Ästhetische Erziehung als Streitpunkt zwischen Dalberg und Schiller
Vortrag von Martin A. Völker, Berlin, am 2. März 2017
»Der Koadjutor, Freiherr von Dalberg, gehört zu den wenigen
Regenten in Deutschland, welche edel genug denken, um es zu
verschmähen, über Sklaven zu herrschen, und welche die Liebe und
Achtung freier Menschen zu verdienen wissen. […] Wie gewiß würde
jede gewaltsame Revolution verhindert werden, wenn nur solche
Männer auf unsern Thronen säßen und nicht immer die wenigen
Guten durch Weiber und Minister verdorben worden wären!«
Georg Friedrich Rebmann
»Den Coadjutor halte ich für einen gefährlichen Mitarbeiter.«
Christian Gottfried Körner
Sowohl die einfachen Bürger als auch die intellektuellen Eliten des späten 18. Jahrhunderts
konnten sich glücklich schätzen, daß in wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen und
Institutionen Vertreter der Familie Dalberg anzutreffen waren. In Mannheim leitete Wolfgang
Heribert von Dalberg (1750–1806) die Geschicke des Nationaltheaters. Mit seinem
Geschmack, seiner Bildung und seiner Beharrlichkeit erwarb er sich große »Verdienste um
die Deutsche Bühne«. Dalberg zeichnete für die am 13. Januar 1782 erfolgte Uraufführung
von Friedrich Schillers Drama Die Räuber verantwortlich und machte sich über Mannheim
hinaus als Theatertheoretiker und Bühnendichter einen Namen. Sein Bruder Friedrich Hugo
von Dalberg (1760–1812) wirkte als Schulreformer, Musiker und Schriftsteller. Er unterhielt
gute, teilweise freundschaftliche Beziehungen zu den Vertretern der Weimarer Klassik. Seine
musikschriftstellerischen Arbeiten bereiteten die Romantik vor. Carl von Dalberg (1744–
1817) ist zweifellos der bekannteste der drei Brüder.
Als Erfurter Statthalter, letzter Kurfürst-Erzbischof von Mainz, letzter Erzkanzler des Alten
Reiches und insbesondere als aufklärerisch gesinnter Schriftsteller wirkte Carl von Dalberg in
einer bewegten Epoche: Mit einem Denken, das sich an Ganzheitlichkeit orientierte, stemmte
er sich den Zersplitterungstendenzen seiner Zeit entgegen. Unablässig beförderte er den
Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, indem er sich einerseits als
wissenschaftlicher Autor und Diskutant betätigte und andererseits als politischer Entscheider
fortschrittliche wissenschaftliche und pädagogische Einrichtungen gründete und protegierte.
Noch im späten 19. Jahrhundert berief man sich auf den anregenden wie ausgleichenden Geist
Dalbergs. Theodor Fontane (1819–1898)11 schrieb: »Traten dann Konferenzen zusammen, /
Und stand der Streit in hellen Flammen, / Und kam’s, daß man keinen Ausweg sah, / So hieß
es: ›Ist kein Dalberg da?«
Carl von Dalberg war bestrebt, die Einzelwissenschaften miteinander zu verbinden, um ihre Produktivität und ihren gesellschaftlichen Nutzen zu erhöhen.
Obwohl diese Vorstellung die Epoche der Aufklärung mit der vernetzten Welt von heute
verbindet, hatte Dalberg besonders nach 1789 Schwierigkeiten, andere von dieser Ansicht zu
überzeugen. Die allen Individuen übergeordnete und die Gemüter beruhigende Vernunft, an
die Dalberg angesichts der Französischen Revolution patriarchalisch appellierte, konnte gegen
den zeitgenössischen Parteigeist wenig ausrichten. Sie ließ ihn ungewollt als unzeitgemäß, als
Repräsentant des todgeweihten aufgeklärten Absolutismus erscheinen. Die von ihm oft
wiederholte Forderung, einen ausufernden und letztlich gefährlichen Subjektivismus
zurückzudrängen, um stattdessen von oben gesellschaftsrelevante Synergieeffekte zu
erzeugen, paßte immer weniger in eine Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne, in eine
Zeit, in der die Werke von Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762–
1814) mit Begeisterung gelesen wurden und das philosophische Ich titanenhaft anschwoll.
Der Geist der Revolution war allgegenwärtig, er bestimmte nicht allein das politische
Geschehen, sondern veränderte ebenso die Vorstellungen von Philosophie und Dichtung.
Dem ästhetischen Denken Dalbergs und seinem kunstpädagogischen Interesse kommt
indessen eine größere Bedeutung zu, als man zunächst vielleicht erwarten könnte, wenn man
ausschließlich an den scheinbar laienhaft begeisterungsfähigen Kunstliebhaber Dalberg denkt.
Auf dem Gebiet der Ästhetik wurden im 18. Jahrhundert neben persönlichen Zwistigkeiten
die entscheidenden weltanschauliche Kämpfe ausgetragen. Die ästhetischen Schriften
Dalbergs spiegeln die zeittypischen Umbrüche wider: 1791 veröffentlichte er sein Buch
„Grundsaetze der Aesthetik[,] deren Anwendung und künftige Entwickelung“, darin erörterte er
eine Schönheitsvorstellung, die sich von der Konzeption Kants wesentlich unterschied und
sich auf die Formen menschlichen Denkens, Handelns und Zusammenlebens, auf die Gestalt
und Gestaltung des Staates sowie auf Gott bezog; unter dem Eindruck der Französischen
Revolution publizierte er 1793 seine „Abhandlung Von dem Einflusse der Wissenschaften und
schönen Künste in Beziehung auf öffentliche Ruhe“, mit der er der verbreiteten Auffassung
entgegentrat, daß Künstler und Philosophen die politische Ordnung gefährden würden; 1806
erschien sein „Perikles. Ueber den Einfluß der schönen Künste auf das öffentliche Glück“.
Dalberg erläuterte hier sein politisches Selbstverständnis und entwarf das Ideal des
aufgeklärten, menschenfreundlichen und kunstsinnigen Staatsmannes.
1795 erschien sein Aufsatz „Kunstschulen“ in der von Friedrich Schiller (1759–1805)
herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“. Auf dreizehn Druckseiten formulierte Dalberg
präzise seine Kunstauffassung sowie den Zusammenhang zwischen Kunst, Gesellschaft und
Politik: In einer einleitenden Passage äußert er sich grundsätzlich über den Künstler und seine
Tätigkeit. Der Wert eines echten Kunstwerks besteht für ihn darin, daß es »allenthalben und
allzeit« gefällt. Ein Künstler, der ein solches Werk hervorbringen will, muß das sinnlich
Schöne mit dem geistig Angenehmen und dem sittlich Rührenden verbinden. Er strebt also in
seiner Tätigkeit und mit seinem Werk nach Vollendung und Ebenmaß, nach Wahrhaftigkeit
und Stimmigkeit sowie nach Wohltätigkeit und Gemeinnützigkeit. Ein Werk, das formale
Mängel aufweist, das inhaltlich verworren und unehrlich erscheint oder von einer
menschenfeindlichen Gesinnung zeugt, darf die Werkstatt, das Atelier oder die Dichterstube
nicht verlassen. Dalberg vertritt die Auffassung, daß Begabung zwar unerläßlich sei,
Begabung allein jedoch nicht ausreicht: Wer ein guter Künstler sein möchte und wohltätig
und kultivierend auf seine Mitmenschen einwirken will, der ist zunächst auf Anleitung und
Ausbildung angewiesen. Der angehende Künstler befolgt die technischen Vorschriften und
Gesetze seiner Kunst. Er zeichnet sich durch Professionalität aus sowie durch die
Bereitschaft, seine Kenntnisse zu vermehren und die erworbenen Fähigkeiten unablässig zu
erproben. Ohne Mathematik und Geometrie, ohne kunstgeschichtliches Wissen und ohne
Harmonie-, Farben- oder Sprachlehre bleibt der Talentierte ein Stümper. Als solcher ist er ein
Ärgernis für seine Mitmenschen, weil seine fehlerhaften Werke die Verderbnis der Sitten
vorantreiben. Aus Dalbergs Kunstschulen gehen keine (eigenbrötlerischen) Genies hervor, sondern tüchtige Kunsthandwerker, die mithelfen, den
Alltag und die Gesellschaft zu verschönern: Der Musiker hellt die Gemüter seiner
Mitmenschen auf, durch seinen Beitrag werden die Pflichten erträglich. Der Bildhauer
verewigt »das Andenken verdienter Männer in öffentlichen Denkmälern“. Der Redekünstler
verklärt die Tugend und stimmt zusammen mit dem Musiker gottgefällige Hymnen an. Die
erfolgreichen Kunstschüler kleiden das Gute und Wahre in das Gewand der Schönheit und
treten so dem Eigensinn, den zerstörerischen Leidenschaften und dem Vorurteil entgegen. Sie
sorgen für Ruhe, Ordnung und Gemeinsinn. Die Würde der Kunst besteht in ihrer
Sozialverträglichkeit.
Für Dalberg besteht die Bestimmung eines jeden Menschen darin, sich selbst zu veredeln und
in sich die Keime des Guten, Wahren und Schönen zu entwickeln, weshalb es die Pflicht des
Staates sei, »daß er [der Staat] alles befördere, was zu dieser grosen Absicht mitwirken
kann« Durch den Umgang mit Kunst überwindet der Mensch seine tierische Rohheit und
das ebenso schädliche abstrakte Denken. Dalberg beendet seine Ausführungen mit einem
Aufruf: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt ihr in euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? Wollt ihr auf eine dauerhafte Weise die schönen Künste,
diese Blüthe der Menschheit, erhalten: so errichtet gute Kunstschulen!«
Schiller fügte dem gedruckten Beitrag die Mitteilung eines Briefes hinzu, mit dem sich
Dalberg am 12. April 1795 an den Herausgeber wandte. Dalberg bedankte sich darin für die
Annahme seines Aufsatzes und setzte hinzu, daß eine weitere Mitarbeit für ihn nicht infrage
komme: »Die drey Stücke dieser Monatsschrift, welche bißher erschienen sind, entsprechen
der hohen Erwartung Ihrer Leser. Um so mehr bedaure ich, daß der gegenwärtige Drang
meiner Berufsgeschäfte mich hindert an dieser Unternehmung in Zukunft Antheil zu
nehmen.«
Befremdlich erscheint zunächst, daß Schiller diesen Zusatz, bei dem es sich um
eine persönliche Mitteilung handelte, überhaupt abdruckte. In seinem Brief vom 23. März
1795 hatte Dalberg den Herausgeber ausdrücklich darum gebeten, den übersandten Beitrag
über die Kunstschulen ohne Nennung des Verfassers zu veröffentlichen. Überzeugt von der
Qualität der bereits erschienenen Beiträge folgte Dalberg in diesem Punkt voller Vertrauen
dem Konzept der Zeitschrift. Dem Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner (1756–1831) ist zu entnehmen, daß Schiller von Dalbergs Beitrag mehr als enttäuscht war und er ihn,
anders als von Dalberg erhofft, einer Veröffentlichung für unwürdig hielt. »Vom Coadjutor«,
schrieb Schiller am 5. April 1795 an Körner, »ist ein unendlich elender Aufsatz eingelaufen,
den ich recht verlegen bin wieder los zu seyn.« Körner sekundierte seinem Freund am 15.
