Vortrag von Dr. Arnold Pistiak, Potsdam, am 5. September 2017
Haben Schuberts Schillerlieder feste Plätze in Liederabenden und Medien? Doch wohl kaum. Gewiss, Schubert vertonte deutlich weniger Texte von Goethe als von Schiller, aber es waren gerade Gedichte von Schiller, für die sich schon der 14-/15-jährige Schubert begeisterte. Dies hielt an.
Es gibt auch heutzutage keinen Grund, Schuberts Schillerlieder stillschweigend hintanzustellen. Sie sind vielmehr auch in unserer Zeit interessant, und es gibt zahlriche Möglichkeiten, ihre beeindruckende Kraft der Erfidnung und ihre poetisch-musikalische Originalität zu konstatieren, zu erleben und genießend aufzunehmen. Zwei Schillerlieder sind in diesem Sinne ausgewählt: „Dithyrambe“ (1817), „Die Götter Griechenlands“ (1819) und „Der Alpenjäger (vermutlich 1826).
Schillers dreistrophiges Gedicht „Dithyrambe“ erschien 1796 in dem „Almanach auf das Jahr 1797“, hieß dort aber „Der Besuch“; erst später gab der Dichter ihm die endgültige Überschrift.
In dem kurzen balladesken Gedicht wechseln die Sprecher mehrfach. Zunächst erklärt ein selbstbewusster Sprecher einer ihm vertrauten Menschengruppe, dass er fähig sei, die antiken Götter, auf die es ihm ankommt – die Götter des Weines, der Liebe, der Schönheit: Bacchus, Amor, Phöbus – gemeinsam zu beschwören: „Nimmer, das glaubt mir/Erscheinen die Götter allein/Nimmer allein.“ Und tatsächlich: Sie kommen alle, erfahren wir, und sie füllen die „irdische Halle“ mit ihrer Anwesenheit. Die Freude darüber drückt unser Sprecher, ein Dichter übrigens, geradezu jubelnd-ekstatisch in der zweiten Strophe aus und verbindet sie mit einer weitreichenden Bitte: „Leihet mir euer unsterbliches Leben/Götter!“ Und die Götter reagieren. In der folgenden, letzten Strophe sprechen sie zunächst selbst – wenden sich aber nicht direkt an unseren Dichter, sondern an Hebe, ihre Mundschenkin. Dann wechselt der Sprecher erneut – ein Außenstehender, ein kommentierender Beobachter spricht nun das balladeske Schlussurteil:
Reich ihm die Schale!
Schenke dem Dichter,
Hebe, nur ein.
Netz ihm die Augen mit himmlischem Taue
Dass er den Styx, den verhassten, nicht schaue.
Einer der Unser sich dünke zu sein.
Sie rauschet, sie perlet,
Die himmlische Quelle,
Der Busen wird ruhig.
Das Auge wird helle.
Allerdings wendet sich der Widerspruch, der zwischen der Bitte des Dichters um Unsterblichkeit und der Unmöglichkeit ihrer Erfüllung besteht, gegen den Dichter selbst. Der diesen altersweise-heiteren Text schrieb, war natürlich nicht der „Dichter“, sondern Schiller selbst, der Realist, der gelernt hatte, die eigenen, allzu hoch fliegenden Träume kritisch zu sehen oder gar zu verlachen. Der „Styx“ ist eben doch allgegenwärtig. Er muss in bitterem Wissen akzeptiert werden.
„Der Besuch/Dithyrambe“ ist mehrfach vertont worden. Scbubert hat den Text zweimal komponiert. Erst 16-jährig, benutzte er 1813 den Text als Vorlage für den Entwurf eines heroischen Allegro molto in D-Dur für vierstimmigen Chor mit gemischten Stimmen.
Ganz anders ging der reife Künstler Jahre später mit dem Schillertext um. 1826 entstand hierzu ein Lied. In beiden Fassungen verzichtet Schubert völlig auf das Heroische und setzt alles auf den Titel: „Dithyrambe“. Heraus kam ein Schwungvolles; „geschwind, feurig“, eben „dithyrambenhaft“, soll es gespielt und gesungen werden. Dabei gestaltet Schubert diesen Jubel nicht glatt, nicht seicht, sondern setzt hochinteressante, geradezu erregende Akzente.
