine – die textgebundenen Kompositionen das andere; und auch sie sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache: An Intensität steht die Beethovensche „Amour“-Musik den Texten Goethes gewiss in nichts nach, hingegen an Vielfalt. Weder „Liederliches“ vermag ich in Beethovens Liedern zu finden noch solche aufs Menschlich-Existenzielle zielenden Goethisch-Mozartische Haltungen wie erotische Leidenschaftlichkeit und Selbstbestimmung. Aber, wer weiß: Vielleicht werden speziellere, subtilere Analysen Modifikationen erbringen? Abgesehen von einigen heiteren Liebesliedern finden wir jedenfalls vor allem schmerzhafte Gesänge, in denen Liebessehnsucht ausgedrückt wird – den Zyklus „An die ferne Geliebte“, oder vier 1808 gleichzeitig vorgelegte Vertonungen des Duetts Mignon-Harfner „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Es gibt allerdings jenes gewaltige Werk, in dem Beethovens Sehnsüchte, gerichtet auf eine Partnerin, ganz andere Dimensionen erlangen als in den genannten Liedern und in dem Gemeinsamkeiten und Gegensätze zu Goethe geradezu grell hervortreten: seine einzige Oper „Fidelio”. Gewiss: Zwar ruft auch Goethes Klärchen die Männer auf, Egmont zu befreien; zwar verkündet sie, in eine Allegorie transformiert, in dem vorrevolutionären Stück jene symbolische Freiheit, für die später auch Leonore kämpft; zwar erhöhen beide Frauen den Mann: Dass aber fast zwei Jahrzehnte nach der Großen Revolution mit all ihren „dämonischen“ Folgen eine bewaffnete Frau auftritt; dass sie beschließt, einem ihr unbekannten Verfolgten zu helfen („Wer du auch seist, ich will dich retten“); dass sie den Tyrannen schließlich mit der Pistole bedroht und ihm in extremer Stimmlage und im Fortissimo zuruft „Tödt` erst sein Weib“ – dergleichen ist, scheint mir, bei Goethe unvorstellbar. Aber Leonore ist eine Ausnahme. Insgesamt gesehen dominiert in Beethovens Kompositionen wie in seinem Leben eine schwärmerische Haltung, eine Werther-Haltung, wenn man so will. Sie äußert sich auch in jenem in Beethovens Nachlass gefundenen erschütternden Brief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ bekannt geworden ist. Das weibliche Geschlecht war für Beethoven vermutlich immer aufregend und anziehend – aber dennoch war es ihm nicht oder kaum möglich, Partnerschaftsbeziehungen im eigentlichen Sinn herzustellen. War das seiner zunehmenden Taubheit geschuldet? Man möchte es annehmen, aber es ist nicht ausgemacht. Jedenfalls befand sich Beethoven den Frauen gegenüber im Grunde in einer furchtbaren Isolation. Verlobungen und Heiratspläne schlugen fehl; ein Leben in einer Familie blieb Wunschvorstellung. „O geliebte J., nicht der Hang zum andern Geschlechte zieht mich zu ihnen, nein nur sie ihr ganzes Ich mit allen ihren Eigenheiten – haben meine Achtung – alle meine gefühle – mein ganzes Empfindungs vermögen an sie gefesselt –“, heißt es 1805. Die erst 1957 veröffentlichten Briefe Beethovens an Josephine Deym, geb. Brunsvik, zeigen den höchst sensiblen, vergeblich hoffenden, leidenden Mann. Noch ein Jahrzehnt später, fast fünfzigjährig, notiert er: „Nur liebe – ja nur Sie Vermag dir ein glücklicheres leben zu geben – o Gott – laß mich sie – jene endlich finden – die mich in Tugend bestärkt – die mir erlaubt mein ist.“ „erlaubt mein“! Beethoven fand sie nicht.