Juni 1795 mit der Bemerkung: »So etwas wie die Kunstschulen ist mir noch nicht von
Dalberg vorgekommen; es ist der völlige Stil der Zehn Gebote. Wer hat den glücklichen
Einfall gehabt, seinen Namen am Ende anzubringen? Hier war er äusserst nöthig.«
Diese harschen Reaktionen verwundern, weil Dalbergs Schreibstil, den Körner verunglimpfte,
dem seiner bisher veröffentlichten Werke entsprach. Schiller kannte Dalbergs Schriften, ihre
formalen wie inhaltlichen Stärken und Schwächen, er kannte Dalbergs vielgelesene
„Betrachtungen über das Universum“ (1777) und dessen „Grundsaetze der Aesthetik“ (1791),
auf die er sich in seiner eigenen epochemachenden Abhandlung zur Ästhetik, nämlich in den
Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, berief. Schiller wußte also
ziemlich genau, was er von Dalberg erwarten konnte, und er warb mit Dalbergs Namen für
seine neue Monatsschrift „Die Horen“. Schillers Reaktion, die Körner mit seiner im Dezember
1794 ausgedrückten Befürchtung, Dalberg sei ein gefährlicher Mitarbeiter, provoziert hat, läßt
sich erklären, ohne beizupflichten, daß es sich bei Dalbergs Beitrag tatsächlich um ein
Machwerk handelt.
Mit dem Konzept seiner Zeitschrift und dem Beitrag „Ueber die ästhetische Erziehung des
Menschen“ reagierte Schiller auf die unerwartet blutige Entwicklung der Französischen
Revolution und auf die durch sie hervorgerufenen Ängste und Sehnsüchte. Seine bewußte
Hinwendung zur »ästhetische[n] Welt« war Ausdruck einer tiefen Enttäuschung, die er mit
anderen deutschen Schriftstellern und Intellektuellen, etwa mit Georg Forster (1754–1794),
teilte.
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Aufklärung sowie die Erfahrung, daß die
Zivilisierung und Kultivierung des Menschen durch die Sammlung und Verbreitung von
Erkenntnissen kaum erreicht werden konnte, ließen Schiller in seinen Briefen „Ueber die
ästhetische Erziehung des Menschen“ die griffige Frage formulieren: »woran liegt es, daß wir
noch immer Barbaren sind?« Bereits zuvor hatte Schiller in seinem Schauspiel „Die Räuber“
(1781) gegen das aufgeklärte Zeitalter revoltiert. In die Form eines Familiendramas gebracht,
führte Schiller vor, wie sich die väterlich-vernünftige Gemeinschaft selbst zerstört: Das
»schlappe Kastraten-Jahrhundert“ und dessen Buchkultur verdrängen die urwüchsige Natur
zugunsten der starren Konvention. Verdrängte Gefühle brechen plötzlich hervor und bilden
zusammen mit einer materialistischen Weltsicht, die ins Verbrecherische gewendet wird, ein
beeindruckend explosives Gemisch.
Die Kunstschulen stießen nicht auf Schillers Zustimmung, weil Dalberg mit jener
Selbstsicherheit auftrat, die dem Staatsmann eigen ist und die dem tiefsinnigen und
abwägenden Philosophen abgeht. Zudem fühlte sich Schiller durch die unverdrossen
aufklärerische Haltung Dalbergs unangenehm an die eigenen Hoffnungen, die er in den späten
achtziger Jahren hegte, erinnert. Die Wut, die sich an Dalbergs Aufsatz entlud, zielte letztlich
auf Schiller selbst. Am 26. Mai 1789, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Französischen
Revolution, hielt Schiller in Jena seine berühmte Antrittsvorlesung mit dem Titel „Was heisst
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, die im November 1789 in der von
Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“
publiziert wurde. Schiller läßt hier die Erfolgsgeschichte der Aufklärung Revue passieren
und eignet sich den Standpunkt des aufgeklärten Menschen an, der nicht eher ruht, »bis alle
seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt
seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick
überschauet«. Aus dem Erfahrungsschatz der Seefahrer schließt Schiller, daß sich der
europäische Mensch durch »ausserordentliche Anstrengung zur Gesellschaft« erhoben habe.
Roheit und Barbarei hätte der Europäer abgelegt, und er blicke – angetrieben von
Wißbegierde und nach Unterhaltung suchend – auf fremde Völker herab und erkennt die
überschrittenen Stufen seiner eigenen Entwicklung. Schiller hebt die unermüdliche Tätigkeit
der Intellektuellen und Gelehrten hervor, die nun durch ein »weltbürgerliches Band«
verbunden wären. Er lobt die europäische Staatengemeinschaft, die sich anscheinend in eine
»große Familie« verwandelt habe. Schiller spricht in seiner Antrittsrede kaum darüber, wie
er sich den weiteren Verlauf und das Ziel der Geschichte vorstellt. Er ist davon überzeugt, daß
sich der omnipotente Mensch seine Wünsche und Sehnsüchte bereits weitgehend erfüllt hat.
Erstaunt fragt man sich angesichts einer solchen Apotheose des Erreichten, warum im selben
Jahr die Revolution ausbrach und es zu den langanhaltenden politischen Verwicklungen
gekommen ist, warum Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Losung der Stunde war.
Einem naiven Optimismus, der Soll mit Haben verwechselt, ist es anzulasten, daß sich
Schiller später, nachdem die Revolution unter dem Fallbeil ihre Ideale verlor, der
Verbitterung hingab. Seine Abhandlung „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“ läßt
sich als formvollendete Selbstanklage lesen.
Bis an sein Lebensende blieb Dalberg fest davon überzeugt, daß die Aufklärung von Mensch
und Gesellschaft notwendig sei, unaufhaltsam voranschreite und Glückseligkeit und
Schönheit dabei ineinandergreifen. Er gab sich jedoch zu keinem Zeitpunkt der falschen
Hoffnung hin, daß dieser Prozeß jemals an sein Ende kommen könnte, denn der zerstörerische
Hochmut gehörte für ihn unaustilgbar zum Wesen des Menschen. Die Menschheit im Ganzen,
so Dalberg, verändere sich kaum, sie bleibt ein »Gemisch von Tugend und Laster, von
Vernunft und Thorheit«. Es erscheint in dieser Hinsicht vermessen und fahrlässig, den
Menschen des 18. Jahrhunderts zum Sieger der Geschichte zu erklären, der – mit der eigenen
Geschichte abschließend – stolz auf seine Bildungserfolge zurückblickt.
Dieser Überheblichkeit stellte Dalberg das Bild des von der Erbsünde belasteten Menschen entgegen.
Die christliche Demut warnt vor überzogenen Hoffnungen und beugt bitteren Enttäuschungen
vor. Die spöttische Bemerkung Körners, Dalbergs Kunstschulen-Aufsatz wäre im Stil der Zehn
Gebote geschrieben worden, erscheint so in einem anderen Licht. Körner rügte mit diesem
Hinweis nicht etwa objektiv die formale Gestaltung des Beitrags, sondern er spielte auf
Dalbergs tiefe Verwurzelung im Glauben an, die Schiller und ihm selbst, hätten beide sie
jemals erlangt, abhanden gekommen war. Die Religion hielt Dalberg angesichts der
politischen Krisen schadlos. Der Glaubens- und Sinnverlust hinterließ bei Schiller einen kaum
zu lindernden Schmerz.
Mit seiner Zeitschrift „Die Horen“ und mit seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ regte
Schiller seine Leser zu einer vom Leben unbefleckten künstlerischen Meditation an. Erst
wenn es einem jeden gelungen sein wird, den ästhetischen Staat der überwundenen
Entfremdung und der Befriedung widerstreitender menschlicher Vermögen in der eigenen
Brust zu entdecken und zu erhalten, erst dann wird der Mensch reif und fähig dazu sein, mit
anderen eine große politische Einheit jenseits des Naturtriebs und einer diktatorischen
Vernunft herzustellen. Um die realen politischen Probleme lösen zu können, müsse der
Mensch, wie Schiller schrieb, den ästhetischen Weg einschlagen, »weil es die Schönheit ist,
durch welche man zu der Freyheit wandert«. Aber dieser Weg führt nach innen, während
draußen die Revolution tobt, und es ist mehr als fraglich, ob ein Mensch, der dazu angehalten
wird, die beglückende Schönheit wie eine Droge zu mißbrauchen, weil er seine Defizite und
Beschränkheit vergißt, solang er ihren Zauber erfährt, nicht seine Fähigkeit verliert, ein guter
Bürger neben anderen guten Bürgern zu sein. Hieran macht sich der Konflikt zwischen
Schiller und Dalberg fest. Dalberg hat die Horen anwendungsbezogen gelesen während
Schiller für eine, auf die Romantik vorausweisende, esoterische Form der Selbstbildung
plädierte, die in den Augen eines Aufklärers kaum etwas mit Erziehung im traditionellen
Sinne zu tun hatte und die im Zeitalter der Pädagogik sogar als Provokation aufgefasst werden
konnte.
Aus gutem Grund ließ Dalberg nie davon ab, die Kunst in politisch-soziale Zusammenhänge
einzubetten: Beschränkt man die Kunst, mit welcher Begründung auch immer, ausschließlich
auf das persönliche Erleben, so bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, mehr noch:
Kunst wird zu einem Verführer, der den Menschen von Gott abfallen läßt und jeden
Gemeinsinn konterkariert. Schönheit »ohne Weißheit und Tugend«, also ohne Verbindung zur
vernünftigen Erkenntnis und zum alltäglichen guten Handeln, sei gefährlich, wie Dalberg in
seinem Horen-Beitrag klarstellt. Aufgabe der Politik ist es, den Menschen mit Hilfe der
Kunst und der Schönheit auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung zu unterstützen, ohne daß
dabei ein unüberwindbarer Graben zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht. »Das
ganze menschliche Leben«, bemerkt Dalberg, »sollte ein Bestreben moralisch- und
ästhetisch vollkommener Selbstbildung seyn. Und dann wird es zugleich
möglichstvollständige Erregung des Schönheitsgefühls.« Der Politiker leitet den Bürger an,
sich nützlich zu beschäftigen und in jeder Tätigkeit nach dem Ideal der Vollkommenheit zu
streben. Die hierbei entstehende »Herzensfreude« verbindet ihn mit seinen Mitmenschen
und mit Gott. Man kann nicht behaupten, Dalberg hätte gegen das Programm der Horen
verstoßen. Er fühlte wie Schiller die Verpflichtung, sich jenseits der beschränkten Interessen
der Gegenwart für das Reinmenschliche einzusetzen. Er achtete die überzeitliche Einheit des
Wahren, Schönen und Guten. Dalberg nahm die von Schiller formulierte Aufgabe an, die
politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit zu vereinigen, aber er tat
dies auf seine Weise: Er nahm die Regenten, und damit sich selbst, in die Pflicht: Ausgehend
von einem weitreichenden Lehrer-Schüler-Verhältnis tragen die Regenten die Veranwortung
für die Bildung ihrer Untertanen. An diesem konkreten Bildungsauftrag wollte Dalberg ihre
Tauglichkeit messen. Mit seinem Beitrag über Kunstschulen reagierte Dalberg als Ästhet und
Politiker auf Forderungen seiner Zeitgenossen, Gute Regenten lassen Schulen errichten, in denen eine hohe Kunst den Menschen veredelt und das gesellschaftliche Wohl befördert.
