Vortrag von Dr. Jochen Golz, Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar
(Auszug)
Religiösen Handlungen ist Goethe mit großem Interesse begegnet. Die wichtigste Quelle dafür stellt seine Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ dar. Dort erfahren wir, dass Goethe, ein neugieriges, aufgewecktes Kind, das Ghetto in Frankfurt aufgesucht hat, dass er großes Interesse an der jiddischen Sprache zeigte und auch versucht hat, Hebräisch zu lernen. Altes und Neues Testament gehören zu Goethes frühesten Lektüren; bibelfest ist er stets geblieben, beide Testamente lieferten ihm einen schier unerschöpflichen Vorrat an poetischen Bildern, Motiven und Symbolen. Herder öffnete ihm dafür in Straßburg recht eigentlich den Blick. Für diesen waren die großen Texte der monotheistischen Weltreligionen, also auch der Koran, neben ihrem religiösen Gehalt vor allem poetische Dokumente. Von Herder inspiriert, übersetzte Goethe 1775 das Hohelied Salomos – ursprünglich eine weltliche Liebesdichtung, der erst spätere Exegeten einen religiösen Sinn unterlegten – in rhythmische Prosa.
Von antijüdischen Gesinnungen ist Goethe freizusprechen. Vor allem der Zug des Volkes Israel durch die Wüste zog sein historisches Interesse auf sich. 1797 begann er mit Studien zu diesem Thema, aus denen sich dann das Kapitel „Israel in der Wüste“ in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans“ entwickelte. Problematisch freilich blieb für Goethe das Gottesverständnis der Juden. Der Gott des Alten Testaments ist ein strafender, ein strenger Gott. Für Goethe aber, soviel sei schon vorausgeschickt, ist die Vorstellung von Gott und Göttlichem stets an Liebe und Liebesfähigkeit gebunden.
Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, verloren die Grundtexte der monotheistischen Religionen ihren Charakter als ein für alle Mal hinzunehmende göttliche Bekundungen. Der denkende Verstand wurde auch auf diese Dokumente angewendet, als Quellentexte wurden sie Gegenstand historisch-philologischer Untersuchungen. Für Herder waren Bibel und Koran über ihre religiöse Dimension hinaus große Erzählungen von den geschichtlichen Anfängen der Menschheit, von den Vätern, die, wie es in Goethes „Divan“-Gedicht „Hegire“ heißt, „Himmelslehr‘ in Erdesprachen“ verkündeten. Bereits der junge Goethe war von dieser Vorstellung angetan. Mohammed (oder in Goethes Diktion Mahomet) wurde für ihn Sinnbild des schöpferischen Genies, wie es in dem Hymnus „Mahomets Gesang“ seinen Ausdruck findet. Goethe las den Koran zunächst in einer englischen, später deutschen Ausgabe. Er suchte den Kontakt mit Fachgelehrten und ließ arabische Buchhandschriften für die Weimarer Bibliothek ankaufen. Als im Verfolg der Befreiungskriege Baschkiren unter russischer Flagge in Weimar einzogen, hatte Goethe auch Gelegenheit, einem islamischen Gottesdienst beizuwohnen. Der erste Impuls für seinen „Divan“ war entstanden, als der Verleger Cotta seinem Autor Goethe im Frühjahr 1814 eine zweibändige deutsche Ausgabe des spätmittelalterlichen persischen Dichters Hafis schenkte. Wie stets in seinem Leben musste Goethe selbst produktiv werden, um sich einem übermächtigen Einfluss gegenüber behaupten zu können. Die sinnenfrohe Bildsprache des Hafis, der Religion, Liebe und Wein feierte, hielt für Goethe ein reiches Angebot bereit. Er versuchte sich ebenfalls an der Übertragung einzelner Koranverse ins Deutsche. Verglichen mit der jüdischen Religion, war der Islam eine relativ junge religiöse Strömung. Goethe aber wollte auch hier zu „des Ursprungs Tiefe“ vordringen; 1783 übersetzte er Texte aus der vorislamischen Beduinendichtung, der „Moallakat“.
