Vortrag von Dr. Christian Soboth, Halle, am 16. Oktober 2018
Auch August Hermann Niemeyer, 1754 geboren, 1828 verstorben, Urenkel und als Direktor der Glauchaschen Anstalten Nachfolger August Hermann Franckes, war ein Leser Klopstocks, „[a]uf dessen hohes, unerreichtes Lied/ Dem Knabenauge schon die Trän‘ entfloß“, wie 1778 die Widmung von Niemeyers Gedichten formuliert. Ob nach des Knabenauge auch noch des Mannesauge Tränen entflossen sind, sei der bescheidene Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die schlichte Frage, deren Beantwortung wegen der Fülle des Materials lückenhaft ausfallen wird, lautet: Was macht Niemeyer mit sich, indem er mit Klopstock und mit dessen Werk umgeht? Sind die bei Niemeyer für die Jahrzehnte von 1770 bis 1800 manifesten Klopstock-Spuren lesbar als Zeugnisse einer Identitätsmodellierung im Zeichen fortdauernder Verehrung?
Die Geschichte der Klopstock-, vor allem der Messias-Lektüren ist auch eine Geschichte von Kuriositäten und Peinlichkeiten: Lessing überfiel feierliches Gähnen; Moritz, in der romanesken Brechung des Anton Reiser, litt während der Lesung des Messias unter einer entsetzlichen, beklemmenden „Leerheit der Seele“. Goethes Mutter dagegen ging mit Freundinnen, zu denen auch Susanna Katharina von Klettenberg gehörte, zu Ostern in Klausur, um den Messias zu meditieren. Enthusiasten verehrten Klopstocks Mutter als eine heilige Frau und feierten mit dem Tod Christi und dem Beginn der Messias-Niederschrift die zwei bedeutendsten Tage der Geschichte der Christenheit, und schließlich äußerte ein Fan, was Herder in Rage brachte, dass die Christen Klopstock anzubeten hätten, wenn es nicht Christus gäbe.
Wirkungsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass neben faktischen auch fiktive Klopstock-Lektüren stehen: Lotte und Werther, wenn nicht die berühmtesten Klopstock-Leser, so doch berühmtesten Klopstock-Sager, brechen bei Nennung des heiligen Namens in Tränen aus, auf das stimmigste begleitet von einem heftigen Sommergewitter mit starkem Regenfall.
Klopstock war ein rechter Wundermann, er verwandelte (Wein-)Wasser in Wein. Nach einer tränenseligen Messias-Lesung vor Ludwigsburger Handwerkern im Frühjahr 1776 schreibt der reich entlohnte Klopstock-Rezitator und -Herausgeber Christian Friedrich Daniel Schubart an den Dichter: „Da konnt‘ ich […] manch gutes Glas Wein auf Ihre Gesundheit trinken.“ Im tränenverhangenen Blick der ergebenen Gemeinde geriet die Grenze zwischen Gegenstand, Buch und Autor mitunter ins Schwimmen.
Seit den 1750er Jahren gehörte die Lektüre von Klopstocks Werken zu den Grundfesten der oratorischen Schulung auf dem Pädagogium Regium des Halleschen Waisenhauses. Niemeyer, von 1760 bis 1771 Zögling der Einrichtung, die er später als Direktor leiten sollte, hatte Klopstocks Werk schon während der Schulzeit und im anschließenden Studium, durch den Philosophen und Klopstock-Anhänger Georg Friedrich Meier, kennen und lieben gelernt.