Zudem führte Dalberg einen Gedanken weiter aus, den er vorher in seinen „Grundsaetze[n] der Aesthetik“ formuliert hatte:
»Die Führer und Lehrer der Menschheit sollten das Gefühl des wahren Schönen, in ihren Untergebenen und
Zöglingen erregen. Grössere allgemeine Glückseligkeit würde die Folge seyn, und das Geschäft eines Jeden
würde besser gehen. Das Wesentliche aller Würkungen des Schönheitgefühls, bestehet darinn: dass durch edle Thaten der Menschen, durch ihre Geistes- und Kunstwerke, die Menschheit gewinnt, und die Welt schöner und besser wird. Wissenschaft, Kunst und Thatkraft sind einander wechselsweiss Stütze, Beförderung, Anfeuerung; und wenn Achill einen Homer begeistert, so begeistert Homer einen Alexander. Kunst steigt durch entflammte Bewunderung der Kunstwerke, von Stufe zu Stufe, zu hohen Idealen empor.«
Gegenüber der auf Kunst und das Kunsterlebnis enggeführten Ästhetik Schillers entwarf
Dalberg eine Ästhetik, die sich im regen Austausch mit allen erdenklichen Wissensgebieten
und Lebensbereichen befindet: Anthropologie, Geschichte, Mathematik, Moral, Kunst, Physik
und Theologie.
Dalberg definierte die Ästhetik als Disziplin, die andere Gebiete befruchtet und von diesen
wiederum bereichert wird, er propagierte Verbindung statt Vereinzelung und stellte die
Schönheit ins Zentrum des individuellen und sozialen Lebens. Wer das gute und gelungene
Leben anstrebt, so läßt sich seine Überlegung zusammenfassen, der sucht nach Schönheit und
begibt sich in Gemeinschaft. Weil Dalberg ein Konzept anbot, das die einzelnen Teilbereiche
der Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften ließ, sondern das bürgerliche Leben, die
Wissenschaft und die Kunst dynamisch miteinander vernetzte, wurde er von Christian
Friedrich Daniel Schubart als Erneuerer der Gelehrsamkeit – als deutscher Francis Bacon
(1561–1626) – gefeiert. Für Schubart, der oft genug das aussprach, was seine Zeitgenossen
dachten, nahm Dalberg neben Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Christoph Martin
Wieland eine herausragende Stellung in der Literaturszene ein. Mit seiner Ästhetik überragte
Dalberg nach Auffassung Schubarts all jene Autoren, die sich vorher mit ästhetischen
Fragestellungen auseinandergesetzt hatten, weil er den Gedanken nicht von der Tat, das
Subjekt nicht vom Objekt und das Schöne nicht vom täglichen Leben, vom Staat und von
Gott trennte.
Dalbergs berufsbedingte Abkehr von den Horen, die er dem Herausgeber am 12. April 1795
anzeigte, läßt sich durchaus als ein Hinweis auf unterschiedliche, vielleicht unversöhnliche
Ansichten lesen. Dennoch wandte sich der begeisterte Horen-Leser Dalberg am 5. September
1795 abermals an Schiller und übersandte ihm einen neuen Beitrag, der bedauerlicherweise
verloren gegangen ist. Schiller benutzte Dalbergs im Frühjahr 1795 erfolgte Abkehr, um
seinen Lesern zu versichern, daß sie in Zukunft von aufklärerischen Standpunkten und der
Prosa des Lebens verschont bleiben würden. Schiller ging fehl in der Annahme, daß Dalberg
inhaltlich und formal anders schreiben würde, als er es bis dahin getan hatte.
Dalberg verschwieg dem Herausgeber, daß ihn eigentlich weder das Konzept der Horen noch des
Herausgebers Vorstellung von Ästhetik und ästhetischer Erziehung veranlaßt hatten, über
Kunstschulen nachzudenken. Mit seinem Kunstschulen-Aufsatz beging Dalberg ein Jubiläum,
denn genau zehn Jahre zuvor, also 1785, war die Idee zur Gründung einer Kunstschule in
Erfurt an die von Dalberg initiierte Kurfürstliche Kommerzien-Deputation zur Förderung des
Handels und der Gewerbe herangetragen worden. Der Einfall stammte von Johann Georg
Wendel (1754–1834). Der Pfarrerssohn wurde in Egstedt geboren und besuchte zwischen
1772 und 1778 das Erfurter Ratsgymnasium. Ab November 1778 weilte er als
Mathematikstudent in Leipzig, wo er die damals bekannte, von Adam Friedrich Oeser (1717–
1799) geleitete, Kunstakademie besuchte und in Architektur, Malerei und Kupferstecherei
unterrichtet wurde. Die künstlerische Ausbildung, die er in Leipzig genoß, veranlaßte ihn, in
seiner Heimatstadt ein ähnliches Institut zu gründen. Den Unterrichtsplan, der die Bereiche
Architektur, Geometrie, Perspektive, Proportion und Dekoration umfaßte, entwarf Georg
Melchior Kraus (1737–1806). Zusammen mit Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) hatte
Kraus 1774 die Gründung der ›Fürstlichen Freyen Zeichenschule‹ in Weimar angeregt, die
1776 erfolgte. Kraus fungierte als erster Direktor dieser Bildungsanstalt, an der sich die
Erfurter Einrichtung orientierte.,
Die Erfurter Kunstschule bzw. Kurfürstliche Zeichenschule wurde am 9. Mai 1786 eröffnet.
Der Unterricht wurde zunächst in Wendels Wohnung, die sich in der Neustadt befand,
abgehalten. 1789 oder 1790 erwarb Wendel auf dem Anger 43 den Biereigenhof zum
Heidelberge, wo fortan die Zeichenschule untergebracht war. Wendel führte interessierte
Laien beiderlei Geschlechts anhand von Büchern, Musterzeichnungen, Kupferstichen und
Gipsabgüssen in die künstlerische Arbeit ein. Aber auch und gerade Handwerker sollten den
Unterricht besuchen. Die Zünfte wurden angehalten, ihre Lehrlinge und Gesellen in die
Zeichenschule zu schicken, um ihnen dort eine fundierte ästhetische Erziehung und
Weiterbildung angedeihen zu lassen. Sie standen jedoch, besorgt um ihren Einfluß, der
Kunstschule skeptisch bis feindlich gegenüber.
Carl von Dalberg ließ es sich nicht nehmen, dem Unterricht wiederholt persönlich
beizuwohnen und in Schillers Horen, aus eigener Erfahrung schöpfend, den Nutzen von
Kunstschulen darzulegen. Die Kunst- und Zeichenschule, die 1793 mehr als 200 Besucher
zählte, stärkte als ›gute Bildungsanstalt‹ das moderne, aufklärerische Profil der Stadt Erfurt.
Daß Dalberg in seinem Kunstschulen-Aufsatz zukunftweisende Gedanken vorgetragen hatte,
belegt die Würdigung, die sie lange nach ihrem Erscheinen durch Carl Seidel (1788–1844)
erfuhren. Seidel erwarb sich als Musiklehrer und Kunstwissenschaftler ein hohes Ansehen
in Berlin. In seiner zweibändigen Schrift Charinomos (1825/28) erörterte er mit großer
Belesenheit und Sachkenntnis das Zusammenspiel der unterschiedlichen Künste und die
»nahe Beziehung der Kunst zum Leben«. Mit dem gleichen ganzheitlichen Anspruch, den
vorher Dalberg verfolgte, schrieb Seidel über die »Verschönerung des Daseins durch die
Künste, über ästhetische Erziehung, über Erweckung und Belebung des Kunstsinns im Volke,
über das Verhältniß der Künste zum Staat«. Der u. a. von Johann Gottfried Schadow (1764–
1850), Christian Daniel Rauch (1777–1857), Johann Wolfgang Goethe (1749–1832)
gepriesene und mehrfach staatlich prämierte zweite Band enthält ein abschließendes
Kapitel, das den Titel „Kunstschulen“ trägt. Seidel beginnt seine Ausführungen mit Dalbergs
Appell: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt Ihr in Euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? […] so errichtet gute Kunstschulen!«
Schillers Interesse an Verbrechern
Vortrag von Prof. Udo Ebert, Jena, am 7. Februar 2017
Vor Beginn seiner Vorlesung „Ästhetisches Vergnügen und psychologische Neugier – Schillers Interesse an Verbrechern“ übergab Prof. Ebert an jeden anwesenden Goethefreund eine Gliederung seines Vortrages zum Thema. 1781 verfasste Schiller sein Drama „Die Räuber“ und schrieb nach seiner Flucht nach Mannheim und Bauerbach das Drama „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In diesen Werken zeigt er Unterschiede zwischen moralischen und ästhetischen Beurteilungen von Verbrechern auf.
Moralisch betrachtet lautet das Urteil „schlecht“, es handelt sich um „unerhörte Verbrechen“. Bei ästhetischer Betrachtung wirken Kraft und Freiheit vor Gesetzen. Es bestehen starke Beziehungen zur Wirklichkeit.
Das Problem der Ästhetik stand bei Schiller ganz oben, ihm war es um das Erzählen von Lebensgeschichten über das Seelenleben von Menschen zu tun. Daraus entstanden Verbrechergeschichten, Einblicke ins menschliche Fühlen und sittliches Verhalten.
Vorgetragen und dargestellt wurden von Prof. Ebert auch Zitate Schillers aus Kriminalgeschichten, wie zu Motiven, die zu bösen Vebrechen führten. Auch Vergleiche, die Schiller gern anstellte, stellte er vor, wie die „Weisheit und Torheit2, aber auch Ursachen, die Täter zu „bösen Taten“ führten.
Auch verlas Prof. Ebert Auszüge aus Schillers Werk „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, erläuterte Hintergründe, den Inhalt der Erzählung, vor allem aber Auszüge über die Entstehung des dargestellten Verbrechens.
Schiller beschäftigte sich auch im Drama „Die Räuber“ mit dem Thema „Vergeltungsstrafe“, widmete sich der Frage: Was sah er als Vergeltung für begangenes Verbrechen an? Die Todesstrafe lehnte er ab. Für Schiller galt: Verbrecher mit „Menschlichkeit“ zu begegnen.
Zu dieser allgemeinen Thematik führte Prof. Ebert Folgendes aus:
In seinen Werken, besonders den Dramen und Erzählungen, zeigt Friedrich Schiller ein auffallend großes Interesse an Verbrechern. Über die Gründe für dieses Interesse gibt er selbst, vor allem in seinen theoretischen Schriften, Auskunft. Demnach sind es teils ästhetische, teils psychologische Gründe, die den Verbrecher für Schiller so attraktiv machen.
Den Grund für diese Abweichung des moralischen Urteils vom ästhetischen und für das ästhetische Vergnügen am großen Verbrecher sieht Schiller in der Schrift „Über das Pathetische“ in Folgendem: Bei der moralischen Beurteilung sehen wir auf die Forderung der Vernunft, dass moralisch gehandelt werde; hier herrschen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit. Bei der ästhetischen Beurteilung sehen wir dagegen auf die Kraft und auf die Freiheit, mit der gehandelt wird; denn hier herrscht das Bedürfnis der Einbildungskraft, deren Interesse es ist, „sich frei von Gesetzen im Spiele zu erhalten“.
Unter Schillers Dramenfiguren, die den Typus des willensstark aus Freiheit handelnden, dadurch großen und interessanten Verbrechers repräsentieren, hob Ebert zwei hervor, denen die geschilderte Ambivalenz des erhabenen Charakters, das Potential sowohl zum großen Bösen wie zum großen Guten, eigen ist. Die eine dieser Figuren ist Karl Moor. Die andere Figur ist Fiesco, der im Verlauf des Dramas eine Kehrtwendung vollzieht. Auch Fiesco ist ein Held, der seinem Charakter nach entweder ein Brutus oder ein Catilina werden kann, und mit nicht zu überbietender Deutlichkeit demonstriert Schiller die beiden Potentiale durch die beiden gegensätzlichen Dramenschlüsse.