Seine historischen Interessen an der Kultur des Alten Orients verdichteten sich in der Zeit zwischen 1814 und 1819, als sein Gedichtbuch „West-östlicher Divan“ und dessen kulturhistorischer Prosakommentar entstanden. In jenen Jahren widmete sich Goethe orientalistischen Studien, unternahm auch Schreibversuche in Persisch und Arabisch. Was ihn an dieser Poesie faszinierte, war die Synthese von religiöser Grundhaltung, Liebesfähigkeit und sinnlicher Weltfreude. All dies zeichnet auch seine „Divan“-Gedichte aus. Mit dem Islam selbst treibt Goethe ein souveränes ironisches Spiel, das bis auf den heutigen Tag – insbesondere unter Muslimen – Missverständnisse hervorgerufen hat. Als er am 24. Februar 1816 in Cottas „Morgenblatt“ eine „Ankündigung“ seines neuen Gedichtbandes veröffentlichte, lehnte er darin „den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sei. Für den Leser der Zeitung musste das zumindest verwirrend wirken. Stärker noch hat sich jenes kleine „Divan“-Gedicht als Irritation erwiesen, in dem es heißt:
Närrisch, daß jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preis‘t!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
In Islam leben und sterben wir alle.
Was die letzte Zeile angeht, so hat Henrik Birus nachgewiesen, dass hier eine direkte Übernahme aus dem Römerbrief des Apostels Paulus vorliegt.
Was wir aus Goethes „Divan“ und dem ihn begleitenden Kommentar lernen können, ist das darin zur Anwendung kommende historische Verfahren. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit begreifen lernen; alle Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Goethes „Noten“ stellen nichts weniger dar als eine grandiose Kulturgeschichte des Alten und Mittleren Orients, in der der Islam durch seine ambivalente Funktion als Kultur und Ordnung stiftender Faktor einerseits wie als machtpolitisches Element andererseits eine besondere Bedeutung erlangt hatte. In diesem Punkt ist Goethe von einer historischen Nüchternheit, die sein Urteil über den Islam generell kennzeichnet.
Eine ganz andere Rolle hat naturgemäß die christliche Religion in Goethes Leben gespielt. Am 29. August 1749 ist Goethe lutherisch getauft und zu Ostern 1763 konfirmiert worden. Für Goethe, der ein Genie der Ordnung war, erwies sich auch die christliche Konfession in seiner Lebenswirklichkeit als Ordnungsmacht. So wie Goethe Amtsträger allgemein mit Kritik nicht verschonte, wenn sie ihren Aufgaben nicht gerecht wurden, so nahm er auch die Institution Kirche selbst von Kritik nicht aus. Davon hören wir bereits im „Faust“, als sich Mephisto bitter darüber beklagt, dass der von ihm für Gretchen herbeigeschaffte Schmuck von einem Pfaffen „hinweggerafft“ worden sei. Ambivalent sind die Eindrücke, die der in Italien reisende Goethe von katholischer Geistlichkeit und katholischem Gottesdienst. empfängt. Auf der einen Seite bleibt die rituelle Inszenierung des Gottesdienstes, in der sich sinnlicher Pomp und Musik zusammenfinden, auf Goethe nicht ohne Eindruck, auf der anderen Seite freilich artikuliert sich Kritik z.B. am Reliquienkult der katholischen Kirche, bei dessen Zelebrierung der Geistliche in Goethes Augen die Rolle eines Betrügers einnimmt. Ihren radikalsten Ausdruck findet Goethes Kritik in den „Venezianischen Epigrammen“, die zu guten Teilen bereits während Goethes Aufenthalt im Frühjahr 1790 in Venedig entstanden sind. Einige davon seien hier mitgeteilt:
Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre;
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.
Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Duld‘ ich mit ruhigem Muth, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und [Kreuz]. +
Goethe spricht den Klerus nicht von dem Verdacht frei, das gläubige Volk für betrügerische Zwecke zu instrumentalisieren, und erhebt im Namen einer antikisch gesinnten freien Sinnlichkeit Protest gegen die Sinnenfeindlichkeit des Katholizismus. In diesen beiden Punkten musste Goethe aber auf das Lesepublikum Rücksicht nehmen, als er sich zur Veröffentlichung seiner Epigramme entschloss; in Schillers „Musenalmanach“ konnte 1795 nur eine Auswahl erscheinen, bei deren Zustandekommen Goethe Streichungs-und Änderungsvorschläge seines Freundes befolgte; annähernd vollständig sind die Epigramme erst 1910 in Band 5/2 der Weimarer Ausgabe veröffentlicht worden. – Mit dem Machtanspruch des frühen Christentums ging Goethe in seiner Ballade „Die Braut von Korinth“ ins Gericht, die Herders entschiedenen Widerspruch hervorrief.
Katholizismus und Protestantismus werden von Goethe mit den gleichen kritischen Argumenten bedacht. Entschieden plädierte der Verehrer der klassischen Antike im Brief an den Altertumswissenschaftler Christian Friedrich Wilhelm Jacobs vom 14. August 1812 für das „Verdienst, das Alterthum durch neue Monumente aufrecht zu erhalten, das ein ganz wahnsinniger, protestantisch-catholischer, poetisch-christlicher Obscurantismus gern wieder mit frischen Nebeln einer vorsätzlichen Barbarey überziehen möchte.“
Kirchenkritische Töne sind auch in den „Zahmen Xenien“ zu vernehmen, von denen ebenfalls längst nicht alle zu Goethes Lebzeiten veröffentlicht wurden. Der Gegensatz von Volksfrömmigkeit und Klerus wird auch hier thematisiert:
Mit Kirchengeschichte was hab‘ ich zu schaffen?
Ich sehe weiter nichts als Pfaffen;
Wie’s um die Christen steht, die Gemeinen,
Davon will mir gar nichts erscheinen.
Goethes Vorbehalte gegenüber den institutionalisierten christlichen Konfessionen waren grundsätzlicher Natur. Gegen die theologische Auffassung von der prinzipiellen Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz sprach sein Bild vom Menschen, in dem der christliche Dualismus von Gut und Böse zugunsten einer dialektischen Wesenseinheit beider moralischer Qualitäten im Menschen selbst aufgehoben war. Früh schon hatte sich Goethe vom Glauben an einen persönlichen Schöpfergott und an die Offenbarung emanzipiert. Christus, so hat er in einem Gespräch mit Kanzler von Müller am 8. Juni 1830 eingeräumt, bleibe ihm „immer ein höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen“, doch der Auffassung, Christus sei Gottes Sohn und besitze mithin selber göttlichen Status, konnte er nicht folgen; zeitlebens lehnte er die Lehre von Jesu Erlösungstod am Kreuz ab. „Das leidige Marterholz“, so im Brief an Zelter vom 9. Juni 1831, sei „das Widerwärtigste unter der Sonne.“
Es gehört zu den Paradoxa von Goethes geistiger Existenz, dass er ungeachtet aller kritischen Einwendungen gegenüber dem Kirchenchristentum selbst in einem Gespräch mit Kanzler von Müller am 7. April 1830 postulierte: Wenn er sich die Frage vorlege, „wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte?“, dann müsse er sich die Antwort geben: „Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet.“ Mit diesem Paradoxon nähern wir uns dem eigentlichen Kern von Goethes Religiosität, wobei wir getrost in seinem Sinne Religiosität als menschliches Grundbedürfnis, als „Pflicht gegen sich selbst“, wie Kant formuliert hat, verstehen können.