„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“, hatte Goethe gedichtet, bevor August Wilhelm Schlegels Zeitschrift „Athenaum“ erschien und bevor das Motiv der leidvollen unerfüllbaren Sehnsucht zu einem Hauptmotiv der europäischen romantischen Bewegung wurde. Den Gedanken von der prinzipiellen Uneinlösbarkeit weitgespannter Vorstellungen vertrat auch Schiller. Und Schubert wählt etwa ein Dutzend Schillergedichte aus, in denen dieser Gedanke anklingt oder gar explizit ausgesprochen wird: „Elysium“, „Eine Leichenfantasie“, „Gruppe aus dem Tartarus“, „Die Götter Griechenlands“, „Der Pilgrim“, „Thekla“, „Die Bürgschaft“, „Der Taucher“, „Das Mädchen aus der Fremde“, „Hoffnung“. Jeweils handelt es sich um Texte, die man als Weltanschauungsdichtung beziechnen könnte, in denen jedenfalls die Utopie einer Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit thematisiert wird. Davon, dass das Ideal verwirklicht werden könnte, findet sich nichts. Aber dennoch geht es um Realität, zeichnet sich hinter der Kunstwelt dann doch die Hoffnung auf eine bessere Wirklichkeit ab. Diese Gedichte bestehen auf dem Recht auf Hoffnung. In anderen Gedichten bezieht sich Schiller viel direkter auf die banale irdische Wirklichkeit; ihr Grundgestus ist der der Klage. Dies betrifft auch „Die Götter Griechenlands“, aus dem Schubert eine Strophe auswählte.Es gab heftige Kritik wegen der unterschwellig angedeuteten Weltsicht, die die Vorstellung eines biblisch verstandenen personalen Gottes ablöste durch den Glauben, dass Gott und Natur eins seien. Die Nähe zu Spinoza ist offensichtlich. So konnte auch Schuberts Lied erst nach dessem Tod veröffentlicht werden. Denn dass Schubert dieses Gedicht aufgriff, stellt angesichts der katholischen österreichischen Verhältnisse – vor allem wegen der soeben verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse – einen politischen Affront ersten Grades dar.
Schubert konzentriert sich auf einen, ihn bewegenden Gedanken, den er in der 12. Strophe fand:
„Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach, nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine fabelhafte Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,
Ach, von jenem lebenswarmen Bilde
Blieb der Schatten nur zurück.
Auch in dieser Strophe nimmt Schiller eine Klagehaltung ein. Schubert verwandelt die streng alternierenden fünfhebigen Verse Schillers in eine zarte, trauernde, schwebende Melodie in langsamem Dreivierteltakt, bei der die Schillerschen Versgrenzen respektiert werden, die Binnenrhythmisierung der Verse jedoch aufgehoben ist. Die ganze Komposition wird beherrscht von einem spezifisch musikalischen Klagegestus – von der eingangs artikulierten sehnsuchtsvollen Klage bis zu dem Schluss mit seiner kaum noch hörbaren Wiederholung der Frage „Wo bist du?“
Es dominiert die Trauer, als könne wiederkehren, was doch niemals gewesen ist, ein „holdes Blütenalter der Natur“, eine schöne, heile Welt; und es mündet in eine Klage, der zugleich die Distanz gegenüber der christlich-modernen Welt eingeschrieben ist. Dies löst eine tiefe Betroffenheit aus, eine Nachdenklichkeit, die vor dem kritischen Blick auf unser Heute nicht zurückschreckt.
Blicken wir nun auf das Lied „Der Alpenjäger“; ein Lied, dessen Gegenstand die Beziehung zwischen Mensch und -Natur ist. Im Zusammenhang mit der Arbeit an „Wilhelm Tell“ entstanden, wurde das Gedicht 1804 in zwei geringfügig voneinander abweichenden Fassungen veröffentlicht. Wieder haben wir einen balladesken Text vor uns, in drei kurzen dramatischen Szenen.
