Vortrag von Oliver Meyer-Ellendt, Wetzlar, am 5. März 2024
Als Goethe noch kein „von Goethe“ ist, geht er 1775 von Frankfurt/Main nach Weimar. Zwei Jahre später beginnt er mit dem Schreiben eines Romans, der in Theaterkreisen spielt. Die Hauptfigur nennt er „Wilhelm Meister“.
Schon als Knabe übt sich Wilhelm in der Schauspielkunst, besucht etliche Male im Jahr Schauspieler, die in die Stadt kommen. Wilhelm begibt sich als Erwachsener auf Geschäftsreise, treibt brav Schulden ein und trifft … immer wieder Komödianten. Eine der Theatergesellschaften wird geleitet von der Direktrice Madame de Retti. Er findet seine Jugendliebe Mariane, natürlich Schauspielerin, wieder, verliebt sich in sie, muss jedoch erfahren, dass er einen Nebenbuhler hat. Prompt fällt Wilhelm aus seinem Wolkenschloss in eine tiefe Krise. Joseph von Eichendroff stellt daraufhin fest, „dass Goethe selbst so eine Art von Wilhelm Meister war, und wir erfahren nachträglich aus Dichtung und Wahrheit, wie überraschend viele Jugenderinnerungen, Personen und Zustände aus seinem eigenen Leben in diesen Roman übergegagen sind.“
Wilhelm gelobt, sich künftig vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten – und tröstet sich mit seiner Liebe zum Theater.
Er beginnt sogar, selbst Stücke zu schreiben. Sein Ziel ist es, der vollkommenste Schauspieler zu werden und der Schöpfer eines großen Nationaltheaters. Höher hinauf geht’s nimmer. Zur Ablenkung von diesen Theaterflausen wird Wilhelm von seinem Gebieter Werner auf Reisen gesachickt: als Schulden-Eintreiber. Niederer geht’s kaum. Doch Wilhelm fügt sich. Das Schicksal – oder vielmehr die erzählerische Ironie – will es, dass Wilhelm fortan stets auf Theatervolk trifft. Eine Theatertruppe lässt Wilhelm spüren, dass er ein großer Kenner, Liebhaber und Beschützer des Theaters und all seiner Protagonisten ist. Und wer sich wie Wilhelm sein Leben lang der Literatur und dem Theater hingibt, ist naiv genug, eine solche Komödie für bare Münze zu nehmen – und die eigenen Münzen offenherzig herzugeben. Prompt leiht Wilhelm also der Directrice de Retti größere Teile der von ihm einkassierten Schulden, und die Truppe isst und trinkt fortan auf Wilhelms Kosten. Als Gegenleistung geraten alle jedes Mal in dionysische Begeisterung, sobald er lange Dramenmonologe rezitiert. In Madame de Rettis Truppe begegnet Wilhelm einer jungen Person, und zwar so, wie sie sich Wilhelm vorstellt: niedlich, reizend, schnuckelig und drollig; so heißt sie auch auf Französisch: „Mignon“. Ein Schauspieler-Paar, dem Wilhelm zuvor begegnet ist und das sich nun der Truppe angschlossen hat, Madame Melina und ihr Ehemann, meinen jedoch, Mignon sei zu gar nichts nütze: Auswendig lerne sie geschwind, spielen aber würde sie erbärmlich.
Madame de Retti hatte Mignon einst dem Leiter einer Seiltänzergruppe für hundert Dukaten abgekauft, da der grobe Kerl das Kind gerade auspeitschen wollte. Mignon hatte sich nämlich geweigert, den Eiertanz aufzuführen. Dies meint die Kunstfertigkeit von Artisten, mit verbundenen Augen zwischen rohen Eiern groteske Tänze aufzuführen.
Wilhelm hat inzwischen ein Trauerspiel geschrieben: „Belsazar“. Die Truppe Madame de Rettis ist vereinbarungsgemäß begeistert und sich einig: Wilhelms Stück muss aufgeführt werden. Natürlich von ihnen. Und natürlich bezahlt von Wilhelm.
Also wird Wilhelm von der Direktrice ordentlich geschröpft. Nach und nach gibt er sein ganzes Geld für Bühnenhandwerker und Ausstattung hin. Natürlich nicht sein Geld, sondern das von den Gläubigern kassierte.
Der Schauspieler Bendel ist der Geliebte der Directrice. Wenig textfest, dafür trinkfest. Er soll in „Belsazar“ den Darius spielen. Am Tage der Uraufführung hat Herr Bendel jedoch „wieder einen schweren Anfall krankhafter Trunksucht“. Er ist völlig unfähig, den Darius zu spielen. Wilhelm muss einspringen. Durchaus mit Erfolg.
