Vortrag von Prof. Detlef Jena, Rockau, am 7. Februar 2023
Goethes Weimar begegnet dem Fürst Joseph de Ligne, dem fröhlichsten Mann des 18. Jahrhunderts“
Vortrag von Prof. Dr. Detlef Jena, Rockau, im Februar 2023
Mit dem Namen Fürst Charles Joseph de Ligne verbindet sich vor allem sein Ausspruch „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht voran“. 1735 in Brüssel geboren begann er seine, durch Geburt begünstigte Karriere am Wiener Hof der Habsburger, als ihn Maria Theresia 1751 zum Kammerherrn bestellte. Ligne wurde, war und blieb ein Mann des Krieges in den Diensten des Kaisers von Wien, dessen geniale militärische Fähigkeiten von hoher diplomatischer Kunst, relativ ausgefeiltem literarischen Stil und Fleiß sowie von einer geradezu brillanten Rolle als galanter Unterhalter in der höchsten Adelsgesellschaft, vor allem bei den Damen, begleitet wurden. Ein 34 gedruckte Bände zählender schriftlicher Nachlass an Biografien, Essays, Berichten, Reportagen, Korrespondenzen, dramatischen Stücken, Gedichten und Aphorismen legt Zeugnis von der Lebenswelt eines Mannes ab, die zwangsläufig auch Goethe berührte, zu der Goethe jedoch eine von eigenen Werten bestimmte innere Distanz wahrte.
Goethe nahm überhaupt erst Notiz von der Person de Ligne, nachdem dieser sich um 1794 aus dem aktiven Dienst als Feldmarschall im russischen und österreichischen Militär verabschiedet hatte und als Privatmann auf dem Wiener Kahlenberg lebte – sofern er nicht durch Europa reiste. Die beiden Männer begegneten sich sich zum ersten Mal 1807 in Karlsbad. Ihre direkten Berührungen währten nur bis zum Jahre 1812 und schlossen Besuche de Lignes in Weimar ein.
Beinahe hätten sie sich schon 1794 im Dessau-Wörlitzer Gartenreich getroffen. Zu den dienstlichen Pflichten Goethes gehörte nämlich die Begleitung des Herzogs Carl August auch bei dessen Reisen nach Dessau. Seit Jahrhunderten wurden dynastische Beziehungen gepflegt. Der 1740 geborene Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ließ in Wörlitz einen Landschaftspark nach englischem Vorbild gestalten.
Ligne nahm an mehreren Schlachten des Siebenjährigen Krieges teil. In den achtziger Jahren stand Russland im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Er begleitete Kaiser Joseph II. nach Russland und nahm 1787 an der legendären Reise Katharinas II. in die südrussischen Provinzen und auf die 1783 von Russland annektierte Krim teil, die den Auftakt zum nächsten Krieg gegen das Osmanische Reich bildete. Ligne fand das Vertrauen der russischen Kaiserin und ihres Günstlings, Fürst Potemkin. Die Mitverantwortung für das geflügelte Schmähwort von den „Potemkinschen Dörfern“ nahm man ihm offenbar nicht übel, zumal er mit seinen militärischen Fähigkeiten in den Krieg zur Eroberung Konstantinopels eingriff. Mit seiner Teilnahme am Türkenkrieg endete zugleich die aktive militätische Laufbahn. Sein Sohn fiel 1792 in der Champagne; Ligne hat diesen Verlust nie verkraften können. Er zog sich ins Privatleben zurck, widmete sich z. B. der Gartenkunst.
Die Kontakte zwischen Goethe und de Ligne nahmen ihren Anfang im böhmischen Teplitz, weil sich dort 1797 Weimars Herzog Carl August mit dem Fürsten de Ligne anfreundete – inmitten der europäischen Hocharistokratie. Ligne genoss dort das Leben in vollen Zügen, schwelgte in Erinnerungen an das Ancien regime mit seinem Freund Casanova. Ligne und Carl August empfanden in Teplitz 1797 sofort Sympathie füreinander. Mit sicherem Instinkt kombinierte Ligne, dass der Herzog und er gemeinsam mit Goethe und Wieland den Kern eines national-kulturellen Bundes bilden könne. Goethe zeigte sich indes reserviert. Doch Ligne lag viel daran, in den Kreis der Weimarer Dichter aufgenommen zu werden. Der Herzog sollte ihm dabei helfen. Er bat Carl August für seine Schrift über militärische, literarische und sentimentale Gegenstände neben Frankreich auch einen Verleger in Weimar zu finden. Der Herzog wollte sich die Sache vom Halse schaffen und beauftragte Goethe, beim Verleger Frommann in Jena nachzufragen. Doch alles geriet auf die lange Bank.Durch die letztendliche Absage ließ sich Ligne allerdings nicht entmutigen. Erst eine schöne Frau, Marianne von Eybenberg, brachte Goethe und Ligne näher. Sie verlangte, Goethe solle doch recht freundlich auf ein langes Gedicht de Lignes reagieren. Dies geschah.
