Vortrag von Martin Blum, Berlin, am 2. November 2017
„Mein Blick war auf den Himmel gerichtet“. Dieser Vers stammt von Goethe und steht leitmotivisch für diesen Vortrag, ist das Augenmerk auf eine ganz besondere Himmelserscheinung gerichtet: Es ist die Rede von den Wolken.
Goethe als Wolkenforscher
In der Sophien-Ausgabe sind allein 1309 Treffer zu verzeichnen, wenn man „Wolken“ eingibt. Da geht die Rede von Silber-,Gold- und Schneewolken, Federwolken, Wolkenbergen und -felsen, Kranich- und Zauberwolken und von einer Wolkensammlerin (gemeint ist eine serbische Schicksalsgöttin).
Warum forschte Goethe auf diesem Gebiet? Da gibt es den Auftrag der Aufklärer, die Welt komplex zu erfassen und zu erforschen. Freilich bleibt immer ein Rest des Unbestimmbaren; ein Rest, der sich der Zuordnung in höhere Zusammenhänge verweigert. Wolken sind der Inbegriff dieses Konflikts: scharfe Konturen und schwebende Auflösung, Verwandeln von Form in Formlosigkeit. Wolken wecken das Gefühl von Erhabenheit, wie es dem jungen Goethe schon passierte. Später trat vermehrt Beobachterinteresse an diese Stelle. Es sind die zweite Schweizer Reise 1779/80, die italienische Reise 1786/88 sowie schwerpunktmäßig die Zeit nach 1815, nachdem Goethe die Wolkenlehre des Engländers Luke Howard zur Kenntnis genommen hatte.
„Die Wolken, eine dem Menschen von Jugend auf so merkwürdige Lufterscheinung, ist man in dem platten Lande doch nur als etwas Fremdes, Überirdisches anzusehen gewohnt. Man betrachtet sie nur als Gäste, als Streichvögel, die unter einem anderen Himmel geboren, von dieser oder jener Gegend bei uns augenblicklich vorbeigezogen kommen; als prächtige Teppiche, womit die
Götter ihre Herrlichkeit vor unseren Augen verschließen.“
Auf seiner italienischen Reise erlebte Goethe riesige Wolkenballungen. Er beschrieb sie in seinem Tagebuch in naturwissenschaftlicher Hinsicht: Gebirge versammeln ungeheure Wolkenmassen, bis sie durch inneren Kampf – Gewitter – als Regen niedergehen. Der „Rest“ entzieht sich der Schwerkraft der Erde, steigt am Gebirge empor, um sich schließlich aufzulösen. Somit betrachtet Goethe den Himmel als Konfliktzone und vertritt die Auffassung, die Erde besitze im belebten Ein- und Ausatmen die Möglichkeit, eine Anziehungskraft zu erzeugen. Auf diese Weise entwirft Goethe die Skizze einer ersten Witterungs- und Wolkenlehre. Später treten weitere Beobachtungen, auch mit Hilfe eines Barometers, hinzu.
Nach 1815 erweitert Goethe seine Studien. Ein Grund ist, dass Herzog Carl August eine Wetterstation bei Weimar plant, weitere kommen hinzu. Zum anderen macht der Herzog Goethe auf Howards Wolkenlehre aufmerksam. Der Engländer führte eine Wolkenordnung ein: Cirrus- oder Federwolken, Kumulus- (Haufen-) und Stratuswolken, letztere als Schichtwolken. Hinzu treten Nimbus, heute Nimbostratus, die Regenwolke sowie Mischformen. Allen Wolkenerscheinungen wird ein eigenes Gedicht gewidmet.
Der „Versuch einer Witterungslehre“ erscheint posthum, es ist sein Hauptwerk auf dem Gebiet der Meteorologie. Er beschreibt auch Winderzeugung und -fahnen, Wasserbildung, Elektrizität, Gebrauch von Barometer, Thermometer, Hygrometer.
Einen Monat vor seinem Tod veranlasste Goethe die Schließung aller Wetterstationen, mit Ausnahme Jenas. Er war zu der Ansicht gelangt, dass aus tropischen Ländern bessere Messergebnisse zu erwarten seien.
Fast alle Thesen Goethes haben ihre Gültigkeit verloren, beispielsweise die Auffassung von der pulsierenden Schwerkraft der Erde. Diese tellurische Annahme hat sich als Irrtum erwiesen, das Wetter bleibt von anderen Gestirnen unbeeinflusst. Die Howard’sche Einteilung gilt allerdings noch, wurde jedoch erweitert. Galten zu Howards Zeiten schließlich sieben Wolkentypen und zehn Mischformen, sind es heutigentags einige mehr: zwanzig Wolkengattungen, 14 -arten und neun Sonderformen.
Goethe als Wolkenpoet
Der Dichter verwandelt die Welt in ein Bild, das er durch die poetische Sprache erzeugt, wie es vor dem geistigen Auge erscheint. Somit erscheinen die Wolken metaphorisch für das Göttliche, die Liebe, die Inspiration, die Poesie und – die Sorge. Es entstehen Wolken als Sinnbilder.