Doch nicht nur als Freiheitsenthusiast, Idealist und Dramatiker fühlt Schiller sich zum Verbrecher hingezogen, sondern auch als Psychologe. Zu den außergewöhnlichen Lebensläufen, die sich nach Auffassung jener Zeit besonders dazu eigneten, die Natur des Menschen, seine Seele und deren Triebkräfte zu erforschen, gehörten die Biographien von Abenteurern, Selbstmördern und Verbrechern. Er hat in den Jahren 1792 bis 1795 einen eigenen „Pitaval“, eine Sammlung mit dem Titel „Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit“ herausgegeben. Der empirischen Erkundung der Seele, der psychologischen Analyse namentlich von Verbrechern, also der Kriminalpsychologie, gilt auch nach Schulzeit und Medizinstudium Schillers bevorzugtes Interesse. Es schlägt sich in seinem literarischen Werk nieder, und zwar durch alle Gattungen: von den Dramen über die Erzählungen, die Gedichte und die historischen Schriften bis hin zu den Schriften über Ästhetik. Die Verbrechererzählung geht also den Gedanken des Täters und den sie bewegenden äußeren, insbesondere sozialen Umständen als Ursachen des Verbrechens nach – Psychologie und Soziologie als Kriminalätiologie (Verbrechensursachenerforschung).
In seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ hat Schiller diesen ätiologischen Ansatz exemplarisch durchgeführt. Eine wahre Geschichte nennt deshalb Schiller seine Erzählung im Untertitel – des Räubers Friedrich Schwan (1729-1760), des berüchtigten „Sonnenwirtes“. Friedrich Schwan heißt in Schillers Erzählung Christian Wolf. Schiller beschreibt in dieser Erzählung die kriminelle Karriere eines Menschen und benennt die Ursachen, die zu ihr geführt haben. Die Ursachen liegen einerseits in seelischen Zuständen, inneren Triebkräften und Willensentschlüssen des Täters, andererseits in äußeren Umständen, die als objektive Rahmenbedingungen der Taten fungieren, aber auch ihrerseits zu den subjektiven Gemütszuständen und Willensentschlüssen des Täters beitragen.
Bemerkenswert ist der ursächliche Anteil sozialer Faktoren. Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft, ja auch durch die Justiz selbst, gesellschaftliche Rollenzuschreibung und Übernahme der zugeschriebenen Rolle durch den Täter werden als kriminogene Faktoren herausgearbeitet. Damit weist Schiller auf moderne Kriminalitätstheorien voraus. Dieses „wechselseitige[…] Sich-Aufschaukeln[…] von Straftaten auf der einen Seite und gesellschaftlichen sowie amtlichen, also informellen und formellen, Reaktionen auf der anderen Seite“ stellt sich in Schillers Erzählung bei Christian Wolf folgendermaßen dar: Aufgrund niedriger sozialer Herkunft und bescheidener wirtschaftlicher Verhältnisse, aber auch wegen seines abstoßenden Aussehens erfährt Wolf schon früh Zurückweisung in seiner Umgebung. Ungeschickte Versuche, sich Zuneigung zu ertrotzen, verschlimmern seine Lage nur, und im Bestreben, sich die Zuneigung zu erkaufen, gerät er auf die kriminelle Bahn. Mehrfache strafgerichtliche Verurteilungen wegen Wilddieberei und ein längerer Gefängnisaufenthalt treiben seine soziale Entwurzelung weiter voran, indem sie seine Seele verwüsten, ihn seiner Umgebung immer mehr entfremden und die Gesellschaft zu immer heftigerer Zurückweisung, Stigmatisierung und Ausgrenzung seiner Person veranlassen. Seine Verzweiflung nötigt Wolf, die ihm von der Gesellschaft zugeschriebenen Eigenschaften in sein Selbstbild zu übernehmen und die ihm zugeschriebene Rolle zu spielen. Er will nun Böses um des Bösen willen tun. „Ich wollte mein Schicksal verdienen“. Durch den am Nebenbuhler begangenen Mord wird eine Rückkehr in eine ehrbare bürgerliche Existenz vollends ausgeschlossen. Der Mord treibt Wolf in die Arme einer Räuberbande, als deren Anführer er seine kriminelle Karriere beschließt.
Somit verweist Schiller auf die prinzipielle Offenheit jedes Lebenslaufs für kriminelle Episoden oder Karrieren, auf die allgegenwärtigen und jederzeitigen Anfechtungen und Versuchungen, die in Verbindung mit psychischen Dispositionen jeden Menschen in die Gefahr bringen können, kriminell zu werden. Doch nicht auf die Ehrlosigkeit als Folge der Verbrechen kommt es Schiller in der Erzählung an, sondern auf das Umgekehrte: auf die Verbrechen als Folge der Ehrlosigkeit. Nicht die Ursächlichkeit der Verbrechen für den Verlust der Ehre, sondern die Ursächlichkeit des Ehrverlusts für die Verbrechen ist das Thema der Erzählung. Was Christian Wolf im Laufe der Zeit verliert, ist nicht nur seine äußere Ehre, die Achtung seitens der Gesellschaft, sondern auch seine innere Ehre, seine Selbstachtung. Weil er keine Ehre mehr beanspruchen kann, lernt er die Ehre zu entbehren, gibt er schließlich alle Ansprüche an sich selbst, ehrenhaft zu leben, auf. Wem es auf die eigene Ehre nicht ankommt, wer sich selbst für ehrlos hält, der braucht sich auch nicht zu schämen.
Freilich gewinnt Wolf vorübergehend seine äußere und innere Ehre wieder, nämlich mit der Aufnahme in die Räuberbande, die ihn sogleich zu ihrem Anführer wählt. In dieser kriminellen Gemeinschaft erfährt der aus der Gesellschaft Ausgestoßene herzliches Willkommen, Zuwendung, Vertrauen, Achtung, Bewunderung. Doch es ist die Anerkennung durch eine Parallelgesellschaft, eine verbrecherische Subkultur, welche die gesellschaftliche Außenseiterrolle, das Ausgestoßensein aus der ehrbaren bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhebt, sondern nur bekräftigt. Auch wenn somit das Gute im Menschen hier nicht zum äußeren Sieg führt, so ist es doch als solches vorhanden. Der Mensch hat die Kraft, auch gegen widrige Umstände seine sittliche Freiheit und seine Existenz als moralisches Subjekt zu behaupten. Das macht Schiller in Übereinstimmung mit seinem von ihm auch sonst vertretenen Menschenbild in dieser Erzählung deutlich. Bezeichnend ist aber, woran der Sieg des Guten über das Böse am Ende scheitert: Es ist die Gesellschaft – hier in Gestalt des Landesherrn als ihres obersten Repräsentanten – , welche die kriminelle Laufbahn des Protagonisten diesmal zwar nicht befördert, aber ihre Beendigung verhindert. Und so bleibt denn der gesellschaftskritische Duktus der Erzählung bis zum Ende erhalten.
Was hätte der Blick der Richter in die „Gemütsverfassung des Beklagten“, was hätte die Berücksichtigung des Anteils, den die Gesellschaft zu den Verbrechen des Sonnenwirts beigetragen hatte, und was hätte die Beachtung der Auswirkungen des harten Strafvollzugs auf die Psyche und das weitere Leben des Verurteilten für die strafrechtliche Behandlung des Delinquenten bedeutet? Die Antwort kann nur sein: Verständnis, Nachsicht, eine mildere und hilfreiche Strafe. Eine Strafe, die den psychischen und sozialen Ursachen des Verbrechens sowie der Mitverantwortung der Gesellschaft Rechnung trägt; die weniger auf die Tat als auf den Täter sieht; die dem Verurteilten hilft, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden und nicht mehr straffällig zu werden; und die ihn mit der Gesellschaft aussöhnt. Mit seiner dem modernen Resozialisierungskonzept nahekommenden Auffassung von der Behandlung und Bestrafung der Verbrecher ist Schiller ganz Aufklärer. Nach den Vorstellungen der Aufklärung ist der Staat eine Zweckanstalt zur Beförderung des Glücks und der Vollkommenheit des Einzelnen. Der so verstandene Staat hat die Aufgabe und die Befugnis, den vom Pfad der Tugend abgewichenen Bürger auf diesen Pfad – notfalls mit Zwang – zurückzuführen.
Schiller lehnt auch, einer in der Aufklärung verbreiteten Tendenz entsprechend, in seiner Vorlesung „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ die Todesstrafe ab.
In Schillers Dramen allerdings zeigt sich, dass das sie bestimmende andersartige Interesse – das ästhetische an Stelle des empirisch-psychologischen – auch die Auffassung von der Strafe verändert. Den Kant’schen Vergeltungsgedanken, den Schiller in seinen Erzählungen und historischen Schriften zugunsten einer spezialpräventiven Strafkonzeption ablehnt, sehen wir in seinen Dramen durchaus am Werk. Und dies nicht von ungefähr. Denn für die dramatische Gestaltung ist die vergeltende Funktion der Strafe ein höchst geeignetes Element. Als Vergeltung ist die Strafe Manifestation der Gerechtigkeit, welche die durch das Verbrechen gestörte Ordnung wiederherstellt. In diesem Sinne überliefert in den Räubern Karl Moor sich am Ende der Justiz, um die mißhandelte Ordnung [zu] heilen.
Auch Die Braut von Messina handelt von der vergeltenden Strafe. Der Brudermörder Don Cesar fügt die Todesstrafe als die einzig gerechte Form der Schuldvergeltung sich selbst zu.
Neben dieser objektiven hat die Vergeltungsstrafe auch eine für dramatische Gestaltung äußerst wirksame subjektive Funktion. Während sie dem Verbrecher seine böse Tat objektiv gerecht vergilt, bringt sie dem reuigen Täter subjektiv die ersehnte Sühne für seine Schuld, die Beendigung seiner Gewissensqual. So besonders eindrucksvoll im Drama „Maria Stuart“. Maria akzeptiert die Todesstrafe, die wegen des von ihr nicht begangenen Hochverrats gegen sie verhängt worden ist, als Strafe für den zuvor von ihr an ihrem Gatten begangenen Mord und gelangt so zur Sühnung ihrer Schuld, zur moralischen und religiösen Entlastung, zur Katharsis.
Am Ende seines Vortrages antwortete Prof. Ebert auf Fragen.
Renate Dalgas
Auf dem historischen Mühlenhof
Tagesausflug am 26. November 2016
Goethefreunde aus Gera und Erfurt besuchten den historischen Mühlenhof Bosse bei Dachwig. Mit dabei waren Flüchtlingsfamilien aus Syrien, dem Irak sowie eine Dolmetscherin von der Insel Madagaskar. Für diesen Personenkreis leisten Mitglieder der Goethe-Gesellschaft Gera aktive Hilfe bei der Bewältigung des täglichen Lebens, so beim Erlernen der deutschen Sprache, bei Behördengängen. Ihre Teilnahme am Ausflug ist ein Stück gelebte Integration durch Menschenfreundlichkeit und Toleranz, ganz nach dem Zitat von Goethe zur Anerkennung des Anderen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“
Unser Beisammensein began mit einem Vortrag über die lange Geschichte der historischen Wassermühle und des Müllerhandwerks, einem Ausflug in die Vergangenheit im Mühlenmuseum, einem Stöbern auf den verschiedenen Ebenen des Bauwerks.
Anschließend herrschte gute Stimmung im Mühlenrestaurant. Dabei gab es Getränke, passend zur Winterzeit, Kaffee und Kuchen.
Dieeter Schumann und sein Begleiter sorgten für Musik und Gesang aus den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ein Ohrenschmaus im passenden Ambiente.
Überraschung und Freude standen in den Gesichtern geschrieben, als Angelika und Bernd kleine Buchgeschenke an alle Teilnehmer des Ausflugs verteilten, fast wie Weihnachten!