Begegnungen von Klopstock und Niemeyer haben – abgesehen von Niemeyers Besuchen in Hamburg 1776 und 1798 – lediglich auf dem Papier stattgefunden, in unterschiedlichen Textsorten und literarischen Gattungen: die wenigen überlieferten Privatbriefe, die von 1775 bis 1784 zwischen Hamburg und Halle gewechselt wurden, die 1778 veröffentlichten Oden, die den Gedichten in der Ausgabe von 1783 beigegebene Abhandlung Über Dichtkunst und Musik in Verbindung mit der Religion, die im Umkreis von Klopstocks Konzept einer heiligen Poesie am Oratorium das Verhältnis von Literatur und Musik ausschreitet, das von Niemeyer 1785 kompilierte Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und die erstmals 1790 herausgegebene, auflagenstarke Sammlung neuer geistlicher Lieder. Ein Anhang zu Johann Anastasius Freylinghausens Gesangbuch, schließlich die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts von 1796 und abschließend die Briefe an christliche Religionslehrer (im zweiten Teil der 2. Auflage von 1803). Nebenbegegnungsschauplätze sind ein verschollenes Gemälde von Caroline Bardua, Niemeyers Klopstock-Würdigung und Berichte von dessen Beerdigung und der Säkularfeier seines Geburtstages im Hallischen patriotischen Wochenblatt (24.02., 3.03.1821;17.07.1824) sowie 1828 – Niemeyers eigenes Begräbnis auf dem halleschen Stadtgottesacker.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach Niemeyers Arten und Weisen des Umganges mit Klopstock sei schon jetzt gegeben: Hatte das Knabenauge über und dank Klopstock geweint und auch noch das des Jünglings, das Männerauge ist trocken geblieben. Niemeyer hat kein lebenslang identifikatorisches Verhältnis zu Autor und Werk unterhalten. Dem hochtemperierten Beginn folgt eine nicht unerhebliche Abkühlung. Niemeyers Klopstock-Begeisterung bleibt jubilatorisch von den frühen 70er bis in die mittleren 80er Jahre. 1774 schreibt Niemeyer an seinen späteren Schwiegervater Friedrich Köpken, Klopstock sei „der größte Dichter […], der vielleicht gelebt hat“ und lediglich mit den antiken Autoren zu vergleichen. Einher geht die Begeisterung mit einer regen dichterischen Produktion, Niemeyer schreibt Gedichte, Erzählungen und religiöse Dramen (Abraham, Lazarus, Thirza und ihre Söhne, Mehala), die ausdrücklich im Zeichen des adorierten Meisters stehen. Wenn annähernd zu datieren, fällt der Scheitel- und Scheidepunkt in die Jahre 1784/85: Niemeyer wird zum Ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät, zum Inspektor des Königlichen Pädagogiums und Mitdirektor des Waisenhauses ernannt. Der Dichter Niemeyer räumt Zug um Zug dem Amts- und Würdenträger den Platz und die Distanzierung von Klopstock, bzw. die Distanzierung von der frühen Klopstock-Begeisterung setzt ein, bzw. die Begeisterung wandelt sich in ein sehr besonderes wissenschaftliches Interesse an einem Autor und dessen Werk, die sich unschätzbare Verdienste um eine Nationalsprache und eine Nationaldichtung der Deutschen erworben haben, aber dem Leser zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Herz rühren, es moralisch bewegen oder religiös erschüttern können. Wie stellt sich diese Verwandlung des Interesses dar?
Niemeyers Klopstock-Lektüre ist nicht stumm geblieben, sie hat sich Ausdruck verschafft, einen Ausdruck freilich, den Niemeyer mit einer Heerschar von Klopstock-Begeisterten der Zeit geteilt und zudem vom Meister selbst gelernt hat. Niemeyers Briefe lesen sich wie Klopstock-Briefe. Obwohl von Sprachnot ist die Rede ist, greift ein Überschwang, der von Tränensturzbächen unterlegt ist. Anbetungs-Klischees finden sich gehäuft in den wenigen überlieferten, in der Historisch-Kritischen Klopstock-Ausgabe abgedruckten Briefen.
Die Niemeyer-Briefe aus den Jahren 1775 und 1777 seien im Folgenden genauer betrachtet. Sie sind in Ton und Tenor exemplarisch, und das nicht allein für Niemeyers den Meister spiegelnde und bestätigende postalische one-way-Beziehung zu Klopstock. Der mit unerschöpflichem Eifer und in verstiegenster Weise angerufene Dichter hat, wenn überhaupt, in der Regel kurz und bündig geantwortet. Niemeyer hat am Ende der Korrespondenz knapp zwanzig (nachgewiesene) Zeilen in den Händen gehalten.
Am 14. Oktober 1775 erreicht Klopstock ein Brief aus Halle, der im Zeichen des biblischen Wortes von der „Fülle des Herzens“ (Mth. 12,34 und Luk. 6,45) und der reichlich geweinten Tränen steht, mit denen sich der Briefschreiber zwischen den Klopstock-Weinenden des Jahres 1774, Lotte und Werther … platziert. Während im Werther der Ort, zu dem die Tränen abfließen, ungenannt bleibt, ist es bei Niemeyer … in stupender Übereinstimmung der Messias, den „aus meinem Auge so manche Thräne der Tugend und des edlen Entschlusses“ benetzt. Eine von der Schrift hervorgerufene Beweinung der Schrift hat statt, deren diffuse biblische Kontextualisierung in Niemeyers Brief nicht von ungefähr an die Beweinung Christi erinnert. Die Aura des poetischen Vorwurfs springt über auf das Buch, das zum Gegenstand der tränenreichen Verehrung wird. Zugleich plausibilisiert und authentifiziert die Träne die Begeisterung des Lesers für den Autor und dessen Werk: „Und Gott! du weißt daß ich nicht heuchle, siehst ja die Thräne hörst das Flehn, daß so oft vor dir um unaussprechlichen Segen für Klopstock bittet.“ (6.02.1777) Der so oft und gern gegenüber pietistischer Frömmigkeit erhobene Vorwurf der Heuchelei wird von der Träne gleichsam weggewaschen, womit nicht gesagt sei, Niemeyer sei noch ein Pietist reinsten Wasser gewesen wie sein Urgroßvater.
