Vortrag von Prof. Uwe Hentschel, Berlin/Chemnitz
Prof. Hentschel leitete seinen Vortrag mit einem amüsanten Zitat aus einem Brief Wielands an Gleim ein. Wieland war von 1769 bis 1772 Professor für Philosophie; nach Erfurt wegen seines guten Namens berufen. In dem Brief vom 27. April 1771 heißt es: „… hier in Erfurt gehe ich vollends nach und nach zu Grunde. Niemals, niemals, mein Freund, haben die Grazien dieses freudeleere Chaos von alten Steinhauffen, wincklichten Gassen, verfallenen Kirchen, grossen Genußgärten und kleinen Leimhäusern, welches die Hauptstadt des edlen Thüringerlandes vorstellt, angeblickt; daß sie jemals in der ungeheuren Ebne [ … ] getanzt haben sollten, daran ist gar nicht zu dencken. Ich wüßte um ganz Erfurt keine Gegend, die sich zu einem Rundtanz schickte, es müßte denn ein Hexentanz seyn. Doch kein Wort mehr von diesem verhaßten Neste.“
Sodann ging der Referent auf die erotische Literatur des 18. Jahrhunderts ein, die von Wieland mitgeprägt wurde. Die Ursprünge des Widerspruchsgefüges zwischen öffentlicher Moral und individuellem sexuellem Begehren liegen dort, wo das bürgerliche Gemeinwesen beginnt, Machtstrukturen, Aufsichtsinstanzen zu etablieren, wo in der Aufklärung des 18. Jahrhundertes um diese Frage gerungen wurde. Damit wurde das Sexualleben Objekt der Betrachtung.
Auf der Herbstmesse 1771 in Leipzig erschienen ganz freisinnige, anonyme Gedichte im Geschmack des französischen Dichters Grecourt. Ihr Autor war Johann Georg Scheffner (1736 – 1820). Diese Gedichte sind noch der sexuell zurückhaltenden Anakreontik verpflichtet. Doch wo es sich um Sexualität handelt, geht Scheffner über die Anakreontik hinaus. Die fünf Elemente Ovids werden bedichtet: Man spricht sich an, küsst sich, lässt sich berühren, am Ende Beischlaf und Koitus. Scheffner geht alle fünf Elemente hinab bis „ins Tal der Lust“. Wieland urteilt hart: „Ekelhafte Obszönitäten“. „Das ist unmöglich. Dagegen müssen wir etwas tun.“
Nach einem Monat erhielt Wieland einen Brief vom Verfasser. Der Empfänger erfährt aber den wahren Namen des Schreibers nicht, wird dagegen mit einem „Golz“ konfrontiert. Es entwickelt sich ein sporadischer Briefwechsel. Scheffner zeigte sich enttäuscht von Wieland. Er spielt auf frühe erotische Texte Wielands an, beispielsweise auf dessen „Komische Erzählungen“. Weshalb ist Wieland daher so gereizt? Wieland ist Aufklärer, vertritt demzufolge das Ideal eines kontrollierten Sinnesgenusses. Er bestreitet frivole Lust. Scheffner muss dies anerkennen. Er kann auf hehre Motive keinen Anspruch erheben.
Scheffner schilderte auch eigene erotische Erlebnisse mit der Frau seines Vorgesetzten. „Poetisieren“ betrachtete er stets als „eine Art von geistigem Beischlaf“. Er propagierte eine hedonistische Lebensfreude, die dem Natürlichen folgt. Diesem Anspruch sah er beispielsweise in seinen „Gedichten nach dem Leben“ verpflichtet: „Liebe war nie eine Freveltat“.
Dennoch hagelte es Kritik. So genau, so realistisch das ganz Persönlich-Intime zu beschreiben, erregte Abscheu. Wieland, zum Beispiel, trat für eine verstandesmäßige Kontrolle über die Leidenschaften ein. Dagegen sei Scheffner zu weit gegangen, das sexuelle Begehren sei doch ein rein animalischer Trieb. Sexualität in der Ehe und zum Zwecke der Fortpflanzung wurde in der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert; und diese Haltung stellte das Bürgertum dem wollüstigen Treiben des Adels gegenüber. Doch auch das bürgerliche bleibt ein beschränktes Menschenbild. Vergleiche: „Triumph der Tugen“ aus Goethes Anette-Sammlung.
Auch Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 – 1792) hatte starke Hemmungen gegenüber dem anderen Geschlecht. Davon zeugt sein Gedicht „So finster der Tag“, in dem er den „verlorenen Augenblick“ beweint und verzweifelt-sehnsuchtsvoll dessen „Wiederkehr“ beschwört.
Die ungebändigte sinnliche Leidenschaft wurde als Gefahr angesehen, als Verstoß gegen das Religiöse und gegen die Pflichten gegenüber der Allgemeinheit. An diesem Verdrängungsmechanismus kann der Mensch krank werden (Freud). Man habe jungen Menschen krank gemacht, auch dies habe die Aufklärung mit sich gebracht, man habe uns der Natur entrückt.
Der Druck öffentlicher Instanzen soll dieses Begehren auf die Bahnen nützlicher gesellschaftlicher Bahnen lenken. Doch unbeeindruckt von Sanktionen wurden fleißig und heimlich Erotika gelesen.
Scheffner war durchaus bewusst, dass er mit seinen Werken der öffentlichen Meinung widersprach. Die Sexualität erschien als etwas Ekelhaftes: „Wir sollen nur das Gute und Schöne aufsuchen.“
Viele Auflagen und Ablehnung zeigen diesen Widerspruch an.
Daher unternahm Scheffner den Versuch, seine Gedichte zu rechtfertigen. Seine Werke seien Gedichte nach dem Leben, wie Goethes „Hermann und Dorothea“, wie entsprechende Szenen aus Schillers „Wallenstein“. Man muss es dem Autor verzeihen, wenn seine Gedichte manchen Lesern missfallen. Der subjektive Selbstausdruck ist Legitimation. Das Versteckspiel geht weiter. Scheffner lässt nicht drucken, sondern abschreiben und Kopien verteilen. In seiner Autobiographie bezeichnet er sich sogar als „moralischer Bürger“. Er spricht sich für das Bedecken „des Halses von hinten und vorn“ aus, warnt vor nachteiliger Neugier der Kinder und plädiert für erhöhte Schamhaftigkeit. So lebt der Bürger seine Sexualität auf zweifache Weise aus: Öffentlich lehnt er es ab, insgeheim ist er ihr verfallen. Dies führt zu einem neurotischen Zustand.