Eine Bemerkung zum Schluss. Die „holde Kunst“, meinte das lyrische Ich in Schuberts Lied „An die Musik“, habe „mich in eine beßre Welt entrückt“, habe „den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen“: Der junge Franz Schubert und sein Freund Franz von Schober bekannten, dass sie in der Kunst Trost suchten. Einer solchen Positionsbestimmung der Kunst hätten sicherlich weder Beethoven noch Goethe ohne Weiteres zugestimmt – und auch der reife Schubert nicht. Und doch ist es überaus interessant, dem Auftreten und den Stellenwert des Bekenntnishaften im Werk beider Künstler zumindest punktuell nachzugehen – so ungreifbar dieses Gebiet auch immer ist und so wenig jeder, der sich wagt, hierzu ein Wort zu sagen, darauf rechnen kann, Verständnis oder gar Zustimmung zu erlangen. Ja, sich über das Bekenntnishafte in der Kunst zu verständigen, das scheint in unseren ‚postmodernen’, ja: ‚nach’-postmodernen Zeiten ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zu sein. Zunächst mag man allerdings prononciert fragen: Ist denn die Frage nach dem „Bekenntnismäßigen“ in der Kunst eine legitime, weil kunstgemäße Frage? Darauf mag es im Hinblick auf alte und neue, auf außereuropäische und europäische Künste und Kunstformen sehr unterschiedliche Antworten geben. Was mich angeht, so möchte ich jedenfalls die Auffassung voraussetzen, dass jeder künstlerischen Äußerung (jedem Wort, jeder Farbe, jedem Klang, jeder Bewegung in Tanz, Film oder in anderen neuen Medien) bekenntnishafte Momente eingeschrieben sind. Sie resultieren mit Notwendigkeit aus dem subjektiven Charakter der Künste: Indem er Kunst treibt, bekennt sich gerade dieser Mensch zu diesem oder jenem. Nur erscheint das Bekenntnishafte nicht immer rein, sondern auch spielerisch verhüllt oder verfremdet. Für Beethoven und Goethe aber scheint zu gelten, dass bei ihnen – in der Regel – das Explizit-Bekenntnishafte gerade den wesentlichen Inhalt darstellt. Blicken wir unter diesem Aspekt noch einmal auf die Probleme, zu denen ich mich soeben geäußert habe – Teplitz, Heidnisch-Pantheistisches, Satirisches, Tat und Kraft, Napoleon, Partnerbeziehung, Liebe, Erotik – so treten (überraschend) viele Unterschiede in das Gesichtsfeld. Demgegenüber will ich mir nun gestatten, hier abschließend auf eine gleichfalls erstaunliche Reihe von Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen. Das ist hier nicht auszuführen, sondern lediglich stichpunktartig zu benennen – und ich gebe hier ganz bewusst keine Beispiele, da diese Positionen eben durchgehend auftreten. Gemeinsam war ihnen, dass sich ihre Kunst, wie Goethe sagte, am „Leben selbst“ orientierte, also dem Menschlichen, Irdischen verpflichtet sind – oder, anders gesagt: dass ein durchaus human verstandener „Eros“ die zentrale Grundlage ihrer Texte, ihrer Musik bildet. Gemeinsam war Goethe wie Beethoven der die nationalen Grenzen überschreitende internationale Blick wie auch das sehr bewusste Anknüpfen an die vorliegenden Spitzenleistungen der jeweiligen Kunst; insbesondere, aber bei weitem nicht nur an die Antike und an Shakespeare. Hierzu gehört vor allem die an Shakespeare orientierte Mischung des Ernsthaften, ja Tragischen mit dem Komischen; für Beethoven war daneben das ausdrückliche Anknüpfen an Bach und Händel, an Haydn und Mozart wichtig: „daß sie Sebastian Bach’s Werke herausgeben wollen“, schrieb er an den Verleger Franz Hofmeister, „ ist etwas, was meinem Herzen, das gantz für die Hohe große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, recht