Die Klopstock gedankte Fülle des Herzens und die dem erfüllten übervollen Herzen entströmenden Tränen versucht Niemeyer nahe dem gesprochenen oder besser dem geschluchzten Wort zu verschriftlichen. Zu den aussagekräftigen Topoi der frühen Briefe gehört der vom Versagen der Sprache infolge der Überwältigung durch die von der Klopstock-Lektüre hervorgerufenen Empfindungen. In Sorge, die der Sprachnot abgerungene Wortwahl und Wortfügung werden unangemessen sein, und, weil unangemessen, affektiert oder geheuchelt wirken, bevorzugt Niemeyer – freilich wortreich beschworen – statt des geschriebenen Wortes das beredte Schweigen. Der Konnex von Empfindungsreichtum und Sprachnot spricht unbedingt für die Qualität von Klopstocks Werk, er spricht für das Gelingen der Lektüre und so zugleich für die Empfindsamkeit des Lesers.
Klopstocks Position im Briefwechsel ist unstrittig: Niemeyer folgt und verfällt den (Selbst-)Stilisierungen, den (auto)hagiographischen Strategien, und er reproduziert sie, wenn er 1777 – bezeichnenderweise an Klopstock – zur Bestätigung und Legitimierung von dessen Autorschaft schreibt, dass „Gott durch Sie so viel that, so viel Freuden schaffte.“ Niemeyers Ergebenheit kulminiert in der Erhebung des Messias-Autors zum Messias. Klopstock ist ein, wenn nicht für den zerdehnten Augenblick der Niederschrift des Messias das bevorzugte Werkzeug Gottes. Dementsprechend jubilatorisch formuliert Niemeyers Brief von 1775: „Ich kann nicht länger schweigen, verehrungswürdiger Mann! Es mag Enthusiasmus, es mag zu kühne Freyheit, es mag Andringlichkeit scheinen – mein Herz weiß es beßer, daß es nichts von dem allem ist.“ Wenn nicht das, was dann, fragt sich der Leser. Die Antwort lautet: „Nichts als eben dis warme, zu mächtige Gefühl von Danck und Hochachtung um es in das Herz zu verschließen, ists was mich schreiben heißt.“ Klopstock weckt einen wortreichen Enthusiasmus in seinem Leser, der versetzt in einen höheren Geisteszustand selbst schöpferisch und zum Dichter wird. Die Rhetorik des Briefs wird angereichert um das biblische Motiv vom Zungen-Reden bzw. dem Oralität inszenierenden Zungen-Schreiben auf Befehl und durch Inspiration. Eine im 18. Jahrhundert, bei Goethe, bei Lenz und Lavater nicht seltene Inszenierungsformel für den Dichter als überwältigten „Laller seines Gefühls“. Dank und Hochachtung gelten, wie schließlich im Weiteren expliziert wird, dem Lehrer Klopstock, dem Niemeyer die „würdigsten Begriffe von der Religion“ und das „Bild reine[r], vollkommener wahrer Tugend“ schulde, „danach ich mich wenigstens gern bilden möchte“.
Mit Blick auf Niemeyers Sozialisations- und Bildungskontext des Halleschen Waisenhauses formuliert der Urenkel August Hermann Franckes kühne Sätze: Er verschiebt die entscheidende Prägung und Bildung zu Frömmigkeit und Tugend aus dem genuin Religiösen ins Ästhetische, in die Literatur, auch wenn der Literatur, bzw. der Poesie in Klopstocks von Niemeyer mitgetragenem Sinn der Anspruch eignet, eine heilige zu sein. Zwischen Christus und den zur Nachfolge gestalteten Lebensweg schiebt sich in der Rolle einer prägenden und zur Nachfolge ermunternden Instanz Klopstocks literarisches Werk.