Die erste besteht in einem Dialog zwischen Mutter und Sohn. Dreimal schlägt die Mutter ihrem „Knaben“ vor, ein traditionell friedliches Leben zu führen. Ihre Stichworte sind: Lämmlein,fromm, sanft, Blüten, Gras, Bach, Kuhglocken, Wald, Blümlein, Beet, Garten. Vergeblich. Dreimal bestürmt sie der „Knabe“, sie gehen zu lassen. Er will auf den „wilden Bergeshöhen“ schweifen und jagen. Die zweite Szene wird von einem Erzähler bestimmt: „rastlos“ sei der Knabe, erfüllt von „blindem Wagen“ halte er sich „am finstern Ort“ auf und vor allem: Mit seinem Todesbogen will er „verwogen“ (verwegen) die Gazelle jagen! Es geht hierbei nicht um eine Jagdgeschichte. Es geht um den Umgang des Menchen mit der Natur. Die Gazelle, die in schöner Übereinstimmung mit der Natur lebt, wird vorgeführt als das unschuldige Opfer des sinnlosen Wütens des Menschen – des „Feindes“. Denn nur Jagdlust treibt den „Knaben“, nur die Gier der Macht und des Tötens. Das Tier ist dem „Knaben“ ebenso gleichgültig wie zuvor Lämmlein, Bach und Wald. Dass die Gazelle in höchster Not ihn anfleht, rührt ihn nicht. Er ist der wahre Alpenjäger! Er ist der Herrscher.Soweit der Realist Schiller. Dies führt weiter zur Feststellung: „Und es herrscht der Erde Gott, das Geld“.
Nun aber meldet sich der Moralist. Im knappen Finale des Gedichts, in der dritten Szene also, lässt Schiller den „Berges-Alten“ auftreten, die Gazelle schützen und die Ansprüche des „Knaben“ zurückweisen. Es erscheint die großartige Sentenz „Raum für alle hat die Erde“, die plötzlich das Gedicht mit einer unverändert gütigen, humanistischen, weltgeschichtlich und phiosophisch bedeutungsvollen Idee auflädt.
Der Gang der Ballade drängt nach einer Lösung, die zunächst offen bleibt. Schiller hätte den „Knaben“ abstürzen oder eine Bekehrungsgeschichte inszenieren können. Schiller gibt seinen finsteren Realismus nicht auf. Die Gazelle wird gerettet, was aber wird mit dem „Knaben“, wie wird er künftig handeln? Dies bleibt offen.
Der „Berges-Alte“ lässt sich übrigens Zeit. Die Gazelle zu retten, tritt er erst im allerletzten Moment auf. Ahnte Schiller etwas von unseren globalen Problemen? Wusste er, dass die „geduldige Natur“ erst provoziert werden muss, ehe sie sich äußert – und rächt?
Schubert komponierte das Lied „Der Alpenjäger“ 1817, 20-jährig. Der Komponist folgt dem Versbau. Es wechseln höherstufiges Dur und Moll, jegliche Ruhepunkte werden weitestgehend vermieden. Einmal weicht der Komponist von Schillers Bauplan ab. Denn während Schiller sein Formschema – die Strophenstruktur – unangetastet lässt, unterbricht Schubert das „zweite Strophenlied“ radikal durch eine Generalpause., und zwar gerade in dem Augenblick, da die Strophe die Tonart Ges-Dur erreicht und beim „Todesbogen“-Part zu einem Fortissimo explodiert. Ohne auch nur die Andeutung einer Modulation vorzunehmen, rückt Schubert die Tonart nach der Pause von Ges auf G; dies ist ein innovativer, gar ungeheurer, bis dato nie erlebter Vorgang. Selbst Beethoven hätte einen solchen kühnen Sprung nicht vermocht.
Der Schiller-Schubertsche „Alpenjäger“ ist ein Lied, dessen verblüffende Moderinität und Aktualität daraus resultieren, dass es quer zur Forderung der Genesis an den Menschen, über die Tierwelt „zu herrschen“ steht und in der Tradition der Zivilisationskritik Rousseaus sich bewegt.
„Nichts charakterisiert Schillers Gedichte so sehr wie die Einheit von Philosophie und Poesie, von Reflexion und Einbildungskraft, von seelischer Empfänglichkeit und energischer Gestaltung sowie der Versuch, im Individuellen das Allgemeine, im einzelnen Menschen das Gattungswesen zur Erscheinung zu bringen“, meint der Germanist und Philosoph Ernst Osterkamp. Dies lässt sich auch auf Schubert beziehen. So mag man diese durchaus nicht „romantischen“ Lieder des europäischen Romantizismus genießen. Häufig genug sind in ihnen ein Reichtum an Gedanken zu finden, ein berührendes modernes Weltverständnis, beeindruckende originelle Erfindungen, sehr Persönliches, sehr Kluges, sehr Artifiziell-Souveränes; glückliche, kühne Modernität und frappierende Aktualität; freier Umgang mit angeblich ewig gültigen, Akzeptanz heischenden Normen und immer wieder: Bekenntnisse zur Kunst und zum Leben – Bekenntnisse, die ungeachtet so vieler modischer theoretischer Konstruktionen auch weiterhin existieren und die womöglich heute wichtiger, ja notwendiger sind als vor zweihundert Jahren.