wohl thut […]” Gemeinsam war beiden die beiderseitige Hochschätzung der Volkskunst – fassbar etwa in Beethovens Tänzen wie auch in der liedhaften Dimension der Lyrik Goethes. Gemeinsam war beiden das wenn auch verschieden ausgeprägte, sich auf unterschiedliche Bereiche beziehende moderne Weltverständnis, zu dessen Grundbeziehungen Widersprüche, Polarität und Entwicklung gehören: Einheit des Zarten, Elegischen, Trauernden, Elysischen und Kämpferischen. Gemeinsam war beiden eine demonstrativ in Anspruch genommene wie verteidigte ausgeprägte künstlerische Individualität. Sich spontan entwickelnd oder ausgeklügelt fixiert, dürfte sie allerdings kaum geeignet sein, Zuschreibungen wie „klassisch“, „klassizistisch“ oder „romantisch“ zu bedienen bzw. in ihnen aufzugehen. Wir werden demgegenüber der künstlerischen Subjektivität Goethes und Beethovens wohl am ehesten gerecht, wenn wir verstehen, dass jeder von ihnen der großen Bewegung des europäischen Romantizismus eine jeweils spezifische, originelle, unverwechselbare, höchst wichtige Note hinzufügte. Gemeinsam war ihnen schließlich ihre maßgebliche Beteiligung an der Veränderung und Weiterentwicklung ästhetischer Grundpositionen, an der drastischen Überwindung der herrschenden ästhetischen Normen wie an der komplexen Veränderung der vorgefundenen Gattungen und Genres wie des poetischen und musikalischen Materials. Ja, es ist sicherlich nur wenig übertrieben zu behaupten, dass Ausmaß und Intensität der beethovenschen wie goetheschen Neuerungen ebenso wenig überblickbar sind wie ihre enormen nationalen und übernationalen zeitgenössischen und nachhaltig-langfristigen Wirkungen. „D e r kann Alles“, meinte Franz Schubert – nun, wie immer man diesen Satz betrachtet, euphorisch ist er auf jeden Fall. Aber seien wir keine Beckmesser! Akzeptieren wir, dass sich Kultur wie auch die sie immer wieder bedrängende Barbarei nicht nur aus einer Quelle speisen. „Zu dem Guten, von dem wir überzeugt sind, die Menschen zu bewegen, dürfen wir uns nicht unserer Argumente bedienen, sondern wir müssen bedenken, was ohngefähr die ihrigen wären“, hatte Goethe in jenen Jahren an Zelter geschrieben, da Beethoven an der „Eroica“ arbeitete. Eine derartige Strategie mochte Beethoven ferngelegen haben – im Einsatz für das Metaphorisch-Gute traf er sich jedoch nicht nur mit Herders Preis des „Wahren, Guten und Würklich Schönen!“, sondern eben auch mit Goethe: „Edel sey der Mensch hülfreich und gut!“ – die Eingangsverse des hymnischen Goethegedichts „Das Göttliche“ hat Beethoven gleich mehrmals in Musik gesetzt: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmigen Kanon. – Goethe und Beethoven: Der Dichter bezeichnete den Musiker als „ungebändigt“, der aber vermutete bei jenem ein Zuviel an „Hofluft“. Aber war der Eine tatsächlich „ungebändigt“ – der Andere aber womöglich ‚gebändigt’? Gefiel die „Hofluft“ dem Einen „zu“ sehr, dem Anderen aber nur ‚sehr’? Nun, derartige Charakterisierungsversuche werden nicht ganz abzuweisen sein: Wesentliches über Persönlichkeit und Werk erfassen sie mit Sicherheit nicht. Vielleicht aber dürfen wir sagen: „gebändigt“ wie „ungebändigt“ waren sie beide: „gebändigt“ – durch Krankheit und Alter, durch politische und menschliche Enttäuschungen, durch existenziell menschliche, wirtschaftliche oder politische Zwänge, durch „Hofluft“. – „Ungebändigt“ aber waren sie – zumeist – in ihrer Kunst.