Natürlich sangen die Goethefreunde bekannte Volks- und Weihnachtslieder. Die syrischen und irakischen Flüchtlinge sangen Lieder aus ihrer fernen Heimat.
Mit guten Gesprächen in froher Runde und einem köstlichen Büfett gingen die schönen Stunden zu Ende.
Um mit den Worten von Goethe zu sprechen: „… allen, die darin verkehrt, ward ein guter Mut beschert.“
Ein herzliches Dankeschön geht an Angelika und Bernd Kemter, an Dieter Schumann. Sie haben den erlebnisreichen Tagesausflug organisiert und mit uns durchgeführt.
Helga Stahl
Johann Peter Eckermann – Goethes geprüfter Haus- und Seelenfreund
Vortrag von Dr. Egon Freitag, 1. November 2016
Johann Peter Eckermann wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Er wurde 1792 in Winsen an der Luhe (Lüneburger Heide) geboren. Sein Vater war Hausierer, seine Mutter Heimarbeiterin. Als Hütejunge konnte er nur notdürftig Lesen und Schreiben lernen. Aber er besaß ein großes zeichnerisches Talent. Doch wegen seiner anfänglich geringen Bildung wurde er oft verspottet, auch noch später. Heine nannte ihn „Goethes Papagei“, Lenau dichtete „Eckermann und Goethe/Blaserohr und Flöte“.
Eckermann nahm 1813 am Winterfeldzug gegen Napoleon teil. Danach wollte er Maler werden, er kopierte Bilder. Im Winter 1815 wanderte er nach Hannover zu Kunstmaler und Kupferstecher Johann Heinrich Ramberg. Er nahm bei ihm Zeichenunterricht. Dann ging ihm das Geld aus. Außerdem litt er an einer schweren Krankheit.
Von 1815 bis 1821 hielt er sich in Hannover auf. Er lernte dort Latein und Griechisch und widmete sich nun der Poesie, die ihn nach eigenen Worten „mit zärtlichen Armen aufnahm“. Sein erstes Gedicht widmete er den aus den napoleonischen Feldzügen zurückkehrenden Soldaten. Jetzt wollte er Dichter werden. Er las Klopstock und Schiller, lernte mit 24 Jahren Werke Goethes kennen. Er las sie immer wieder. Goethe wurde Eckermanns Leitstern. Erst in dieser Zeit besuchte er ein Gymnasium. Gönner empfahlen ihn für ein „Brotstudium“ in Göttingen. Er bekam Studienbeihilfe. In Göttingen wirkten damals Lichtenberg, Voß, Bürger, Brentano, die hier studierten; ebenso die beiden Humboldts, Heine und Fallersleben. Er sollte Jura studieren, aber dies interessierte ihn überhaupt nicht. Er hatte nur die Kunst und Literatur im Sinn.
Nun begab er sich zu Fuß von Göttingen nach Dresden. Auf der Rückreise wollte er in Weimar unbedingt Goethe kennenlernen. Allerdings war Goethe abwesend. 1821 schickte er seine Gedichte an Goethe, versehen mit Geburtstagswünschen und mit der Bitte um einige aufmunternde Worte für einen Verleger. Eckermann erhielt Antwort, und dies war eine große Freude für ihn. Dies beflügelte ihn umso mehr, unbedingt Goethe zu treffen, um Schriftsteller zu werden und endlich Geld zu verdienen. Er schuf das Trauerspiel „Graf Eduard“. Er äußerte ebenso seine Gedanken zu Goethes „Beiträge zur Poesie“ und meinte hierzu: „Der Mensch ist nicht zum Wissen, sondern zur Tat berufen.“
Eckermann hoffte lange, einen Verleger zu finden. Daher hatte er auch sein Studium abgebrochen. In dieser Situation war er nicht in der Lage, seine Verlobte Johanna Bertram, das „Hannchen“, an den Traualtar zu führen. Er verließ Göttingen, wanderte etwa 150 Kilometer durch das Werratal nach Weimar. Am 10. Juni 1823 erlebte er seine Sternstunde, er lernte endlich Goethe persönlich kennen. Ihm, dem Hütejungen, öffnete sich die Tür zum Frauenplan, durch die große Gelehrte, Künstler, Fürsten und Könige gingen.
Goethe war damals fast 74 Jahre alt, Eckermann 31. Goethe musste rasch erkannt haben, dass ihm Eckermann sehr nützlich werden könnte. Er stellte ihn zur Probe. Als erstes musste Eckermann herausfinden, welche Rezensionen in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ von 1772/73 aus Goethes Federstammten. Sie waren allesamt anonym erschienen. Eckermann meisterte diese Aufgabe mit Bravour. Einige Tage später sollte er eine Inhaltsangabe über „Kunst und Alterum“ erstellen. Auch diese Aufgabe wurde erledigt und ebenso die dritte.
Nun schickte Goethe seinen Adlatus mit einem Empfehlungsschreiben nach Jena, er selber fuhr zur Kur in die böhmischen Bäder. „Er ist mit meiner Denkweise so vertraut …“ lobte Goethe, und dieses Lob war für Eckermann der Ritterschlag. „Er ist mein geprüfter Haus- und Seelenfreund.“ – „Wie eine Ameise schleppt er meine Gedichte zusammen“. – „Er weiß, mit großer Liebe allem etwas abzugewinnen“.
Berge von Manuskripten harrten Eckermanns Redaktion. Goethe bereitete eine Gesamtausgabe seiner Werke vor, alles musste gesammelt, redigiert und imprimiert werden. Wie Eckermann an seine Verlobte Johanna Bertram berichtete, wollte er alles tun, um sich vor der Welt auszuzeichnen. Dennoch blieb sein Wunsch, selbst Schriftsteller zu werden, unerfüllt. Und er fühlte sich nicht wohl in Weimar: „Wenn nicht Goethe und einige seiner Freunde (wie Riemer und Kanzler Müller) wären, würde ich nicht einen Tag in Weimar bleiben.“ – Meine Armut ist mein größtes Unglück.“
Eckermann hat den Dichter wohl 1000-mal besucht.
Viele Gespräche mit Goethe weckten in Eckermann den Wunsch, selbige in Druck zu geben. Er hoffte, dadurch in Europa bekannt zu werden. Goethe wusste von diesem Vorhaben und akzeptierte es. Doch Goethe wünschte keinesfalls eine baldige Publikation, erst nach seinem Lebensende sollten die Gespräche erscheinen. Er hat sie nicht heimlich aufgeschrieben; solange Goethe lebte, wusste er auch davon.
1828 gab es ein Gespräch, zu dem Eckermann nur vier Stichworte aufzeichnete; Genie, Napoleon, Preußen, Produktivität. Daraus entwickelten sich später 17 Druckseiten. Eckermanns Gespräche mit Goethe sind keine wörtlichen Protokolle, vieles hat er aus der Erinnerung aufgeschrieben. Dass er aber Ton und Inhalt richtig traf, betstätigten Goethes Enkel: „Ja, es ist der Apapa.“ Er hat genau Goethes Wortwahl und Ausdrucksweise verinnerlicht. An besagtem Gespräch hat er übrigens vier Wochen gearbeitet.
Eckermann genoss das Vertrauen Goethes. Selbiger führte ihn in die Naturwissenschaften, besonders in die Farbenlehre ein. Eckermann sollte sogar ein Kompendium über Goethes Farbenlehre verfassen. Dieses Vorhaben hat er aber nicht ausgeführt. Einmal kam es zum Streit. „Blaue Schatten im Schnee“ waren für Goethe lediglich eine optische Täuschung. Eckermann dagegen behauptete, dass dieses Blau durchaus nichts Subjektives sei, wie Goethe meinte, sondern etwas Objektives, der Widerschein des Himmels. Goethe billigte aber diesen Einwand nicht, ja, er wurde richtig böse. Er vertrug keinen Widerspruch, schon gar nicht in der Farbenlehre. Zwei Jahre später korrigierte sich Goethe allerdings.
Eckermann hatte großen Einfluss darauf, dass Goethe endlich den zweiten Teil vom „Faust“ beendete. Er hat sich immer wieder nach dieser oder jener Person (z. B. Helena) erkundigt, um auf diese Weise Goethe voranzutreiben. Beim 1. Teil war Schiller, beim 2. Eckermann der „Treiber“.
Beide waren regelrecht befreundet, Goethe sorgte dafür, dass Eckermann an der Jenaer Universität seinen Doktortitel bekam. Und es gibt ein weiteres Beispiel ihrer Freundschaft. Eckermann hatte in den Niederlanden das Bogenschießen erlernt und wusste Goethe davon zu begeistern. Da Eckermann aber zu arm war, um einen Bogen zu kaufen, schenkte ihm Goethe den Bogen eines Baschkiren aus seinem Bestand. So versuchten sie sich im Hausgarten am Frauenplan. Dabei schossen sie auch auf die Fensterlade zu Goethes Arbeitszimmer. Der Pfeil blieb drin stecken, man konnte ihn nicht aus dem Holz herausziehen. Goethe fand Spaß am Bogenschießen, nicht aber am Kegeln, dies sei etwas für Philister. Auch dieses Beispiel frd Bogenschießens zeigt, dass Eckermann nicht einfach Goethes Sekretär war, sie waren wahrhaftig Freunde.
Nach Goethes Tod arbeitete Eckermann gemeinsam mit Riemer und Kanzler Müller am Nachlass, der sich zu vierzig Bänden auswuchs. 1836 erschienen die „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, die Eckermann der Großherzogin Anna Pawlowna widmete, die ihn stark unterstützte, da er nach dem Tod seiner Frau in noch größerer finanzieller Not lebte. Goethe hatte ihm keinen Lohn gezahlt, wohl auch deshalb, da er ihn als seinen Freund betrachtete, jedoch nicht als Sekretär. Sekretär war John. Nun erhielt er 300 Taler lebenslange Pension, verbunden freilich mit der Auflage, in Weimar zu wohnen. Vom preußischen Köng erhielt Eckermann auf Vermittlung der Humboldts 360 Taler.
Sein bleibendes Verdienst sind die „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ Nietzsche meinte später: „Die Unterhaltungen Eckermanns und Goethes sind das beste Buch, das es gibt.“
Auf den Spuren Goethes in Italien
Unsere Reise „Auf den Spuren Goethe in Italien“ fand vom 9. bis 16. Oktober 2016 statt. Unser Bus startete am frühen Morgen in Erfurt, fuhr sodann nach Gera, nahm unterwegs weitere Goethefreunde auf, so dass wir insgesamt 31 Personen waren. Noch in Gera gab es die erste Überraschung: ein kleines Paket mit Essen und Getränken vom Reisebüro TRI TOURS, worüber sich alle freuten.
Wir durchfuhren Oberfranken, die Fränkische Schweiz, die Nürnberger Gegend, und es ging weiter gen München.
Während der gesamten Fahrt las uns unser Vereinsvorsitzender einzelne Kapitel aus Goethes „Italienischer Reise“ vor. Gegen 11.30 Uhr sahen wir bereits Türme und Stadion Münchens in der Ferne. Wir erblickten die Alpen, den Inn, der die Grenze zum Tiroler Land bildet. Eine Stunde später fuhren wir somit schon durch Österreich, um gegen 15 Uhr Italien zu erreichen. Herrlich, wunderschön die Bergwelt anzuschauen! Nahe Trient machten wir eine kurze Pause – es regnete. Weiterfahrt zum Gardasee. Unser erster größerer Halt war in Malcesine, um uns das Castello anzusehen – leider geschlossen, Sonntag! In diesem Ort wäre Goethe beinahe als Spion verhaftet worden, als er die Festung zeichnete.