Ligne hat bereits im Oktober 1808 in Teplitz einen Bericht über die berühmten historischen Begegnungen Kaiser Napoleons mit Goethe und Wieland auf dem Fürstentag in Erfurt und Weimar geschrieben. Er selbst hat an den Gesprächen nicht teilgenommen. Wahrscheinlich hat er hierzu Informationen aus Wien erhalten und eingearbeitet. Ligne hielt Goethe und Wieland für die größten literarischen und geistigen Größen ihrer Zeit – und Napoleon für die herausragende politische Persönlichkeit des Kontinents. Goethe, zu einem aristokratischen Frühstück eingeladen, fühlte sich hoch geehrt; Napoleon sprach mit ihm fast eine Stunden lang über Geschichte und Literatur, lobte insbesondere den „Werther“. Währenddessen provozierte Wieland keineswegs ein Gespräch mit Napoleon, er wurde zu ihm gerufen. Ligne freute sich, dass Wieland Napoleon ohne Unterwürfigkeit und sehr klug die Stirn geboten hatte.
Die langen freundschaftlichen Beziehungen zu Carl August zahlten sich aus. Nach Angaben Lignes wurden 1809/10 sowohl seine biografische Arbeit über den berühmten Heerführer Prinz Eugen als auch seine militärischen Schriften in Weimar auf Anweisung des Herzogs gedruckt.
Zurück zu Teplitz. Die Familie Clary verstand es, in ihrem Teplitzer Besitz mit all den vielen Gästen einen illustren Reigen zu organisieren, in dessen Zentrum natürlich die österreichische Kaiserin Maria Ludovica stand. Goethe widmete ihr eines seiner „Kaisergedichte“. Aber auch Ligne wird Ehrung zuteil. Goethe schreibt: „… Noch so viel Platz ist übrig, um von Prince de Ligne ein Wort zu sagen. Dieser ist in seinem 78. Jahre noch so Hof- und Weltmann, noch so heiter und leichtsinnig als jemals. Er belebt durch seine Anmuth jede Gesellschaft, in der er sich befindet.“
Goethe nante Ligne plötzlich seinen Freund! Tatsächlich vollzogen sich nach Lignes lobenden Worten für Goethes „Wahlverwandtschaften“ im Jahre 1811 Ereignisse, die die beiden Herren einander näher brachten, ohne die grundsätzlich verschiedenen Lebensansichten zu berühren oder gar aufzuheben.Vom 12. bis 17. Oktober 1811 besuchte Ligne Weimar, er und Goethe trafen sich mehrmals. De Lignes Buch „Nouveau recueil de Lettres du Feld-Marechal Prince de Ligne en reponse a celles qui ont ete addressee“ (hier ohne accent aigues geschrieben) erschien bei Bertuch. De Ligne wollte sich damit den Weimarer Dichtern als ebenbürtig erweisen.
Nachdem Napoleon im Frühjahr 1814 gestürzt worden war, vereinbarten die Alliierten mit der französischen Regierung im ersten Pariser Frieden, dass ein Kongress in Wien die neue europäische Ordnung aushandeln solle. Dazu wurden alle am Krieg beteiligten Staaten eingeladen, also auch das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.
Ligne sah mit Bangen, dass die preußisch-russischen Konflikte um den Besitz Sachsens und Polens den Kongress an den Rand des Scheiterns führen würde. Es drohte ein Krieg zwischen den Verbündeten. Diese Furcht veranlasste Ligne zu einem seiner legendären Sätze, mit denen er in die Geschichte eingegangen ist. Er schrieb an den französischen Außenminister Talleyrand: „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts“. Ligne informierte Talleyrand, dass er den russischen Zaren Alexander zur Mäßigung seiner Ansprüche geraten hätte, ansonsten würde er den Untergang Sachsens herbeiführen.
Es entsprach Lignes Mentalität, seinem Lebenssinn und der klaren Erkenntnis über die Krise des Kongresses, wenn er notiert: „Der Wiener Kongress hat inzwischen alle erdenklichen Festlichkeiten ausgekostet. Welches Schauspiel könnte ich ihm bieten, um ihm aus der Langeweile herauszuhelfen? Das Begräbnis eines Feldmarschalls!“
Bislang wren die Gespräche in Hinterzimmern und vereinzelt geführt worden. Ein solches Begräbnis hätte alle Akteure einmal zusammengeführt, um endlich zu allgemeinen Ergebnissen zu kommen. Es wäre Ligne nie im Traum eingefallen, bei einem solchen Begräbnis an sich selbst zu denken. Doch es geschah. Am 13. Dezember 1814 starb der Fürst.
Wie geschmeidig, umfassend, fröhlich oder traurig die ungezählten Erinnerungen an den Fürsten von Ligne auch der Nachwelt hinterlassen wurden – das Fragment eines Requiems Goethes, gewidmet dem „frohsten Manne des Jahrhunderts“ blieb nach Inhalt und Gestalt einzigartig.