Die Frage, ob Niemeyer mit derartigen Funktionszuschreibungen an die Poesie gegen den waltenden Geist des Waisenhauses und der Theologischen Fakultät in der frühen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts opponiert hat, ist wohl zu stellen, aber nicht präzise zu beantworten. Der genannte Geist hat in der Forschung noch keinen klaren Kontur gewonnen. Dass sich die Verhältnisse an Waisenhaus und Universität wie auch deren Bezug zueinander geändert hatten, ist anzunehmen. Grundsätzlicher: Ist für die Zeit zur und nach der Jahrhundertmitte bezüglich des Halleschen Waisenhauses und der Theologischen Fakultät noch sinnvoll von Pietismus oder pietistischen Rudimenten zu sprechen? Das auszuloten und zu konturieren, ist eine interdisziplinäre Herausforderung für die Kirchengeschichte und die Historische Pädagogik, die Philosophiegeschichte und die Literaturwissenschaft. Festzuhalten ist, dass der junge Niemeyer Klopstocks Messias auf Augenhöhe mit der Bibel bringt.
In dem Assoziations- und Allusionsfeld der Briefe versucht Niemeyer im Prozess des Schreibens zu einer Selbstbeschreibungsidentität zu gelangen. Infolge von Klopstocks messianischer Überhöhung ist Niemeyer nicht allein der vereinzelte Anbeter in Klausur, er ist vielmehr ein Jünger und Apostel seines Gottes und von dessen Werk. In der Rolle eines Petrus, der jedoch den Herrn nicht verrät, sondern im Gegenteil der Welt bekannt macht, berichtet Niemeyer, wie er „unter Zwang dreimal den heiligen Namen“ auf Bogen für Freunde oder Publikum habe notieren müssen. Niemeyer stiftet und versucht mit dem Autor eine perfekte Kommunikationsgemeinschaft zu etablieren, in die weitere schon zu Klopstock Bekehrte oder noch zu Bekehrende einbegriffen werden. Die genaue Kenntnis von Klopstocks Werk, die persönliche Bekanntschaft und der briefliche Austausch mit dem Dichter bieten Formeln zur Selbststilisierung, die aus der Stilisierung des verehrten und geliebten Meisters resultieren und auf ihn bezogen sind. Im Glanz des Gottes sonnt sich der Jünger und kommt zu Ruhm. Vor allem die von Klopstock brieflich erwiesene Wertschätzung bestätigt und zeichnet Niemeyer im Freundeskreis aus. Klopstocks Zuneigung verschafft Akzeptanz und Anerkennung. Der studiosus theologiae Niemeyer der 1770er Jahre führt ein Leben im Lichte Klopstocks, durch ihn wird Niemeyer für sich selbst und für die Gemeinschaft Gleichgestimmter als Person identifiziert und sichtbar. Lesen wir die Briefe als Dokumente der (Er-)Zeugung des Subjekts durch den Akt der Lektüre, dann mögen Klopstock und dessen Werk für Niemeyer, der nach dem frühen Tod der Eltern bei einer Ziehmutter, Sophie Lysthenius, aufwuchs, Vater und Mutter zugleich gewesen. Sie haben ihn die würdigsten Begriffe von Religion und Tugend gelehrt und – in Form der Tränenseligkeit –seine Empfindsamkeit geschult.
Lediglich für einen kurzen brieflichen Augenblick gerät das klar geordnete Verhältnis zwischen Autor und Fan in Unordnung. Nachdem Niemeyer über dem und über den Messias geweint hat, empfindet er den „brennenden Durst“ nach Hamburg oder Karlsruhe zu Klopstock zu reisen, „nur um Sie (Sperrdruck) zu sehen, nur aus Ihrem (Sperrdruck) Munde eine Versicherung Ihrer Güte zu hören“: Formulierung und Kontextualisierung alludieren Christi Leiden am Kreuz, der den irdisch/himmlischen Ersatz-Vater um Gnade und Erlösung von der Gottesferne anfleht.
Ich hatte es angedeutet: Klopstocks Briefe sind gemessen an Niemeyers aus- und tiefgreifenden Ergüssen kurz, knapp, nüchtern und ergebnisorientiert. Niemeyer erklärt sich bereit, in Sachen Klopstock mit dessen Verleger Hemmerde in Halle Verhandlungen zu führen, Klopstock nimmt das Angebot an und erteilt Niemeyer Aufträge. Das muss nicht weiter ausgeführt werden. Misslichkeiten und Verwerfungen zwischen dem ausgesprochen akribischen Anwalt seines eigenen Werkes und einem eher genervten Verleger bleiben nicht aus.
Das beredte Schweigen, die bruchlose Adaption von Klopstocks Sprache sowie die Aufnahme von dessen Anregungen sind wesentliche Aspekte von Niemeyers über Klopstocks Autorität gewonnenem Verhältnis zum Wort, aber es sind nicht die einzigen und nicht die wegweisenden. Zur Erzeugung des Subjekts in der Funktion und im Amt eines Jüngers und Apostels gehört auch die Genese von Niemeyers eigener Autorschaft aus dem Klopstock geschuldeten Enthusiasmus, die freilich mittelbar und unmittelbar auf Klopstock bezogen ist. Mittelbar, weil sich Niemeyer in Gattung, Semantik, in Syntax und poetischem Gestus an Klopstock orientiert; unmittelbar, weil Person und Werk Klopstocks auch thematische Vorwürfe von Niemeyers lyrischer Produktion sind. Die entsprechenden Gedichte, vor allem aus der Klopstock gewidmeten Ausgabe von 1778, legen davon, wenn nicht ein gelungenes, so doch beredtes Zeugnis ab.