In Torbole: Stopp für Fotos. Hier steht ein kleines Goethe-Denkmal. Auch dichtete Goethe am wunderschönen Gardasee: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n?“
Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter nach Vicenza. Bei der Stadtführung erfuhren wir, dass Goethe hier am 19. September 1786 weilte, das Olympische Theater, die Basilika besuchte und die berühmte Rotonda des italienischen Baumeisters Andrea Palladio betrachtete.
Am frühen Nachmittag kamen wir in Verona an. Hier hat sich Goethe sehr für die antike Geschichte interessiert; er besuchte das Amphitheater, Paläste, die Markthallen, besichtigte Gemälde und Gärten. Auch uns zeigte die Stadt an der Etsch viele Sehenswürdigkeiten. Stunden später fuhren wir in Richtung Florenz weiter. Firenze (so der italienische Name) wurde 59 vor Christus gegründet, sie liegt am Arno-Fluss und ist eine typische Renaissancestadt in der Toskana.Von 1861 bis 1871 war sie sogar Hauptstadt des um seine Unabhängigkeit kämpfenden Italien. Hier lebten und wirkten in der Zeit der Renaissance die großen Italiener Michelangelo, Galilei und Dante. Die Florentiner Architektur verbreitete sich über ganz Europa und wurde immer wieder nachgeahmt. Leider hat Goethe dieser Stadt nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, ihn interessierte vor allem die römische Antike.
Weiterfahrt nach Siena mit Stadtführung.Wir erfuhren vom Bau des Doms ab 1226 und der Kapelle der heiligen Nonne Katharina (heiliggesprochen 1461). 1472 wurde hier die erste Bank Europas gegründet, und wir hörten vom ältesten Krankenhaus Europas (vor 1093). Wir besuchten den Dom, bestaunten zahlreiche Mosaiken aus Marmor und die berühmten steinernen Einlegearbeiten des Fußbodens. Auch die Plaza di campo bewunderten wir, die in drei verschiedenen Höhen ausgeführt worden ist. So etwas hat noch keiner von uns gesehen. Im Juli und August jeden Jahres finden hier spektakuläre Pferderennen ohne Sattel statt – gigantisch mit bis zu 60 000 Zuschauern.
Nach vier Stunden Fahrt kamen wir in Rom an. An nächsten Tag starteten wir zu einer sechsstündigen Stadtführung mit Petersplatz, Petersdom, Vatikanischem Museum, Sixtinischer Kapelle, Kolosseum und Palatin. Alles war sehr beeindruckend, insbesondere die fantastischen Gemälde großer italienischer Meister wurden bestaunt.
Am darauf folgenden Tag waren wir in der Casa di Goethe zu Gast, wo einst der Dichter in Wohngemeinschaft lebte. Während der Führung hörten und sahen wir Dinge und Begebenheiten, die uns durch die Literaturgeschichte schon gut bekannt waren – Aber jetzt, an diesem Ort zu weilen, war ein besonderes Gefühl, ein wundervolles Erlebnis!
Am Freitag fuhren wir nach Perugia und Passignano, unternahmen einen Schiffsausflug auf dem Trasimenischen See zur Isola Maggiore. Dann ging es weiter nach Piacenza. Während der Stadtführung besuchten wir die 1330 erbaute Zitadelle, die auch Goethes Interesse geweckt hatte. Hier wohnten einst die Herrscher der Stadt, heute ist es ein Museum, dieser Palazzo Farnese. Auch den Dom besichtigten wir – Baubeginn 1021! Uralte Säulen mit Fresken, die jeweils die Zünfte darstellten, Marmor überall und herrliche Deckenmalereien haben wir gesehen. Auch zwei Reiterstandbilder der Familie Farnese konnten wir bewundern, es sollen die ersten ihrer Art in Italien gewesen sein.
Am Nachmittag fuhren wir weiter nach Mailand, wo sich Goethe vom 22. bis 28. Mai 1787 aufhielt. Herr Kemter las nun auch Kapitel zu Orten aus der „Italienischen Reise“ vor, die wir aus Zeitgründen nicht besuchen konnten, beispielsweise Goethes und Tischbeins Erlebnisse in Neapel. Goethe beobachtete die Eruptionen des Vesuv und bestig den Vulkan bis an den Schlund. Regelrecht eingeäschert erreichte er mit seinem Führer den wartenden Tischbein. Es war zweifellos ein gefährliches Abenteuer.
Nachdem sich unser Mailänder Stadtführer vorgestellt hatte, begann die Stadtrundfahrt mit zig Sehenswürdigkeiten. Zunächst führte uns der Weg zum Dom mit seiner im Barockstil prachtvoll gestalteten Fassade. Wir sahen Häuser auch im modernen Stil erbaut und natürlich die Scala. Mailand war für uns die letzte Station unserer fantastischen Reise durch Italien.
Renate Dalgas
Meinungen von Reiseteilnehmern
Reinhard Bierbaum: Ja, oft saß uns die Zeit im Nacken. Dennoch: Was die Teilnehmer in nur acht Tagen „geschafft“ haben, kann sich im Sinne des Wortes sehen und hören lassen.
Und das Erlebte wirkt weiter.
Um es mit Goethe zu sagen: „Das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil.“
Petra Gutheil: Lieber Bernd, liebe Angelika, ich möchte mich auf diesem Wege noch mal ganz herzlich für Eure Bemühungen bedanken, die die Fahrt nach Italien zu einem so intensiven, schönen Erlebnis gemacht haben. Ich kann nur ahnen, wieviel Zeit, Mühen und Absprachen die Organisation im voraus benötigt hat. Ich habe die Fahrt auch als ein schönes Gruppenerlebnis empfunden. Es war spannend, die Geraer Teilnehmer kennen zu lernen, die uns Erfurter freundlich aufgenommen haben. Bei aller Anstrengung möchte ich dieses Erlebnis nicht missen. Das Vorlesen von Goethes Italienreise, begleitend im Bus, fand ich sehr anregend, spannend. Nochmals herzlichen Dank für dieses schöne Erlebnis.
Otti Planerer: Der Alltag hat uns wieder – aber die schönen Erinnerungen bleiben. Ich möchte mich noch einmal bei Euch bedanken für die Organisation und die viele Arbeit, die Ihr durch die Reise hattet. Es war sehr schön!
Gabriele Schwäbe: Ich kam erst 2009 durch eine gute Freundin zur Goethegesellschaft. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, hier gut aufgehoben zu sein. Ich lernte viel Neues über den Herrn Geheimrat und andere Zeitgenossen und Mitstreiter zu erfahren. Ich habe jeden Vortrag mit viel Interesse verfolgt. Auch die zahlreichen Ausfahrten, ob kurz oder lang, waren immer ein tolles Erlebnis. Bernd Kemter und sein Vorstand haben viel gegeben, um zum Beispiel die Italien-Reise auf Goethes Spuren vorzubereiten und durchzuführen.Es wäre schön, wenn sich noch mehr Geraer Goethefreunde für unsere Gesellschaft interessierten.Ich wünsche uns noch viele interessante Vorträge und Ausflüge auf den Spuren Goethes.
Marie Adler: inzwischen Ist der Koffer ausgepackt, der häusliche Alltag fast wieder eingekehrt. Damit der Dank für eure Mühe nicht in mir steckenbleibt, muß ich euch diese E-Mail schreiben. Vielen, vielen Dank. Es war eine sehr schöne und vor allem sehr informative Reise.
Ausflug nach Ilmenau
Am Sonnabend, 10. September 2016, führten wir, Erfurter und Geraer Goetheaner sowie Kulmbacher Literaturfreunde, unseren Ausflug nach Ilmenau durch. Am Anfang erlebten wir eine Führung im GoetheStadtMuseum. Es handelte sich um das frühere Amtshaus, erbaut vom Barockbaumeister Gottfried Heinrich Krohne 1756. Goethe bewohnte bei seinen Aufenthalten das südöstliche Eckzimmer. Heute befindet sich in der ersten Etage das GoetheStadtMuseum. Dort entdeckten wir einen alten Bekannten wieder: Friedrich Kraft, der aus Gera stammte und von Goethe auf rührende Weise unterstützt wurde. Durch Goethes Vermittlung erhielt Kraft (Krafft) auch eine Stelle im Ilmenauer Bergbau.
Interessant waren für uns auch die Exponate zum Bergbau sowie zur Porzellan- und Glasindustrie. Vielfältige technische Innovationen kommen aus Ilmenau: von der Elektronenstrahlröhre bis zum MP3-Player.
Sodann besichtigten wir das Jagdhaus Museum Gabelbach, das in seiner spätbarocken Form 1783 auf Veranlassung von Herzog Carl August errichtet wurde. Nach dessem Tod wurde das Haus kaum noch für Jagdaufenthalte genutzt. Einen guten Eindruck von der ehemaligen Einrichtung vermitteln der repräsentative Festsaal und die Goethe-Wohnung. In den Jahren 2012 und 2015 wurden die beiden Dauerausstellungen „Der Kickelhahn – Goethes Wald im Wandel“ und „Goethe, die Natur und seine Ilmenauer Weggefährten“ eingerichtet.
So konnten wir uns mit dem Wald und seiner nachhaltigen Nutzung im heutigen Revier bekannt machen. Tier- und Pflanzenwelt haben sich enorm verändert. So gab es hier früher zum Beispiel den Sperlingskauz, den Baummarder und den Namensgeber des Kickelhahns, den Auerhahn. Vor 250 Jahren setzte ein wahrer Raubbau an Holz ein, wegen der Porzellan- und Glasindustrie. Holz veschlangen ebenso Bergbau, Köhlerei und Harzgewinnung. Daher verfügte die Großherzogin, dass jeder Bürger jährlich Baumpflanzungen durchführen musste, eine sehr weitsichtige Entscheidung. Jagdmethoden und -waffen sowie ein Modell der Jagdanlage auf dem Kickelhahn vervollständigten das Bild. Beleuchtet wird auch Goethes Verhältnis zu seinen Weimarer Freunden Knebel, Herder und Jean Paul, die sich des Öfteren in Ilmenau trafen… Aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Interessen stand Goethe im fachlichen Austausch mit verschiedenen Ilmenauer Persönlichkeiten wie Berginspektor Johann Christian Mahr, Bergrat Carl Wilhelm Voigt und Bergwerksbesitzer Johann Friedrich Wenzel. (Aus Broschüre Jagdhaus Museum Gabelbach).
Goethe weilte mit dem Herzog zu geselligen Jagdausflügen oft hier. Nach dem Museumsbesuch stärkten wir uns im Jagdhotel Gabelbach bei Kaffee und Kuchen.
Natürlich besuchten wir auch das Goethehäuschen auf dem Kickelhahn. Bekanntlich entstand hier sein berühmtes Gedicht „Wandrers Nachtlied“.
Die Kulmbacher Literaturfreunde erfreuten uns auf dem Kickelhan, von dem man wundeschöne Ausblicke genießen konnte, mit einigen Proben ihres literarischen Schaffens.
Danach fuhren wir nach Ilmenau zurück. Dort erwartete uns eine künstlerische Darbietung „Goethe und die Frauen“ sowie ein festliches Büfett. Dabei erwies sich das Personal im sehr idyllisch gelegenen Haus am Großen See als sehr gastfreundlich.
So verließen wir Ilmenau mit den angenehmsten Eindrücken. Im kommenden Jahr stehen das Museum Goethehaus Stützerbach und der Dichter-Heinse-Ort Langewiesen inclusive das dortige Schaubergwerk auf dem Programm.