Wenngleich Goethes Vertrautheit mit dem Pietismus von weitreichenden Folgen für sein Künstlertum war, so hatte die Begegnung mit Herder in Straßburg für die Ausbildung seiner persönlichen Religiosität ungleich größere Bedeutung. Für den Theologen Herder war der Christengott, an den er glaubte, ein Gott der Humanität, der liebenden Zuwendung zu den Menschen. Für den jungen Goethe musste dies in mehrfacher Hinsicht Befreiung bedeuten, Befreiung von einer Gehorsam verlangenden, widrigenfalls strafenden Vatergottheit, Befreiung aber auch, weil sich ihm die Möglichkeit eröffnete, Religiosität, Humanität und Vernunft im eigenen Denken und Fühlen widerspruchslos zu vereinigen. In dieser Hinsicht erweist sich Goethe als genuiner Aufklärer.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist in den Gesprächen zwischen Herder und Goethe auch das Verhältnis von Gott und Natur zur Sprache gekommen, so dass damals schon der Boden für Goethes Lektüre des niederländisch-jüdischen Philosophen Baruch (oder Benedikt) Spinoza bereitet wurde, der im 17. Jahrhundert in Amsterdam gelebt und seine Schriften noch lateinisch verfasst hatte. Seit 1776 beschäftigte sich Goethe intensiver mit Spinoza. Dessen Hauptwerk, die „Ethik“, las er im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung. Spinoza wurde für ihn zum Musterbild des Weisen, mit dem ihn eine „nothwendige Wahlverwandtschaft“ verband.
Freilich setzte die Lehre des Spinoza nur etwas in Goethe frei, was in seiner Anschauung der Welt bereits angelegt war. In drei Worten ist diese Lehre zusammenzufassen: „Deus sive natura“ (Gott gleich Natur, Gott in der Natur). Diese Maxime bedeutete für Goethe wiederum Erlösung und Befreiung: Erlösung von einem personalen Gott, der in einem Jenseits die Geschicke des Menschen lenkt, und damit Freisetzung der eigenen, nur dem eigenen Lebensgesetz gehorchenden Individualität, die sich zwei Instanzen verpflichtet fühlt, der Natur und der Liebe. In Goethes „Mailied“ haben Natur und Liebe zu vollkommener Synthese gefunden.
In den freirhythmischen Hymnen des jungen Goethe entfaltet sich ein großes Ich, das sich allein den Geboten des eigenen Lebensgesetzes, den Geboten von Vernunft und Humanität verpflichtet zeigt. Dabei wird die ganze Spannweite menschlicher Existenz ausgemessen. Auf der einen Seite, im „Prometheus“-Gedicht, die selbstbewusste Bekundung eines autonomen, keinem außerweltlichen Gott unterworfenen schöpferischen Menschen:
Hier sitz‘ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Auf der anderen Seite, im Gedicht „Ganymed“, das die antike Mythe von der Entführung des Ganymed durch Zeus aufgreift, die liebende Verschmelzung des lyrischen Ichs mit der Gott-Natur, wie sie bereits im „Mailied“ angeklungen war. Beides, die trotzige Selbstbehauptung gegenüber der Natur (so im „Prometheus“) und die Vereinigung mit ihr gehören zusammen. In seinen Gedichtsammlungen hat Goethe stets beide Gedichte einander gegenüber abdrucken lassen. In genialer Vereinfachung hat Goethe den dialektischen Vorgang von Verselbstung, der Selbstbestimmung des Subjekts, und Entselbstung, der Hingabe an die Natur, der der Mensch als Naturwesen ohnehin angehört, im „Ganymed“-Gedicht in zwei Worte gefasst: „Umfangend umfangen!“
Im ersten Weimarer Jahrzehnt vertieft sich Goethes Spinozismus durch seine nunmehr wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur. Zunächst von den praktischen Erfordernissen seiner politischen Tätigkeit angetrieben (von seiner Verantwortung z.B. für Bergbau oder Gartengestaltung im Herzogtum), erlangt Goethes naturwissenschaftliches Forschen bald sein eigenes Recht. Dafür erweist sich das Denken Spinozas als orientierende Richtschnur. Spinozas bereits zitierter Grundsatz „Deus sive natura“ erklärt die geschaffene Natur, die „Natura naturata“, nicht zum Produkt eines Schöpfergottes, sondern sieht in der Natur selbst ein göttliches Prinzip als schaffende Natur, als „Natura naturans“ wirken; „Natura naturata“ und „Natura naturans“ bilden zwei Seiten ein und desselben Vorgangs.