Bereits im ersten Brief von 1775 hatte Niemeyer den Versuch unternommen, die Fülle des Herzens, die Tränenflut und das drohende Versagen der Sprache durch Verse aufzufangen und zu bannen. „Der kennt nicht meinen ganzen Danck / Dem es da noch dämmert / Daß, wo sich in voller Empfindung die Seele ergießt / Da nur stammlen die Seele kan.“ Die ausgesuchte Lexik, der verdrehte Satzbau, der rhythmisierte (und nicht ganz elegant) strömende Vers, die Zeilensprünge substituieren den im Brief protokollierten, semantisch aufgeladenen Tränenfluss. Der physiologische Effekt der Lektüre drängt zur poetischen Sprache, er wird – ansatzweise – sinnhaltig eingeholt und in Worten an den Verursacher zurückerstattet.
Ausgebaut wird der lyrische Auftakt in der 1778 veröffentlichten, bereits 1775 entstandenen An Klopstock betitelten Ode, deren Kontextualisierung der Wertschätzung des Dichters klar Ausdruck verleiht. Der Band öffnet mit der Ode An Gott, der die Klopstock gewidmete Ode folgt und schließlich die An das Vaterland gerichtete Ode: ein lyrisches Tryptichon, in dessen Klopstock zugedachter Mitteltafel auch Gott und Vaterland präsent sind. Ich zitiere:
„Zwanzig Lenze dahin! Immer noch schmacht’ ich / Fern und einsam nach Dir! Nannte beym Namen dich / Oft in Stunden der Wonne, / Rief Dir, rief Dir, und fand dich nicht! //
Wenn vom thauenden Stern, über des Schlummernden / Auge Ruhe sich goß, schwebte die Denkerin, / In der Täuschungen Irre / Hin zum säuselnden Palmenhayn, // Sah dich wandeln, – so sieht, was er am Abend hofft, / In der Dämmrung der Nacht täuschend der Schlummernde – / Flog schon zitternden Fluges / Dir entgegen, umfasste dich, // Bis der Morgen mich weckt’ – ach dann umarmt’ ich noch / Lang das theure Phantom, breitete zitternde / Arme bang ihm entgegen und faßt’ es nicht. // Hättest du rinnen gesehen, rinnen die seligen / Thränen sanften Gefühls, hätt’ ich mit lauterem / Sanft verstummendem Danke, /Dich an das schlagende Herz gedrückt, // Sänger Gottes! O Du, der im gewaltigen / Hymnenflug, in Psalmen über die Erde mich / Hob, im Liede, wie keins nicht, / Hamus hört und Olympia! // Wie der Wandrer am Quell, nach den Umarmungen / Seines Vaterlandes ringt – ach es wird säumender / Oft noch glühn im Westen, / Eh er im Arme der Gattin ruht, – // So ringt dürstend mein Herz nach den Umarmungen / Unter den Palmen, wo Gott wandelt im Abendkühl, / Daß du lächelnd mich segnest, / Du mich segnend der Laufbahn weihst. // Sieh! Schon schwimmt mir im Blick seliges Vorgefühl! / Seh ich ihn kommen – ihn nah, da du mich segnen kannst? / Schwebt vom goldnen Olympus / Schon hernieder der Wonnetag? (1778)
Die intertextuellen, miteinander verschränkten Bezüge zu antiker Mythologie und Bibel (vor allem zu den Psalmen und den Evangelien mit christologisch-messianischen Motiven) sind deutlich, ebenso die formale, die semantische, die syntaktische und motivische Nähe zu Klopstocks Gedichten. Zentraler Gegenstand ist die erhoffte, im Traum zum Greifen nahe, im Augenblick des morgendlichen Erwachsens zur Illusion verflüchtigte, aber schließlich doch – nach der mystischen Devise: Sehnen macht sehen – in den Blick gerückte unio, die Umarmung mit Gott. Aber ist es der christliche Gott? Der Anfang des Gedichts alludiert die eingangs genannte Szene aus dem Werther. Niemeyers lyrisches Ich will keiner von dem im Werther gescholtenen Unwürdigen sein, die den heiligen Namen Klopstock nennen. Das lyrische Ich ruft den „Sänger Gottes“ an, um durch dessen Umarmung der Laufbahn (der dichterischen wie ergänzt werden darf) geweiht zu werden. Eine geichtete Bitte um Initiation in die Dichtung, wobei der Sänger Gottes als ein Mittler in Erscheinung und Funktion gerufen wird. Christlich gesprochen und zugleich antikisch perspektiviert: „Niemand kommt zum Gedicht denn durch mich.“