Erst bei der zweiten Aufführung des „Belsazar“ spielt Bendel den Darius. Er zeigt sich weniger begabt als Wilhelm, wird aus dem Parkett mit Pomeranzen beworfen. Die Truppe verzieht sich schutzsuchend hinter die Kulissen. Nur Bendel wirft zurück, trifft einen Zuschauer. Ein wahres Schlachtgetümmel hebt an, das Publikum ersteigt mit Stöcken die Bühne und verwüstet alles. Im Tumult verschwinden die Tageseinnahmen und dann die Direktrice mit Herrn Bendel.
Und als sei dies noch nicht genug, kommt Mademoiselle Philine, eine junge, muntere Actrice, zu Wilhelm aufs Zimmer. Der Erzähler beschreibt, dass sich Philine „so artig, so schmeichelnd, so eifrig“ beträgt, dass Wilhelm sie nicht abweist. Und so gerät unser Held zum zweiten Mal an eine nicht sehr moralische Schauspielerin.
Die geschrumpfte Theatertruppe reist weiter, hat aber Mignon nicht mitgenommen. Das Figurengewimmel des Romans wird nun um einen kunstbeflissenen Grafen erweitert. Seine Exzellenz besitzt eine große Liebe zur Literatur, insbesondere zur deutschen. Außerdem hat sicherlich Philine ein wenig mit den Wimpern geklimpert, und schon lädt der Graf alle auf sein Schloss ein.
Doch die Truppe wird enttäuscht. Zum einen bringt man sie schäbig unter, zum anderen stellt sich wieder einmal heraus, dass Geld-Adel nicht in jedem Fall einher geht mit Geistes-Adel. So ist man auf dem Schloss ihrer schon bald überdrüssig.
Zum Glück verbessert sich die Lage der Komödianten ein wenig, indem man in einem alten, leeren benachbarten Schloss ein paar Möbel aufstellt und sie mit den Speiseresten der gräflichen Tafel versorgt.
Somit wird das Theatergerüst „aufgeschlagen und ausgezieret“, und man führt hin und wieder im eigentlichen Schloss Theaterstücke auf.
Der gräfliche Hausherr vereinigt dabei in herausragender Weise zwei Eigenschaften, die sich jeder Künstler von seinem Mäzen wünscht: Ahnungslosigkeit und Einmischungsfreude.
In der Umgebung des gräflichen Schlosses lernt Wilhelm Jarno kennen, der Kriegsveteran, Philosoph und eine Art bissiger Schlosshund ist. Und vermutlich inspiriert von Johann Gottfried Herder. Wilhelm empfindet für Jarno „eine gewisse Neigung“, obgleich dieser etwas „Kaltes und Abstoßendes“ hat. Dafür macht Jarno Wilhelm auf William Shakespeare aufmerksam, und bei der Lektüre von Shakespeares Werken glaubt Wilhelm, „vor den aufgeschlagenen ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen“. Wilhelm fängt an, „zu wittern, dass es in der Welt anders zugehe, als er sich’s gedacht“.
Der Truppe ist kein Glück beschieden. Schließlich findet sie eine Notunterkunft, und alle wefen die Schuld auf Wilhelm. Der fühlt sich unschuldig und verspricht, alle aus dem Elend herauszuführen. Mehr noch: Ein jeder soll „doppelt und dreifach so viel“ erwerben, „als er verloren“.
Zu diesem Zweck studiert Wilhelm auf dem Krankenlager weiterhin die Schriften Shakespeares, insbesondere den „Hamlet“. Nach einer längeren Zeit der Genesung erreicht Wilhelm die nächstgrößere Stadt, wo er dem Theaterdirektor Serlo begegnet. Wilhelm trifft nun auch die vorausgereiste Theatertruppe wieder und empfiehlt sie Serlo ans Herz für ein Engagement. Aurelio, eine Schwester Serlos, durchschaut jedoch die Komödianten sofort und wirft Wilhelm vor: „Ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so von Grund aus verkennt wie Sie! Was ist Ihre ganze Gesellschaft, die Sie meinem Bruder empfehlen, für ein erbärmliches Volk!“
Und auch Mignon versetzt Wilhelm in Verwirrung, wenn auch in eine andere: Beim Gute-Nacht-Sagen schließt sie ihn plötzlich fest in ihre Arme und küsst ihn „mit solcher Inbrunst, dass es Wilhelm vor der Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur angst und bange wird.“
Vielversprechender entwickelt sich am Ende des Romans Wilhelms Liebe zum Theater. Direktor Serlo wird Wilhelms Lehrer und möchte ihn fest an seiner Bühne haben – sowie die ganze Truppoe dazu. Es bleibt nicht ohne neuerliche Schwierigkeiten. Immerhin: Bendels Wunsch geht in Erfüllung, nicht mehr schauspielerin zu müssen. Melina indes soll Garderobe-Meisterin werden, um den Motten zu wehren. Auch ein Karriere-Ende am Theater.