Anakreontik und anakreontische Aufklärung
Vortrag von Prof. Hans-Joachim Kertscher, Halle, am 6. September 2016
Das 18. Jahrhundert wird oft in der Forschung als ein Zeitraum charakterisiert, in dem sich neue Formen einer Geselligkeit herausbilden, die mit dem Attribut „bürgerlich“ näher bezeichnet und damit dem feudalen Geselligkeitsideal diametral gegenübergestellt werden. Gerade Halle bot sich hierfür an, als eine Stadt „vieler feiner und geschickter Köpfe und gelehrter Leute“ (Hieronymus Megiser). Sie ist geradezu prädestiniert für die Gründung einer Universität.
Nach der 1694 erfolgten Gründung der Fridericiana ist davon nicht mehr viel zu spüren. Der nach dem Tod Luthers (1546) einsetzende Streit um die Adiaphora (Mitteldinge) wie Tanzen, Spaziergang, Theater und andere Vergnügungen, die in der Bibel weder als gut noch böse apostrophiert erscheinen, sollte nun entschieden werden. Der Streit endete zunächst ergebnislos. Erst angesichts der rohen Sitten infolge des Dreißigjährigen Krieges mit seinen kulturellen Ausschweifungen, ihren frivolen Tänzen, barbarischen Trinkgelagen und banalen Komödien fühlten sich hallesche Pietisten bemüßigt, den Streit wieder aufzunehmen und bis zum Ende auszufechten – dies, indem sie die Adiaphora als böse kennzeichneten. Selbst die laute fröhliche Unterhaltung, schöne Blüten und das Singen der Vögel galten als bedenklich.
Die Kollegien an der Universität erhielten folglich den Charakter von Erbauungsstunden, die Erweckung wurde zur Hauptsache, das emsige, geduldige Arbeiten in menschlicher Wissenschaft erschien fast überflüssig. Alle Gläubigen jubelten über die wundervollen Offenbarungen göttlicher Gnade, die Gegner klagten über zunehmende Melancholie, über Geistesstörungen und Verrücktheiten der schlimmsten Art.
Es ist für Halle aus den genannten Gründen typisch, dass sich gesellige Runden zunächst nur zur Pflege einer gelehrten Geselligkeit zusammenfanden. Um 1733 hatte sich in Halle u. a. Eine von dem Theologiestudenten Samuel Gotthold Lange gegründete Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit etabliert. Mit der Aufnahme von Immanuel Jacob Pyra (1715 – 1744) wurde das Unternehmen etwa um 1735 stark belebt. Der Erste Hallesche Dichterkreis, in dessen Tradition beispielsweise Klopstock und Hölderlin einzubetten wären, hatte sich konstituiert. Ein Lehrgedicht Pyras, das dieser seinem Freund und Kommilitonen Lange zum Amtsantritt als Pastor in Laublingen zugeignet hatte, begründet die Poetologie, der sich die beiden Dichterfreunde verpflichtet fühlten. Beide präsentieren ein neues Geselligkeits- und Freúndschaftsideal. Man beschäftigt sich mit Übersetzungen der lateinischen Oden von Horaz (65 – 8 v.Chr.), und es entstehen die deutlich von den Römern beeinflussten Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder. In dieser Sammlung finden die Autoren, deren erste Gedichte noch sehr stark von einer pietistischen Innerlichkeit geprägt waren, auch neue Töne lyrischen Schreibens. Sie feiern die Freundschaft, empfinden Naturerlebnisse lyrisch nach und stellen damit der dominierenden rationalistischen Dichtung neue Akzente entgegen.
Zu den Dichtern des Zweiten Halleschen Dichterkreise gehörte Johann Peter Uz (1720 – 1796). Er wie die anderen jungen Dichter stellten dem pietistischen Erweckungserlebnis die scherzhafte, eben anakreonistische Erweckung gegenüber. Neben Uz gehörten zu dem Dichterkreis der Jurastudetn Johann Wilhelm Kudwig Gleim (1720 – 1803), der später als deutscher Anakreon gefeiert wurde, der Theologiestudent Johann Nikolaus Götz (1721 – 1781) und der Fecht- und Sprachlehrer Paul Jacob Rudnick (1719 – 1741).
Gleim: Zu Gedichten im Stile Anakreons, versuchte Gleim, die Ballade im deutschen Sprachraum sesshaft zu machen. Spektakuläres leistete der unermüdlich am Plan einer Deutschen Literaurgesellschaft schmiedende Organisator Gleim. Von Halberstadt aus betrieb er ein weit verzweigtes Korrespondenznetz, in das über 500 Briefpartner einbezogen waren. Sein „Freundschaftstempel“ mit nahezu 150 Porträts bedeutender Zeitgenossen, seine Bibliothek mit über 11000 Bäden, die Kleinodien der deutschen Literaturgeschichte birgt, sowie seine Handschriftensammlung stellen wesentliche Quellen für Forschungen zum 18. Jahrhundert dar. Auch als Mäzen für junge Dichter ist Gleim aus der deutschen Kulturgeschichte nich wegzudenken. Anna Louisa Karsch, Johann Georg Jacobi, Gottfried August Bürger, Wilhelm Heinse, Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Seume und Jean Paul gehörten zu seinen Schützlingen.
Der Begriff „Anakreontik“ geht auf das Vorbild Anakreons aus Teos zurück, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Chr. lebte. Er ist in die Literaturgeschichte fälschlicherweise als Dichter des Weins, der Liebe und des Gesangs eingegangen. Von Anakreon selbst sind uns nur drei vollständige Gedichte und etwa 150 Fragmente überliefert. Sie widmen sich unterschiedlichen Themen, so auch dem Wein und der Liebe. Die Bezeichnung Anakreontik aber geht auf 60 Gedichte von Anakreon-Epigonen aus späthellenistischer Zeit zurück. Diese, auch Anakreonteen genannten Texte wurden 1554 von Henri Estiennes publiziert. „Die strophenlose Odenform, der reimlose anakreontische Kurzvers, die Neigung zu anaphorischer Reimung, die liebevolle, oft allegorisch-verblümte Darstellung kleiner poetischer Gegenstände und die ihnen angeglichene, leichte, jedes bedeutungsschwere Wort scheuende Sprache“ sind kennzeichnend für die von Estienne publizierten anakreontischen Strophen.
Freilich wäre es falsch, den Sängern des Weins und der Liebe, wie dies zeitgenössische Kritiker taten, Alkoholismus und Werbung für häufig wechselnden Geschlechtsverkehr, nachzusagen. Es handelte sich nicht nämlich nicht um Erlebnisgedichte, die Feier fand im Gedicht, nicht in der Realität, statt.
So formulierte Friedrich von Hagdedorn in seinem Gedicht „An die heutigen Encratiten“:
Zu altdeutsch trinken, taumelnd küssen
Ist höchstens nur der Wenden Lust:
Wie Kluge zu geniessen wissen
Verbleibt dem Pöbel unbewusst,
Dem Pöbel, der in Gift verkehret
Was unserm Leben Stärkung bringt,
Und der die Becher wirklich leeret,
Wovon der Dichter doch nur singt.“
Auch Johann Peter Uz wollte dieser Art des realen Genusses den biederen Bürgern überlassen:
Trinkt euern Wein in Ruh
und schlaft bei euern Weibern.
So nutzt ihr doch dem Vaterland
Und wenigstens mit euern Leibern.“
Die erste größere Publikation aus der Mitte der halleschen Anakreontiker war die 1746 publizierte Übersetzung der Anakreonteen unter dem Titel „Die Oden Anakreons in reimlosen Versen“. Dies war ein Gemneinschaftswerk von Götz und Uz. Die erste Publikation mit eigenen anakreontischen Texten stammt von Gleim. Sie kam 1744 anonym unter dem Titel „Versuch in Scherzhaften Liedern“ heraus und fand rasch Verbreitung. Somit wurde Gleim als „deutscher Anakreon“ gefeiert. Johann Nikolaus Götz folgte Gleim 1745 mit dem „Versuch eines Wormsers in Gedichten“, ebenfalls anonym erschienen. Uz schließlich publizierte 1749 seine „Lyrischen Gedichte“. Sie wurden von Gleim herausgegeben. Hier findet sich die Ode „Die lyrische Muse“ mit den folgenden Versen:
„Denn nur von Lust erklingt mein Saitenspiel,
Und nicht von Leichen vollem Sande
Und kriegrischem Gewühl
Und vom gekrönten Sieg im blutigen Gewande.
Uz‘ Muse gibt sich – im Gegensatz zu der seines Freundes Gleim – ebenfals betont unkriegerisch. „Krieg und Helden sind kein Stoff für meine Lieder“, schreibt er 1757 nach Halberstadt. Selbst in seiner Ode „Das bedrängte Deutschland“ lautet die letzte Strophe:
„Doch mein Gesang wagt allzuviel!
O Muse! Fleuch zu diesen Zeiten
Alkäeus kriegrich Saitenspiel,
Das die Tyrannen schalt
und scherz auf sanften Saiten.“
Reduziert man Aufklärung auf Begriffe wie Selbstdenken und Vernunftprimat, wird man die Anakreontik wohl schwerklich zu ihr rechnen können. Begreift man jedoch Aufklärung als eine Bewegung, die auf Geselligkeit, auf Emanzipation des Gefühls, auf sinnlichen Genuss, auf Kultur und Zivilisation im weitesten Sinne aus war, also auch auf Schönheit und deren Kraft insistierte, dann war Anakreontik Aufklärung par excellence.
In der Residenz der Babenberger
Ausflug am 11. Juni 2016 nach Bamberg
Nachdem wir bereits im vorigen Jahr viele Sehenswürdigkeiten Bambergs besichtigt hatten und ein allgemeiner Wunsch damals laut wurde, noch mehr zu sehen, fuhren wir in die ehemalige Residenz der Babenberger – diesmal mit den Erfurter Goethefreunden.
Uns erwarteten wiederum einige Mitglieder des befreundeten Kulmbacher Literaturvereins. Unter bewährter Führung von Klaus Köstner besichtigten wir viele bemerkenswerte Häuser der Altstadt – UNESCO-Kulturerbe. Wer wollte, besuchte ebenso das Diözesan-Museum. Leider war der Dom wegen einiger Hochzeiten stundenlang geschlossen. Wir verschoben daher die Abfahrtszeit unseres Busses, so dass einige interessierte Reiseteilnehmer doch noch diesen imposanten Sakralbau mit dem berühmten Bamberger Reiter besichtigen konnten.
Ausnehmend gut gefiel uns der lauschige Rosengarten. In einer urigen Kneipe stärkten wir uns, bevor wir die Heimfahrt antraten.
Es war ein sehr entspannter, kurzweiliger Ausflug, der im Bus mit Liedern beendet wurde. Allerdings waren die meisten doch geschafft von dem langen Tag, der uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Unser Klaus, Ehrenmitglied der Geraer Gesellschaft, sandte Kemters noch folgendes „Telegramm“ nach:
*Guten Morgen, Ihr beiden Lieben!*
*Kamt auch Ihr gut heim? Es war für uns eine besondere Freude, Euch wieder
ein Stück unserer geliebten Stadt Bamberg zeigen zu dürfen. Ihr wart ein
reizendes, hoch interessiertes Publikum, das man sich nicht besser wünschen
kann! Selbst den obligatorischen Regenguss habt hoffentlich auch Ihr gut
überstanden! Und die Begegnung mit Euch ist für uns jedes Mal sehr
bewegend, da wir Euch in unser Herz geschlossen haben!*
*Deshalb freuen wir uns sehr auf das Wochenende in Waldeck und hoffen, es
kommt nichts dazwischen!*
Die Liebe ist ein außerirdisches Verhältnis – Berliner Salons Vortrag
Vortrag von Otti Planerer, Gera, am 7. Juni 2016
Die bislang eingeengte Form der Geselligkeit änderte sich allmählich nach dem Siebenjährigen Krieg. Schon die Eltern der Humboldts luden wie die Familie Mendelssohn zu geselligen Abenden ein – ohne Beachtung der Standesschranken. Es wuchs das bürgerliche Selbstwertgefühl. Die Aufklärung beförderte den Adel des Geistes, Frauen beschritten allmählich den Weg der Emanzipation. So standen denn auch Damen – die Salonnieren – im Mttelpunkt der Zusammenkünfte. Die Berliner Salons, Henriette Hertz, Rahel Levi (Varnhagen von Ense), Nicolai, erwarben rasch eine besondere Bedeutung, sie wurden Vorbilder anderenorts.