Dass Niemeyer nicht zeitlebens ein Verehrer und Lordsiegelbewahrer Klopstocks geblieben ist, habe ich erwähnt. Als Beleg mögen die Klopstock-Bearbeitungen im Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten und in der Sammlung neuer geistlicher Lieder dienen. Was 1796 die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts im Kapitel Wahl des Lehrstoffes unter der Zweyten Regel: Fortschreiten vom Leichten zum Schweren explizieren werden, ist in den vorausgehenden pädagogisch gebundenen Anthologien Praxis. Klopstocks Lieder, da sie – zu Gellerts Fabeln in Wortwahl und Wortfügung „dem Ideenkreise und der Empfindungsart der Kinder“ „fern“ stehen – werden umgeschrieben. Ein Übergriff, den Klopstock erstaunlicherweise nicht kommentiert hat, weil er ihm vielleicht verborgen geblieben ist. In der 2. Strophe von Klopstocks Morgenlied heißt es: „Dank dir Herr! zu dir hinauf / führ mich jeder meiner Tage, / jede Freude, jede Plage.“ Niemeyer formuliert: „Dank sei dir, zu dir hinauf / müsse jeder Tag mich leiten, / zur Unsterblichkeit bereiten.“ Erhard Hirschs Beobachtung, Niemeyer habe Klopstocks ‚volkstümliche Einfachheit‘ zu ‚akademischer Abgeblaßtheit‘ verschlimmbessert, ist durchaus zutreffend. Gemäß dem freilich später in den Grundsätzen geäußerten Vorbehalt gegenüber Klopstocks Wortwahl und -fügung sind dessen „Freude“ und „Plage“ griffiger als Niemeyers „Unsterblichkeit“. Indem ein auf Halleschen Kurs gebrachter Klopstock in den Kanon des Waisenhaus-Liedgutes aufgenommen und in den Schulunterricht integriert wurde, verschaffte sich die Institution einen in der Wirkung nicht gering zu schätzenden ear-catcher für ihr Konzept von Erziehung und Bildung und – Frömmigkeit.
Pädagogisch verwertet wird Klopstock in den Grundsätzen auch in Sachen Leibesertüchtigung. Behandelt wird neben dem Gehen, Laufen und Tanzen, dem Stelzengehen („macht dreist, gewandt und ist in manchen Ländern unentbehrlich. Nur auf Treppen hat es leicht Gefahr“) auch Springen, Klettern, Ringen, Werfen, Balancieren, Schwimmen, Reiten und Schlittschuhlaufen. Niemeyer orientiert sich an Johann Christoph Friedrich GutsMuths Schrift zur Körperlichen Erziehung, und er zitiert Johann Peter Francks Medicinische Policey, die keine Bewegung kennt, „die dem Körper zuträglicher wäre und ihn mehr stärken könnte. – Reine Luft, stärkende Kälte, Beschleunigung des Laufs der Körpersäfte, Anstrengung der Muskeln, müsse auf Leib und Geist gleich wohlthätig wirken.“ Niemeyer ergänzt: „Klopstocks Gedicht Der Eislauf und die Kunst Tialfs sind Beweise, das es bis zur Ode begeistern kann.“
Wenn die Tränen, die der Messias (VIII, 425) in eine metaphorische Analogie zum Erlösungsblut Christi und dem eigenen Wort- und Tintenstrom setzt („Furchtbar strömte das Blut der Versöhnung.“), den Quell bieten, aus dem sich Niemeyers verschiedenartig verbalisierte anfängliche Klopstock-Begeisterung speist, dann ist die Quelle mit den Briefen für Religionslehrer in der 2. Auflage von 1803 weitgehend versiegt.
Gegen die ehemals hauseigene Theologie und Frömmigkeit kritisiert und verwirft Niemeyer, der sich selbst als denkender Christ bezeichnet, den uniformierenden Bekehrungsprozess urgroßväterlicher Provenienz, dem die Träne als Beleg und Beweis galt. Die Träne hat als untrügliches Zeichen der Rührung, der Reue und Bekehrung, ausgespielt.