Götter in Wolken erscheinen zu lassen hat eine lange Tradition, sie liegt beispielsweise im Babylonischen, Altindischen, Jüdischen, Muslimischen und Christlichen gegründet. Götter erscheinen ihr Wesen verschleiernd oder auch verkündend. Goethe bedient sich der Götter zum Beispiel in seiner Elegie „Euphrosyne“, im „Faust“-Drama und natürlich im Gedicht „Prometheus“: Zeus im Wolkendunst. Im West-Östlichen Diwan heißt es:
Die Sonne, Helios der Griechen,
Fährt prächtig auf der Himmelsbahn;
Gewiß, das Weltall zu besiegen,
Blickt er umher, hinab, hinan.
Er sieht die schönste Göttin weinen,
Die Wolkentochter, Himmelskind;
Ihr scheint er nur allein zu scheinen;
Für alle heitren Räume blind…
Euphrosyne
Segnend kränze das Haupt mir mit dem heiligen Mohn!
Aber was leuchtet mir dort vom Felsen glänzend herüber
Und erhellet den Duft schäumender Ströme so hold?
Strahlt die Sonne vielleicht durch heimliche Spalten und Klüfte.
Denn kein irdischer Glanz ist es, der wandelnde, dort.
Näher wälzt sich die Wolke, sie glüht. Ich staune dem Wunder!
In Howards Ehrengedächtnis heißt es:
Wenn Gottheit Camarupa, hoch und hehr,
Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer,
Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut,
Am Wechsel der Gestalten sich erfreut,
Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum,
Da staunen wir und traun dem Auge kaum;
Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft;
Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant,
Kameles Hals, zum Drachen umgewandt,
Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht,
Da es die Macht am steilen Felsen bricht;
Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt,
Eh er die Fern erreicht, wohin man liebt.
Ein poetisch schönes Bild gewährt uns auch
Mahomets Gesang
Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.
Jünglingsfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Beschrieben wird im Bild des Wassers der Lauf des Lebens. Es beginnt an der Quelle, jünglingsfrisch strebt es weiter, um schließlich nach dem Himmel, dem Göttlichen, zurückzukehren. Das Leben ist ein Tanz, alles ist in Bewegung, nur eines gibt es nicht: Stillstand.
Wolken gelten auch als Sinnbild der Liebe. Sie ist ein himmlisches Wunder, lässt uns auf den Wolken schweben. Im Mailied heißt es:
Oh Lieb, oh Liebe
So golden schön
Wie Morgenwolken
auf jenen Höhn!
Und im Gedicht An Lida:
Den einzigen, Lida, welchen du lieben kannst,
Forderst du ganz für dich und mit Recht.
Auch ist er einzig dein.
Denn, seit ich von dir bin,
Scheint mir des schnellsten Lebens
Lärmende Bewegung
Nur ein leichter Flor, durch den ich deine Gestalt
Immerfort wie in Wolken erblicke:
Sie leuchtet mir freundlich und treu,
Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern.
An Lili
Im holden Tal, auf schneebedeckten Höhen
War stets dein Bild mir nah:
Ich sahs um mich in lichten Wolken wehen,
Im Herzen war mir’s da.
Empfinde hier, wie mit allmächtgem Triebe
Ein Herz das andre zieht –
Und daß vergebens Liebe
Vor Liebe flieht.
Wolken dienen ebenso als Sinnnbild der Inspiration. Wolken verbinden in himmelgreifender Bewegung Künstler und Muse, sie inspirieren zum Gedankenaustausch. Ohne Wolke bliebe die Inspiration auf halbem Wege stehen und würde den Künstler nicht erreichen. Diese Begegnung findet auf der Wolke statt.
Die Wolke ist auch Sinnbild der Poesie, Dichten ist eine Himmelsgabe.
Bilde, Künstler, rede nicht
Nur ein Hauch sei dein Gedicht!
Die Wolke im Himmel wird zur Lust, sie ist eine Wolke zur Poesie.
Die Wolke symbolisiert aber auch die Sorge, Unruhe und Verstimmung. Sie lässt zugleich die Einsicht wachsen, dass die Sorge nicht gebannt werden kann, weil sie zum menschlichen Dasein gehört. Verschwindet eine, ist die nächste Sorge schon im Anmarsch. Aber im Bild der Wolke kann sie sich schon versöhnlicher zeigen.
Iphigenie auf Tauris
Verzeih! Wie leichte Wolken vor der Sonne,
So zieht mir vor der Seele leichte Sorge
Und Bangigkeit vorüber.
Somit stehen Wolken-Sinnbilder immer für Abstraktes, niemals für Gegenständliches ein. Alles wird ins poetische Bild gesetzt. Positiv agieren hierbei Liebe, Inspiration, Poesie, negativ sind die Werke der Sorge. Als Störenfried wird die Wolke freilich gelegentlich verjagt, dann rücken – im Spätwerk Goethes – Mond, Sonne und Sterne ins Zentrum, die weihevoll besungen werden.