So waren bei der Hertz Tieck, die Schlegel, Jean Paul, Jean Paul, Schadow, Schiller und Schleiermacher zu Gast, ebenso Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der 1806 in der Schlacht bei Saalfeld fiel.
Frauen zählten zu den Stammgästen, sie waren gleichberechtigte Gesprächspartnerinnen, konnten also öffentlich debattieren. Dies war neu. Die Damen traten auch als Musikerinnen, Autorinnen, Malerinnen und Übersetzerinnen auf.
Gepflegt wurde die Kunst des Gesprächs. Diskutiert wurden Kunst, Literatur, Politik, Wissenschaft, und auch der Stadtklatsch kam zu seinem Recht. Man las auch gemeinsam aus neuesten literarischen Werken. Neben all dem bildete sich ebenso eine reiche Briefkultur heraus.
Fanny Lewald, eine Autorin jener Zeit, deren Werke heutzutage vergessen sind, schrieb: Nicht der Geist ist es, der unsern Gesellschaften fehlt, sondern die Liebe und die wahre Teilnahme. Unsere Gesellschaft ist mehr oder weniger egoistischer geworden. Die Menschen wollen empfangen und nicht leisten, wollen sich unterhalten lassen und nicht unterhalten, wollen für den Aufwand an Geld und Zeit, den die Gesellschaft sie kostet, etwas haben, was Parade macht. (wie aktuell!)
Und weiter:
Die Menschen sind Sklaven der Autorität geworden und haben es darüber verlernt, selbst zu denken, selbst zu suchen und das Geistige zu entdecken, wo es sich zu regen beginnt; ja, es auch nur da zu erkennen, wo es sich bereits entfaltet hat.
Hertz galt als anmutig, Levi eher als „männlich“, jedenfalls galt sie als eine „tapfere Frau“. So weigerte sich Levi, für den Bau des Neuen Museums, ihr Wohnhaus preiszugeben, für das man ihr die günstigsten Konditionen anbot. Erst nach ihrem Tod sollten sie – billig – alles haben. Immerhin trat sie schon einen kleinen Teil ihres Grundstücks ab. Der König akzeptierte dies. Die Levi kannte alle bedeutenden Männer ihrer Zeit. In ihrem Garten verlobten sich übrigens Bettina Brentano und Achim von Arnim. Donnerstags empfing Rahel Varnhagen van Ense (Levi) ihre Gäste zum Diner, samstags zum Tee, den sie selber zubereitete und reichte. Die Levi betrieb auch Armenpflege.
In einem Brief an Baron Friedrich de la Motte Fouque (Verfasser von Ritterromanen und -märchen) äußerte sie, Liebe sei ihre tiefste Überzeugung, sei ein außerirdisches Verhältnis. Sie verscheuche all das Graue, Erstickende, sei die helle Sonne. Ein besonderes liebevolles Verhältnis entwickelte sich zu Prinz Louis Ferdinand von Preußen. Der lästerte über Goethe, wie schlecht doch dessen „Egmont“ sei. Eine „miserable Liebschaft“ verkörpere doch solches „Klärchen“. Levi antwortete darauf nicht. Es trat ein Sinneswandel ein, als er Goethe traf. Er legte sich auf dessen Bett, Goethe stand davor, beim Punsch sei er aufgetaut und habe gesehen, was Goethe doch für ein großartiger Mann sei. Jetzt erst sei er es wert, Goethe zu lesen, schrieb Levi an den Prinzen.
Auch Bettina (sie schrieb lieber von sich: Bettine) führte ein offenes Haus. Sie hatte vielseitige Interessen. Seit ihrer Kindheit zeichnete sie ein satirisches Mutwillen aus. Sie strebte die Vereinigung der Königtums mit der Demokratie an.
Berühmt wurde ihr Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“. Es war für die „Guten“ und nicht für die „Bösen“ gedacht. Kanzler Müller riet ihr, dies und jenes wegzulassen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Doch sie weigerte sich: „Lassen Sie alles stehen, wie es ist, denn es hat seinen Wert.“
Jeder Einzelne gestaltet die Gesellschaft und trägt Mitschuld an ihren Übelständen, meinte sie.
Bettina führte den Salon der beiden Rahel (Levi) und Karl August Varnhagen von Ense nach deren Tod weiter.
Die Utopie von der vernünftigen Lust – erotische Literatur des 18. Jahrhunderts
Vortrag von Prof. Uwe Hentschel, Berlin/Chemnitz
Prof. Hentschel leitete seinen Vortrag mit einem amüsanten Zitat aus einem Brief Wielands an Gleim ein. Wieland war von 1769 bis 1772 Professor für Philosophie; nach Erfurt wegen seines guten Namens berufen. In dem Brief vom 27. April 1771 heißt es: „… hier in Erfurt gehe ich vollends nach und nach zu Grunde. Niemals, niemals, mein Freund, haben die Grazien dieses freudeleere Chaos von alten Steinhauffen, wincklichten Gassen, verfallenen Kirchen, grossen Genußgärten und kleinen Leimhäusern, welches die Hauptstadt des edlen Thüringerlandes vorstellt, angeblickt; daß sie jemals in der ungeheuren Ebne [ … ] getanzt haben sollten, daran ist gar nicht zu dencken. Ich wüßte um ganz Erfurt keine Gegend, die sich zu einem Rundtanz schickte, es müßte denn ein Hexentanz seyn. Doch kein Wort mehr von diesem verhaßten Neste.“
Sodann ging der Referent auf die erotische Literatur des 18. Jahrhunderts ein, die von Wieland mitgeprägt wurde. Die Ursprünge des Widerspruchsgefüges zwischen öffentlicher Moral und individuellem sexuellem Begehren liegen dort, wo das bürgerliche Gemeinwesen beginnt, Machtstrukturen, Aufsichtsinstanzen zu etablieren, wo in der Aufklärung des 18. Jahrhundertes um diese Frage gerungen wurde. Damit wurde das Sexualleben Objekt der Betrachtung.
Auf der Herbstmesse 1771 in Leipzig erschienen ganz freisinnige, anonyme Gedichte im Geschmack des französischen Dichters Grecourt. Ihr Autor war Johann Georg Scheffner (1736 – 1820). Diese Gedichte sind noch der sexuell zurückhaltenden Anakreontik verpflichtet. Doch wo es sich um Sexualität handelt, geht Scheffner über die Anakreontik hinaus. Die fünf Elemente Ovids werden bedichtet: Man spricht sich an, küsst sich, lässt sich berühren, am Ende Beischlaf und Koitus. Scheffner geht alle fünf Elemente hinab bis „ins Tal der Lust“. Wieland urteilt hart: „Ekelhafte Obszönitäten“. „Das ist unmöglich. Dagegen müssen wir etwas tun.“
Nach einem Monat erhielt Wieland einen Brief vom Verfasser. Der Empfänger erfährt aber den wahren Namen des Schreibers nicht, wird dagegen mit einem „Golz“ konfrontiert. Es entwickelt sich ein sporadischer Briefwechsel. Scheffner zeigte sich enttäuscht von Wieland. Er spielt auf frühe erotische Texte Wielands an, beispielsweise auf dessen „Komische Erzählungen“. Weshalb ist Wieland daher so gereizt? Wieland ist Aufklärer, vertritt demzufolge das Ideal eines kontrollierten Sinnesgenusses. Er bestreitet frivole Lust. Scheffner muss dies anerkennen. Er kann auf hehre Motive keinen Anspruch erheben.
Scheffner schilderte auch eigene erotische Erlebnisse mit der Frau seines Vorgesetzten. „Poetisieren“ betrachtete er stets als „eine Art von geistigem Beischlaf“. Er propagierte eine hedonistische Lebensfreude, die dem Natürlichen folgt. Diesem Anspruch sah er beispielsweise in seinen „Gedichten nach dem Leben“ verpflichtet: „Liebe war nie eine Freveltat“.
Dennoch hagelte es Kritik. So genau, so realistisch das ganz Persönlich-Intime zu beschreiben, erregte Abscheu. Wieland, zum Beispiel, trat für eine verstandesmäßige Kontrolle über die Leidenschaften ein. Dagegen sei Scheffner zu weit gegangen, das sexuelle Begehren sei doch ein rein animalischer Trieb. Sexualität in der Ehe und zum Zwecke der Fortpflanzung wurde in der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert; und diese Haltung stellte das Bürgertum dem wollüstigen Treiben des Adels gegenüber. Doch auch das bürgerliche bleibt ein beschränktes Menschenbild. Vergleiche: „Triumph der Tugen“ aus Goethes Anette-Sammlung.
Auch Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 – 1792) hatte starke Hemmungen gegenüber dem anderen Geschlecht. Davon zeugt sein Gedicht „So finster der Tag“, in dem er den „verlorenen Augenblick“ beweint und verzweifelt-sehnsuchtsvoll dessen „Wiederkehr“ beschwört.
Die ungebändigte sinnliche Leidenschaft wurde als Gefahr angesehen, als Verstoß gegen das Religiöse und gegen die Pflichten gegenüber der Allgemeinheit. An diesem Verdrängungsmechanismus kann der Mensch krank werden (Freud). Man habe jungen Menschen krank gemacht, auch dies habe die Aufklärung mit sich gebracht, man habe uns der Natur entrückt.
Der Druck öffentlicher Instanzen soll dieses Begehren auf die Bahnen nützlicher gesellschaftlicher Bahnen lenken. Doch unbeeindruckt von Sanktionen wurden fleißig und heimlich Erotika gelesen.
Scheffner war durchaus bewusst, dass er mit seinen Werken der öffentlichen Meinung widersprach. Die Sexualität erschien als etwas Ekelhaftes: „Wir sollen nur das Gute und Schöne aufsuchen.“
Viele Auflagen und Ablehnung zeigen diesen Widerspruch an.
Daher unternahm Scheffner den Versuch, seine Gedichte zu rechtfertigen. Seine Werke seien Gedichte nach dem Leben, wie Goethes „Hermann und Dorothea“, wie entsprechende Szenen aus Schillers „Wallenstein“. Man muss es dem Autor verzeihen, wenn seine Gedichte manchen Lesern missfallen. Der subjektive Selbstausdruck ist Legitimation. Das Versteckspiel geht weiter. Scheffner lässt nicht drucken, sondern abschreiben und Kopien verteilen. In seiner Autobiographie bezeichnet er sich sogar als „moralischer Bürger“. Er spricht sich für das Bedecken „des Halses von hinten und vorn“ aus, warnt vor nachteiliger Neugier der Kinder und plädiert für erhöhte Schamhaftigkeit. So lebt der Bürger seine Sexualität auf zweifache Weise aus: Öffentlich lehnt er es ab, insgeheim ist er ihr verfallen. Dies führt zu einem neurotischen Zustand.