Man würde aber auch in neueren Zeiten, nicht so oft von Kanzeln und in Erbauungsschriften die bekannten Worte des Dichters, von den ‚weichgeschaffnen Seelen, die nicht lange fehlen können und von den thränenlosen Sündern die beben sollen‘ wiederholt haben – die wenigstens dem Buchstaben nach geradezu den Schöpfer anklagen, der nicht alle weich erschuf, und wodurch Thränen – diese zweydeutigsten unter allen Zeichen der Besserung [bezeichnenderweise spricht Niemeyer nicht von Bekehrung, sondern von moralischer „Besserung“] – zum Wahrzeichen eines Menschen gemacht werden, zu dem man noch Hoffnung haben könne.
Zugespitzt auf eine tränenselig-schwammige Kunst, deren Effekte für die intendierte moralische Besserung des Menschen unergiebig sind, fährt Niemeyer fort:
Daß der Dichter sich diese Folgen nicht dabey dachte, ist hier gleichgültig. Genug daß man so unbestimmte Ausdrücke, die noch dazu die herzergreifende Melodie, welche ein Künstler wie Graun mit ihnen zu verbinden wußte, zu Lieblingsworten macht, die gefährliche Täuschung befördern, schnelle Rührung für Ablegung der Fehler zu halten, den aber, dessen Auge die Thränen versagt sind, an sich selbst irre zu machen. Dichtersprache ist immer bedenklich, wo so viel auf Wahrheit der Begriffe ankommt.
Statt für Autonomie der Kunst plädiert Niemeyer für deren Re-Pragmatisierung im Erziehungsprozess. Die Kunst hat sich der moralischen Besserung in Form einer neologisch über- bzw. verformten Bekehrung funktional zu- bzw. unterzuordnen und entsprechende Verbalisierungsregeln zu beachten. Im Einvernehmen mit dem Pädagogen-Kollegen Johann Heinrich Campe formuliert Niemeyer eine entschiedene Kritik an der zur Empfindelei verkommenen Empfindsamkeit. Wer die Träne, wie dies 1784 der Physiognom Joseph Perteny getan hatte, zum Ehrenzeichen und Tugendbeweis des Empfindsamen erklärt, übersieht laut Niemeyer nicht allein, dass der Mensch „auch zur Zeit seiner moralischen Wiedergeburt, seine natürliche Beschaffenheit [behält]“. Das eigentliche Skandalon ist für Niemeyer, dass die seelische Vielfalt als göttliche Schöpfung zugunsten einer überdies manipulier- und inszenierbaren Gemütshomogenität, die sich in Tränen zeigen solle, in Abrede gestellt wird.
Die Briefe schließen mit einer Würdigung Klopstocks anlässlich von dessen Tod. Der 23. Brief, der den „Verlust für die Freunde der Religion“ bekannt macht, datiert – ein übler Verdrucker – vom 24.03.1802. Bevor Niemeyer das Wort ergreift, zitiert er einen ungenannten Zeitgenossen des Jahres 1801, der die Frage erörtert, warum der „große Sprachwohltäter der Nation“ (und nicht etwa der Dichter) sein Publikum verloren habe. Die Antwort lautet, dass zur Mitte des Jahrhunderts kein Interesse mehr an Religion und an religiöser oder religiös fundierter Dichtung bestehe. Klopstock, der im Zuge der Verinnerlichung und der Emotionalisierung des Glaubens zu einer Herzens- und Privatsache den wortlosen Empfindungen der Zeitgenossen eine Sprache gegeben habe, die moralischen und ästhetischen Ansprüchen gerecht geworden sei, habe den Lesern des Jahres 1801 nichts weiter zu sagen. Während nämlich die antike Mythologie, die nach wie vor wesentlicher Grundstock der literarischen Produktion sei, der Phantasie entstamme und das Gefühl für die Kunst anrege, handele es sich bei der christlichen Mythologie, der Klopstocks Messias von dem ungenannten Zeitgenossen zugerechnet wird, um ein Produkt der Spekulation und der Dogmengläubigkeit.