Goethes Naturverständnis verschafft ihm Souveränität auf nahezu allen geistigen Feldern. Das führt zu schmerzlichen Abschieden, etwa vom Schweizer Theologen Johann Kaspar Lavater, bei dem sich, so Goethe an Charlotte von Stein am 6. April 1782, „der höchste Menschenverstand, und der grasseste Aberglauben durch das feinste und unauflöslichste Band“ zusammen knüpfe. Ihm schreibt er am 29. Juli 1782, er (Goethe) sei „zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist“, und dem Bekehrungseifer des Freundes, für den es nur die Alternative „Entweder Christ oder Atheist!“ gab, hält er am 9. August 1782 entgegen: „Du hältst das Evangelium wie es steht für die göttlichste Wahrheit, mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert, und daß ein Toter aufersteht; vielmehr halte ich dieses für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.“
Gleichwohl hat Goethe eine Frage weiter beschäftigt, die sich bereits die antiken Philosophen gestellt haben: Gibt es am Ende doch ein Wesen jenseits der Natur, das alles Geschehen bewegt und lenkt? Goethe lässt diese Frage offen. „Wir können“, so formuliert er in dem Aufsatz „Bedenken und Ergebung“, „bei Betrachtung des Weltgebäudes, in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Theilbarkeit, uns der Vorstellung nicht erwehren daß dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wornach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge.“ Die unmittelbare Erkenntnis des Wahren sei dem Menschen versagt. „Das Wahre“, so heißt es in Goethes Einleitung zu seinem „Versuch einer Witterungslehre“, „mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direct erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“
Damit aber treten wir ins Reich der Kunst hinüber, ins Reich des Abglanzes und der Symbole. Doch auch in diesem Reich, das sich für Goethe als „eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete“ darstellt, bleibt die Frage nach der Bedeutung des Wahren und Göttlichen für die menschliche Existenz offen. Von dem Zeitpunkt an, wo der Mensch mit Bewusstsein handelt, ist er in das Gewebe von freier Entscheidung und objektiver Notwendigkeit verstrickt. Für den Christen ist die Frage nach der rechten Lebensführung leichter zu beantworten. Sein Leben liegt in Gottes Hand, der gläubige Protestant erhofft alles von Gottes Gnade, der Tod ist einerseits der Sünde Sold, andererseits der Durchgang zu einer höheren Existenzweise. Aus dem bisher Gesagten ist zu schließen, dass für Goethe, dem die Autonomie des Subjekts ein höchstes Gut war, solche Glaubensgrundsätze keine Gültigkeit besitzen konnten. Gleichwohl, so lehrt ein Blick auf seine Dichtungssprache, kann diese ohne Begriffe und Metaphern nicht auskommen, die ursprünglich einen religiösen Sinngehalt besitzen und auch zu Goethes Lebzeiten ihre religiöse Prägekraft noch erhalten hatten: Gott, Götter, Göttliches. In dieser Sprache verhandelt Goethe die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit, wie sie bereits in der Shakespeare-Rede formuliert worden war.
All denen, die ihrem Glauben mit dem Herzen anhingen und ihn in ihrer Lebenspraxis durch Taten beglaubigten, ist Goethe mit Anerkennung begegnet. „Toleranz“, so hat er festgehalten, „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Für ihn bilden Verstehen und Anerkennen eine Einheit; erst aus wechselseitigem Verstehen könne wechselseitiges Anerkennen entstehen. Erst dann, wenn Gläubige sich als unduldsam erwiesen, geistige Traditionen in ihrem Sinne vereinnahmten oder darauf drangen, Andersdenkende mit allen Mitteln zur eigenen Überzeugung zu bekehren, konnte es Goethe an deutlichen Worten nicht fehlen lassen.
Sein Bekenntnis zu einem Höchsten, einem Göttlichen erweist sich als Bekenntnis zu einer Religiosität, in der sich Zuversicht, wie sie aus menschlicher Tätigkeit erwächst, mit noblem Verständnis gegenüber anders Denkenden und Glaubenden verbindet. In solchem Sinne kann uns Goethes Haltung auch heute Orientierung geben.