Dieser Ursachenforschung in Sachen Publikumsschwund hält Niemeyer entgegen, Klopstock biete weder Dogmen noch arbeite er an einer christlichen Mythologie, er stelle nicht einmal die Passion und den Tod Christi dar, sondern er inszeniere empfindsame Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster von an der Passion Beteiligten. Das Bemerkenswerte an Niemeyers Messias-Lektüre im Jahr 1803 ist deren emotionsgeschichtliche Akzentuierung. Niemeyer liest mit den trockenen Augen eines Wissenschaftlers. Über den Messias sind Einsichten in das, wie Niemeyer unter Verwendung eines Begriffs von Herder formuliert, „Empfindungssystem der Vergangenheit“ zu gewinnen, sowohl auf der Grundlage der im Messias dargestellten als auch auf der Grundlage der durch die Lektüre generierten Empfindungen. Jedoch gehören die dargestellten und die erlesenen Empfindungen der Jahrhundertmitte an, sie sind nicht mehr aktuell. Welche Empfindungen 1803 empfunden werden und wie sie zu versprachlichen wären, fragt und sagt Niemeyer leider nicht. Niemeyer betreibt, was heute kulturwissenschaftlich up to date ist: historische Emotionsforschung. Das besagt: Gefühle fallen nicht vom Himmel, sie sind nicht einfach da, sondern sie werden kulturell, sozial geformt und sind wandelbar. Und zu den formenden Kräften gehört selbstverständlich auch die Kunst, die Literatur. Diese bilden also nicht Gefühle nur ab, sondern gestalten und prägen Gefühle. Gefühle verändern sich in der und durch die Geschichte hindurch, sie sind historisch und müssen, um verstanden zu werden, historisiert, d.h. in ihrem jeweiligen Entstehungs- und Wirkungskontext gesehen werden.
Die aus der Substanz des Messias heraus erforderliche Historisierung des Werks nicht vollzogen zu haben, macht Niemeyer schließlich den Kanzelpredigern zum Vorwurf. Predigten im Übergang zum 19. Jahrhundert haben nämlich nicht mehr, jedenfalls längst schon nicht mehr ausschließlich das Gemüt zu bewegen oder das Herz zu erschüttern oder zu rühren, Predigten sollen belehren und einen Nutzen für den Verstand erwirken. Dennoch schade maßvolle Klopstock-Lektüre nichts, wenn es – und hier folgt Niemeyer Georg Friedrich Meiers Kunst zu predigen von 1772 – um eine didaktisch geschickte, ästhetisch gefällige Präsentation der Religion im Zeichen von Sittlichkeit und Tugend geht.
Der von Niemeyer gewünschten Historisierung des im Messias gebotenen „Empfindungssystems“ entspricht die Historisierung der eigenen Messias-Lektüre. Die Erinnerung an die enthusiastische Jugendlektüre bereitet Niemeyer „unangenehme Empfindungen“. Klopstock ist ein Fremder für das Herz und zugleich ein interessanter Gegenstand für den Kopf geworden.
Niemeyer begeht keinen Vatermord, unternimmt aber auch nichts um den Nachruhm des einst teuren Verblichenen zu mehren. Geschätzt bleibt Klopstock wegen der hohen Kunst, Empfindungen versprachlicht zu haben, die jedoch keine dreißig Jahre nach Abschluss des Messias schon der Vergangenheit angehören. Zudem konturiert sich die sprachliche, ästhetische Leistung in Abgrenzung von der kalten, abstrakten Sprache der Philosophie, sie wird nicht unbedingt aus sich selbst heraus gewürdigt. Niemeyer schließt: „Die Epoche der religiösen Dichtkunst ist vorüber.“ Soweit die überlieferten Äußerungen des späteren offiziellen Niemeyer zum Messias. Ob der Privatmann nicht doch heimlich, still und leise bei dessen Lektüre geweint und wie hoch oder tief er z.B. Klopstocks Oden geschätzt hat, ist unbekannt.
Resümierend ist zu sagen: Niemeyer hat sich von Klopstock freigeschrieben. An die Stelle des feuchten ist das trockene Auge getreten, an die Stelle des emphatischen und empathischen Leserausches des unordentlichen Schülers und Studenten die abgeklärte und abwägende, historisch-kritische Analyse des ordentlichen Professors, an die Stelle der rückhaltlosen Identifikation die pädagogisch-rhetorische Verwertungsperspektive.
Niemeyer ist zu Staub geworden, und Klopstock wohl auch. Konkurrenz in Sachen Nachruhm und Fortleben sei vermieden. Dennoch muss abschließend auf zwei Tatbestände hingewiesen werden: Über unseren Köpfen kreist in einer mittleren Entfernung von 355 Millionen Kilometern von der Sonne im inneren Bereich des Asteroidengürtels der Planetoid (9344), der am 12. September 1991 von den Astronomen Börngen (Jena) und Schmadel (Heidelberg) entdeckt und am 2. Februar 1999 in den Minor Planet Circulars auf den Namen Klopstock getauft wurde. Und schlussendlich: Unter www.logh.net/guide/loghg009.htm findet sich ein Verzeichnis galaktischer Helden, The Legend of the Galactic Heroes Guide mit einer Klopstock Incident genannten Seite, die einen weißbärtigen bombenwerfenden und königsmordenden Klopstock präsentiert. Klopstock strikes back, möchte man angesichts der Vernachlässigung des Dichters durch die Leserschaft vermuten, womit Lessings Mahnung, den Dichter zu lesen, außerordentlich Nachdruck verliehen ist.